Patrick Horvath
, Mat.Nr.9502353Studienkennzahl 301 / 312
Übung zur Lehrveranstaltung "Philosophische Grundlagen kommunikationswissenschaftlicher Theorienbildung"
Dr.Hartmann
Sommersemester 1999
Ästhetik, Technik, Medium
Über Walter Benjamin und seine Bedeutung für die Gegenwart
Fallende Bomben, explodierende Granaten, sterbende Menschen im Schützengraben. Giftgas, heulende Sirenen, über Leichen rollende Panzer. Ist dies der Ausdruck einer neuen Ästhetik? Wenn es nach der Logik der mit dem Faschismus liebäugelnden Futuristen geht, ja. "Der Krieg ist schön, weil er dank der Gasmaske, der schreckenerregenden Megaphone, der Flammenwerfer und der kleinen Tanks die Herrschaft des Menschen über die unterjochte Maschine begründet. (...) Der Krieg ist schön, weil er das Gewehrfeuer, die Kanonaden, die Feuerpausen, die Parfums und Verwesungsgerüche zu einer Symphonie vereinigt. (...)", so steht es in Marinettis Manifest zum äthiopischen Kolonialkrieg. Walter Benjamin sieht in solchen und ähnlichen Ausdrücken seiner Zeit die "Ästhetisierung des politischen Lebens" durch den Faschismus, die ihren höchsten Ausdruck in einem totalen Krieg findet, in den die gewaltige revolutionäre Dynamik der sich ausbildenden Massengesellschaft gelenkt wird. Abgelenkt wird, um im Inneren der Gesellschaft seine Wirkung nicht entfalten zu können, die Eigentumsverhältnisse unangetastet zu lassen. So verbindet sich die Krise der modernen Gesellschaft mit den Phantasien des gescheiterten Künstlers Hitlers; und in seinen und der Futuristen kranken Phantasien zeigt sich auch eines: die Krise aller traditionellen Kunst, die Krise aller herkömmlichen Formen der Ästhetik.
Diese Krise wurzelt nach Benjamin nicht zuletzt in den modernen technischen Umwälzungen. Die technische Reproduzierbarkeit der Kunstwerke schritt im Laufe der Geschichte voran, um in Lithographie, Fotographie und schließlich dem Film neue Dimensionen zu erreichen. Dimensionen, die von der herkömmlichen Kunsttheorie unberührt sind. Die technische Reproduktion vermag es, das Kunstwerk aus dem Zusammenhang des Hier und Jetzt zu reißen und seiner "Echtheit" zu berauben, also seiner spezifischen Einmaligkeit, die wiederum ein Produkt seiner Geschichte ist. Die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks "löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab" und "setzt an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises". Ermöglicht die Technik also Massenkunst in einer Massengesellschaft?
Kritik an der Massenkunst blieben in der damaligen Zeit nicht aus. Der von Benjamin kritisierte Duhamel etwa war ein Verächter des Films. Er nennt ihn "einen Zeitvertreib für Heloten, eine Zerstreuung für ungebildete, elende, abgearbeitete Kreaturen, die von ihren Sorgen verzehrt werden...ein Schauspiel, das keinerlei Konzentration verlangt, kein Denkvermögen veraussetzt...kein Licht in den Herzen entzündet und keinerlei Hoffnung weckt als die lächerliche, eines Tages in Los Angeles Star zu werden."
Und tatsächlich suchen die Massen im Film letztlich Zerstreuung, ganz anders wie einst, wo man in der Kunst Versenkung und Erhebung suchte und auch fand. Letztlich werden diese neuen Bedürfnisse der Apperzeption auch von der Kunst übernommen. Der Dadaismus etwa verwandelt nach Benjamin die Kunst bewußt in ein öffentliches Ärgernis und schafft mit Gedichten in der Form von "Wortsalaten" und obszönen Wendungen die alte Form von Kunstbetrachtung, die Versenkung, unmöglich. An die Stelle der Versenkung tritt die Ablenkung vom Alltagstrott.
Ist diese Massenkunst nun schlecht, erbärmlich, trivial, nichtssagend, unbedeutend, ein Ausdruck des Verfalls? Gemessen an den alten Maßstäben sicherlich. Wir dürfen aber nicht vergessen, daß die alten Maßstäbe immer mehr ihre Gültigkeit verlieren. Und daß ein Verfall des Alten auch Platz schafft für das Neue, wie so oft in der Geschichte. Außerdem ist Veränderung aller Art - auch in der Kunstwahrnehmung - nur natürlich. "Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume", schreibt Benjamin, "verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektion auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung". Neue Zugänge zur Kunst und "neue Aufgaben der Apperzeption", wie sie sich gegenwärtig vorbereiten, sind legitim; und neue Entwicklungen schaffen sich oftmals zuerst in verrufenen Formen Ausdruck.
Benjamins Absicht ist es letztlich, Verständnis zu vermitteln in und aneinem Zeitalter der Krise, in der einstmals Selbstverständliches seine Selbstverständlichkeit verliert und es zu einer Neuorientierung in vielen Bereichen, auch dem der Ästhetik kommt. Es wäre eine Illusion zu glauben, diese Neuorientierung sei in der heutigen Zeit abgeschlossen. Die Fragen der Kunsttheorie der 30er Jahre haben noch immer Bedeutung und Aktualität.
Das sieht man auch an einem besonders beeindruckenden, weil prophetischen Beispiel. Aus dem Aufsatz "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" von 1936 möchte ich seine Ansicht zum Verhältnis von Lesenden und Schreibenden anführen, in der er Entwicklungen im Keim vorausgesehen hat, die heute mit der Verbreitung des Internet und anderer multimedialer Formen ihren vorläufigen Höhepunkt finden. Einst, schreibt Benjamin, stand einer "geringen Zahl von Schreibenden eine vieltausendfache Zahl von Lesenden" gegenüber. Mit dem Auftauchen der Presse aber wurde dies anders. Die Zeitungen veröffentlichten Leserbriefe und gaben dem kleinen Mann von der Straße die Möglichkeit, seine Wünsche, Vorstellungen, Ängste zum Ausdruck zu bringen. Mit der Zeit entwickelte sich für jeden im Arbeitsprozeß stehenden Europäer die Möglichkeit, sich irgendwo öffentlich zu artikulieren und sei es nur dann und wann. "Damit ist die Unterscheidung zwischen Autor und Publikum im Begriff, ihren grundsätzlichen Charakter zu verlieren. Sie ist eine funktionelle, von Fall zu Fall so oder anders verlaufende. Der Lesende ist jederzeit bereit, ein Schreibender zu werden."
Bis heute hat sich diese Entwicklung fortgesetzt; mit dem Internet steht jedem Menschen ein Medium zur Verfügung, in dem er seine Informationen, seine subjektive Weltsicht, seine Erfahrungen etc. präsentieren kann; und gleichzeitig "surft" er durch dieses gewaltige Gewirr kunterbunter Information, das andere dort ausstellen. Eigentlich ist dies eine auf Gleichheit und Verschmelzung zwischen Sender und Empfänger beruhende, aller Einseitigkeit des Informationsflusses mangelnde, und vor allem nicht-autoritäre Form der Kommunikation, die eben deshalb von Konservativen natürlich lautstark als Verfall, blöder Zeitvertreib und "Informationsflut" diffamiert wird. Doch im Internet, diesem weltweiten Sammelbecken der klügsten und absurdesten Weltanschauungen, haben solche antiquierten Kommunikationsmodelle kaum mehr Geltung, wohl aber die Prophezeiungen eines 1892 geborenen Philosophen, der zu beschreiben versuchte, wie neuartige Technik neuartige Medien und diese wieder neuartige Formen der Ästhetik hervorbringen können.
Patrick Horvath: "Über Philosophie und Politik"
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