Werner Horvath: "Garten des Unbewussten - Selbstporträt mit Sigmund Freud", Gemälde im Stil des neuen bildenden Konstruktivismus
Bei dem vorliegenden Einakter handelt es sich zum Teil um eine Textkollage. Dazu verwendete Ausschnitte aus anderen Werken sind durch eine vorangestellte Zahl erkennbar, welche in der Bibliographie auch die jeweilige Quelle angibt
Personen der Handlung:
Eins
Kunstkritiker
Krankenschwester
Arzt
Stimme aus dem Lautsprecher
einige Reisende
Prolog
Der
Gang eines Krankenhauses.
Aus
der Tür eines
Zimmers treten ein Arzt und eine
Krankenschwester.
Schwester:
(1) Er
wird erschreckend. Er droht, sich
erneut zu bewegen! Man hält es nicht mehr aus, ihn zu sehen!
Er ist der majestätische,
unbegrabene Kadaver, der einen alle Augenblicke mit seiner zäh
geschwollenen
Erscheinung bedroht, die schlimmer ist als alles, was man sich
vorstellen kann.
In
diesem Moment kommt der
Kunstkritiker und will in das
Zimmer. Er trägt einen Blumenstrauß und eine volle
Einkaufstüte in Händen.
Kunstkritiker
(hält
inne): Ich wünsche einen
wunderschönen Morgen! Gut, dass ich Sie treffe.
Entschuldigung, (weist auf
die Türe) ich wollte mich nämlich
über sein Befinden erkundigen. Ist die
Operation gut gelaufen? Geht es ihm schon besser?
Schwester:
Wen
meinen Sie? Herrn Eins?
Kunstkritiker:
Genau
den. Den Künstler. Den Maler.
Meinen Schützling. Sie müssen wissen, ich bin
Kunstkritiker.
Arzt:
Aha.
Kunstkritiker:
Also,
wie geht es ihm? Wann wird er
wieder malen können?
Schwester:
Man
wird sehen.
Kunstkritiker: Also gut gelaufen.
(Betretenes
Schweigen,
Kunstkritiker stutzt.)
Oder etwa nicht??
...
Ist
etwas passiert?
Schwester: So kann man es nicht sagen...
Höchstens:
Die Operation hat
nicht den gewünschten Erfolg
gebracht.
Kunstkritiker: Wie – nicht den gewünschten Erfolg? – Was soll das heißen?
(Wieder
Schweigen)
Bitte
reden Sie! – Was ist
passiert?
Arzt: Nun ja...
(Erneut
Schweigen)
Also...
Schwester:
Er ist
jetzt ganz blind.
Der
Vorhang fällt.
1.
und einziger Aufzug
In
einem Wartesaal.
An
der Wand hängen
das Ortsschild „Spital“ und
verschiedene Tafeln mit Aufschriften („Rauchen
verboten“, „Aufenthalt nur
mit gültigem Fahrausweis gestattet“ etc.).
Einige
Reisende sitzen
herum, lesen Zeitung oder essen
mitgebrachte Brote.
In
der Mitte des Raumes
steht ein typisches Spitalsbett
mit Zubehör (Klingel, Nachtkästchen...), in welchem
Eins halb aufrecht sitzt,
die Augen mit einem Verband umhüllt. Der Kunstkritiker tritt
ein und bleibt
unschlüssig unter der Tür stehen.
Eins: (1) An Morgen wie diesem müssen die Griechen und die Phönizier in den Buchten von Rosas und Ampurias gelandet sein, um das Bett der Zivilisation zu richten und die sauberen, weißen und theatralischen Laken meiner Geburt vorzubereiten, mitten auf dieser Ebene,...
...
(1) der konkretesten und objektivsten Landschaft der Welt.
(Kunstkritiker
räuspert sich.)
(1)Lasst
alle Glocken
läuten! Lasst den schuftenden
unbekannten Bauern für einen Moment seinen krummen,
ankylotischen Rücken
aufrichten, der wie der Stamm eines von der Tramontana verbogenen
Olivenbaumes
auf den Boden gebeugt ist, und lasst seine von tiefen und
erdgefüllten Runzeln
durchfurchte Wange einen nachdenklichen Augenblick lang in nobler
Haltung in der
schwieligen Hand ruhen.
Kunstkritiker:
Ist
das wirklich angebracht?
Eins (nach kurzer Pause): Sie wissen es also schon.
...
Man hat es Ihnen schon gesagt.
(Der
Kunstkritiker steht wie
erstarrt.)
Kommen Sie doch näher, setzen Sie sich zu mir.
...
Den
Wein können Sie auf das
Kästchen stellen.
Kunstkritiker:
Woher
wissen Sie, dass ich Wein
mitgebracht habe?
Eins:
Haben Sie
jemals etwas anderes mitgebracht?
Kunstkritiker (kramt in seiner Plastiktüte, holt verschiedene Gegenstände heraus -Toilettenpapier, Wäscheklammern, eine Sonnenbrille, einen Hammer, eine Kartusche Silikon – und findet schließlich am Tütengrund eine Flasche Wein, die er auf das Kästchen stellt. Die Blumen pfercht er in die Tüte.): Aber diesmal ist es ein besonders guter Wein.
(Er
holt einen Stuhl und
setzt sich neben das Bett.)
Wie
fühlen Sie
sich?
Eins:
(2) Ich
fühle eine Kraft in mir, die ich
entwickeln muss, ein Feuer, das ich nicht auslöschen darf,
sondern schüren
muss, obwohl ich nicht weiß, zu welchem Ende es mich
führen wird, und ich mich
über ein düsteres nicht wundern
würde.
Kunstkritiker:
Meinen
Sie das im Ernst, das mit der
Kraft? – Ohne Ihnen nahetreten zu wollen – machen
Sie sich da nichts vor?
Hat Sie die Krankheit nicht besiegt?
Eins: (2) Unter manchen Umständen ist es besser, der Besiegte als der Sieger zu sein.
...
Aber im Ernst:
(2)
Den Weg, auf dem ich mich
befinde, muss ich
weitergehen, denn wenn ich nichts tue, wenn ich nicht studiere, wenn
ich nicht
mehr suche, dann bin ich verloren, dann wehe mir.
Kunstkritiker:
Und
wenn es der falsche Weg wäre?
Eins:
(2) Das
gerade ist das Kennzeichen des Künstlerlebens,
dass man, selbst wenn man nicht auf dem richtigen Weg ist, sich doch
beinahe so
glücklich fühlt, als ob man auf dem richtigen Weg zum
Ideal hin wäre!
Kunstkritiker: Ich fürchte nur:
(3)
Wir sind nicht auf dem falschen
Weg, sondern auf gar
keinem.
Eins: Das ist mir egal.
(2)
Wenn ich an alle schlimmen
Möglichkeiten dächte und
ihnen nachhinge, könnte ich gar nichts machen; aber ich
stürze mich, Kopf
voran, in die volle Arbeit und hole mir meine Studien heraus.
Wenn’s drinnen
allzu stürmisch ist, dann trinke ich ein Glas mehr, um mich zu
betäuben. So
ist man zwar nur ein Zerrbild gegenüber dem, was man sein
sollte. Aber vorher
habe ich mich weniger als Maler gefühlt.
Kunstkritiker:
Die
Malerei bedeutet noch immer etwas
für Sie? Selbst jetzt, wo Sie nichts mehr sehen?
Eins: Sie werden sehen:
(2) Die Malerei wird für mich zu einer Zerstreuung, wie die Hasenjagd für die Schwachköpfe, die jagen gehen, um sich zu zerstreuen.
...
(2) Darum wage ich, Dir beinahe zu versichern: Meine Malerei wird besser! – Denn ich habe ja nichts außer ihr.
...
(2)
So sehe ich die Sache –
weitermachen, weitermachen,
das ist es, was Not tut.
Kunstkritiker:
(2)
Aber was ist dein endgültiges
Ziel?
Eins: (2) Dieses Ziel wird bestimmter werden, wird langsam und sicher schärfere Umrisse annehmen, so wie die Zeichnung zur Skizze wird und die Skizze zum Bild, in dem Maße, wie man ernster arbeitet, wie man die anfangs unbestimmte Idee, den ersten flüchtigen und vorübergehenden Gedanken mehr und länger erforscht, bis sie sich festigen...
...
Oder
was würden Sie mir
raten?
Kunstkritiker:
Würden
Sie denn auf meine Ratschläge
hören?
Eins:
(2) Das
manchen Ratschlägen schnurstracks
Entgegengesetzte zu erproben ist ja oft etwas Praktisches, wobei man
sich ganz
wohl befindet. Darum ist es in vielen Fällen so
nützlich, um Rat zu fragen.
Gleichwohl gibt es...
Stimme
aus dem Lautsprecher
(unterbricht ihn): Achtung,
ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit für eine wichtige Durchsage.
Bitte achten Sie
auf Ihr Gepäck und lassen Sie es nicht unbeaufsichtigt.
Herrenlose Absichten
und Ideen werden von unserem Sicherheitspersonal entfernt. Ich
wiederhole:
Unbeaufsichtigtes Gepäck wird von unserem Personal entfernt.
Dies geschieht zu
Ihrer eigenen Sicherheit. – Ich danke für Ihre
Aufmerksamkeit und Ihr Verständnis.
Kunstkritiker:
Ich
mache mir dennoch Sorgen um Sie.
Wie können Sie von Zukunft reden? Sollten Sie nicht erst
einmal Ihre Situation
verarbeiten?
Eins: (4) Nach rückwärts
Sehen das alle Geistigen,
nach vorwärts
- in die Zukunft –
nur die Schöpferischen
...
Aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.
(1)
Weder reise ich morgen nach
China, noch werde ich demnächst
geschieden; noch denke ich an Selbstmord oder daran, an der warmen
Plazenta
eines seidenen Fallschirms von einer Klippe zu springen, um eine
Wiedergeburt zu
versuchen; ich verspüre nicht den Wunsch, mich mit irgend
jemandem um
irgendetwas zu duellieren...
Kunstkritiker:
Dann
bin ich ja beruhigt.
Eins: Das können Sie auch sein. Denn:
(2)
Je mehr ich aus dem Leim gehe,
kränker, brüchiger
werde, um so mehr werde ich Künstler, ein Schöpfer in
dieser großen
Wiedergeburt der Kunst, von der wir sprechen.
Kunstkritiker: Dass Sie Künstler sind, haben Sie bereits hundertfach bewiesen. Alle Ihre Werke, Ihre Ausstellungen, all das was über Sie geschrieben wurde...
Sie
brauchen nichts mehr zu beweisen.
Sie brauchen sich nur
zurückzulehnen und die Früchte Ihrer Arbeit zu
genießen.
Eins: Wissen Sie, wenn man in einer Lage wie meiner ist,
(2) beginnt man vielmehr besser zu verstehen, dass das Leben nur eine Art Düngezeit ist, die Ernte findet hier nicht statt.
...
Und bedenken Sie auch:
(2) Was bin ich in den Augen der meisten? Eine Null oder ein Sonderling oder ein unangenehmer Mensch, jemand, der in der menschlichen Gesellschaft keine Stellung hat oder haben wird...
Gut – nehmen wir an, das alles wäre auch so, dann möchte ich durch meine Arbeit einmal zeigen, was im Herzen eines solchen Sonderlings, eines solchen Niemands steckt.
Dies
ist mein Ehrgeiz, der weniger
auf Groll als auf Liebe,
trotz allem, gegründet ist, mehr auf ein Gefühl der
Heiterkeit als auf
Leidenschaft.
Kunstkritiker:
(2)
Mancher hat ein großes Feuer in
seiner Seele, und nie kommt jemand, sich daran zu wärmen, und
die Vorübergehenden
gewahren nur ein klein wenig Rauch oben über dem Schornstein
und gehen weiter
ihres Weges.
Eins: Da haben Sie allerdings recht. Und in letzter Zeit lief es bei mir auch nicht so gut.
...
(1)
Der Verkauf meiner Bilder
scheiterte immer häufiger an
der Solidarität der modernen Kunstszene.
Kunstkritiker: Das mag sein. Andererseits...
(2)
Der Kunsthandel bringt gewisse
Vorteile mit sich –
bestimmte Ansichten, wie etwa, dass das Malen eine Begabung
sei.
Eins:
(2) Die
Wetterfahnen machen den Wind nicht östlich
oder nördlich, ebenso wenig braucht die Wahrheit Ansichten,
welche auch immer,
um wahr zu sein.
Kunstkritiker: Sie meinen also, dass die Kunst keiner Vermittler, keiner Erläuterer bedarf? –
Da
muss ich Ihnen aber ernsthaft
widersprechen! Wie sollte
jemand sonst erkennen, ob etwas Kunst ist oder nicht?
Eins:
(3) Es gibt
weder Erkenntnis noch Gewissheit.
Es gibt nichts Ganzes, und was ich denke, denke ich allein, und was mir
allein
einfällt, ist nicht Wahrheit, sondern Meinung, und es wirkt
keine Weltvernunft,
und das gemeinsame Menschheitsziel geht mehr denn je um als
Gespenst.
Kunstkritiker:
(5)
Die überhebliche Einstellung,
dass Kunst sich selbst erkläre und keiner Information
bedürfe, zeigt die
Unsicherheit der Kulturschaffenden, die sich aus Angst vor einem
Konkurrenzkampf
selbst über das Publikum erheben. Kultur braucht den Zugang
zum Markt. Diesen
zu fördern kann auch Aufgabe des Staates sein.
Eins: (5) Fast alles wird heute mit Steuergeld gefördert: Aktionskünstler, Blaskapellen, malende und nicht malende Maler, Bergsteiger, schreibende und nicht schreibende Dichter, Jassir Arafat, Zeitungen – endlos könnte diese Liste werden.
...
Und für viele gilt:
(5) Sie treten mit dem Anspruch an, die geistige Elite zu repräsentieren, und verkommen in einer Abhängigkeit, die es nie zuvor in der Geschichte der Intellektuellen und Künstler gegeben hat.
...
(5) Die Nähe zur Macht und damit zum Geldtopf wurde zum Inbegriff des Erfolges und des gesellschaftlichen Aufstieges.
...
Soviel zu Ihrer Idee der Förderung der Kunst durch den Staat. Ich kann dem gar nichts abgewinnen. – Natürlich...
(2)
Die Geldfrage, was man auch tun
mag, bleibt immer wie
ein Feind vor einem stehen, und sie zu leugnen oder sie zu vergessen
ist unmöglich.
Kunstkritiker: Na gut, dann lassen wir das mit staatlichen Förderungen. Sie haben es ja nie verstanden, eine solche zu erhalten, darum sind Sie so strikt dagegen. Denn-
(5) Wer selbst gefördert wird, regt sich über die Förderung anderer nicht auf.
...
Aber etwas anderes ist sicher, da kommen Sie nicht darüber hinweg und Sie haben es ja schon angeschnitten:
(5)
Das Kunstwerk erreicht erst
über den Vermarkter seinen
Wert.
Eins: Jaja, der Markt...
(2) Der geringe Preis ist für manchen Maler etwas Unerträgliches, oder zum mindesten fast Unerträgliches – man will ehrlich sein, man ist es – man arbeitet genauso schwer wie ein Lastträger – trotzdem kommt man zu kurz.
(2) Doch wenn mich das manchmal über die Maßen niederdrückt, allzu tief, dann steigt auch zugleich nach langer Dauer der Gedanke in mir auf, vielleicht ist das alles nur ein langer schrecklicher Traum, und wir werden später möglicherweise besser einsehen und begreifen lernen. Aber ist es nicht vielmehr die Wirklichkeit, und es wird am Ende gar nicht besser, sondern noch ärger werden?
...
(2) Nicht dass ich alles Gegenwärtige missbillige, das sei mir fern, aber es ist mir doch, als ginge etwas aus der früheren Zeit, das gut war und das hätte bleiben müssen, dahin – speziell in der Kunst.
...
Und zum Markt, zur Vermarktung, oder zur Wertschaffung wie Sie es nennen:
(2) Im allgemeinen herrscht, trotz aller Regsamkeit, eine Art Skeptizismus, Gleichgültigkeit und Kälte.
(5) Sie machen es sich leicht, die Damen und Herren des Kulturbetriebes.
...
Wir
sollten übrigens auch
eine Art von Gleichgültigkeit
beibehalten.
Kunstkritiker:
Und
die wäre?
Eins: (2) Wir wollen uns die Gleichgültigkeit gegenüber Erfolg und Misserfolg in jedem Fall bewahren.
...
(2)
Ich bestehe weder auf meinen
Erfolg noch auf Glück.
Kunstkritiker: Im Grunde haben Sie ja irgendwie recht mit ihrer Skepsis dem Kulturbetrieb gegenüber. Ich meine – irgendwie...
(6)
In der Kunst muss man sich zu
Hause fühlen, geborgen
wie in der Heimat. Die Kunst muss schön und wahr und gut
sein.
Eins:
Was ist das
denn jetzt für eine Diktion! Habe
ich die nicht schon mal gehört?
Kunstkritiker: Ich wollte sagen:
(2)
Was für eine hohe Kunst
ist das, wenn die Kunst
einfach wahr ist!
Eins: Ich kann Ihnen nicht folgen. Kunst ist doch Illusion, reine Illusion! Gewiss...
(4)
Früher schilderte man
Dinge, die auf der Erde zu sehen
waren, die man gern sah oder gern gesehen hätte. Jetzt wird
die Relativität
der sichtbaren Dinge offenbar gemacht und dabei dem Glauben Ausdruck
verliehen,
dass das Sichtbare im Verhältnis zum Weltganzen nur isoliertes
Beispiel ist und
dass andere Wahrheiten latent in der Überzahl sind. Die Dinge
erscheinen in
erweitertem und vermannigfachtem Sinn, der rationellen Erfahrung von
gestern oft
scheinbar widersprechend. Eine Verwesentlichung des Zufälligen
wird angestrebt.
Kunstkritiker: Aber...
(6)
Ein Bild muss so etwas sein wie
eine Kathedrale, wie
eine Kapelle, in die man hineingeht, wo man Trost und Zuspruch, aber
auch einen
Ausweg findet.
Eins:
(2) Ich
male lieber die Augen von Menschen als
Kathedralen, denn in den Augen wohnt etwas, was den Kathedralen, auch
wenn diese
ehrwürdig und imponierend sind, fehlt; die Seele eines
Menschen.
Kunstkritiker:
Ich
dachte, die Kunst sei Illusion
– haben Sie zumindest eben erst erklärt. Was soll
die Seele des Menschen hier
– oder ist die auch Illusion?
Eins: Natürlich. Nur Illusion. Und wir projizieren sie auch noch in die Augen unseres Gegenübers. Dann komme auch noch ich. Der Maler. Und ich schaffe zu allem Überfluss noch eine weitere Illusion, die Illusion der Illusion.
(1)
Ich fabriziere „falsche
Erinnerungen“. Der
Unterschied zwischen falschen und wahren Erinnerungen ist derselbe wie
bei
Juwelen: Es sind immer die falschen, die am echtesten, am brillantesten
wirken.
Kunstkritiker:
Alles
Illusion also. Und wo bleibt
die Realität?
Eins: Ja, wo? Nun...
(1)Blickt
man jedoch aus einer
gewissen Entfernung und mit
zugekniffenen Augen auf sie, ereignet sich plötzlich jenes
unglaubliche Wunder
der Vision, wodurch dieses farbige Potpourri sich organisiert, in reine
Realität
verwandelt. Luft, Entfernungen, momentane Beleuchtung, die ganze Welt
der
Erinnerungen entsteht aus dem Chaos!
Kunstkritiker:
Das
ist aber wohl nur als optische
Komponente aufzufassen. Sollte da nicht mehr sein?
Eins: (4) Die Einbeziehung der gut-bösen Begriffe schafft eine sittliche Sphäre. Das Böse soll nicht triumphierender oder beschämender Feind sein, sondern am Ganzen mitschaffende Kraft. Mitfaktor der Zeugung und der Entwicklung. Eine Gleichzeitigkeit von Urmännlich und Urweiblich als Zustand ethischer Stabilität.
...
Sie müssen wissen:
(6)
Im Paradies gibt es Licht und
Schatten, Böses und
Gutes, Arm und Reich, Schöpfertum und Imitation, Leid und
Freude, Schönes und
Hässliches. Wäre im Paradies nur von einer Sorte
vorhanden, so wäre es ärger
als die Hölle.
Kunstkritiker: Wenn Sie sich da nur nicht zu viel zumuten! Übernehmen Sie sich ja nicht!
Ironisch) (4) Welch ein beträchtliches Schicksal, Waage zu sein zwischen hüben und drüben, Waage auf der Grenze des Gestrig-heutigen.
...
(Wieder
ernst) Wollten
Sie eigentlich schon immer
Maler werden?
Eins: Nein.
(1)
Im Alter von sechs Jahren wollte
ich Koch werden. Mit
sieben wollte ich Napoleon sein. Und meine Ehrgeiz ist seither stetig
gewachsen.
Kunstkritiker:
Interessant. Und wie ging es Ihnen
mit dieser Einstellung in der Schule?
Eins: (1) Ich verbrachte mein erstes Schuljahr zusammen mit den ärmsten Kindern der Stadt, was sehr wichtig wahr, glaube ich, für die Entwicklung meines natürlichen Hanges zum Größenwahn.
...
(1)
Das weite
Deckengewölbe...
Stimme
aus dem Lautsprecher
(unterbricht ihn): Achtung
für eine wichtige Durchsage. Meine Damen und Herren, falls Sie
aufbrechen möchten:
Ein Zug mit unbekanntem Ziel wird in wenigen Minuten den Bahnhof
verlassen.
Bitte jetzt zusteigen und die Fahrausweise bereit halten. Der Zug
fährt bis zum
Endbahnhof durch. Ende der Durchsage.
Eins:
(1) Das
weite Deckengewölbe, das die vier
schmutzigen Wände des Klassenzimmers überspannte, war
von großen braunen
Feuchtigkeitsflecken entstellt, deren unregelmäßige
Konturen für mich eine
Zeitlang den einzigen Trost bildeten. Im Verlauf meiner endlosen,
anstrengenden
Träumereien folgten meine Augen unermüdlich den vagen
Umrisslinien der
schimmligen Silhouetten, und aus dem Chaos, das so formlos wie Wolken
war, sah
ich nach und nach greifbare Bilder aufsteigen, die allmählich
eine zunehmend
deutliche, detaillierte und realistische Individualität
entwickelten.
Kunstkritiker:
Wurden
Sie so zum Maler?
Eins:
(2) Maler
wird man durch das Malen. Will man
Maler werden, hat man Lust dazu – dann kann man
es...
Kunstkritiker:
Da
habe ich aber durchaus andere
Erfahrungen! Wie oft habe ich einen sogenannten Künstler
unschlüssig und
hilflos vor einer leeren Leinwand stehen sehen!
Eins: (2) Schmiere nur mal etwas drauf, wenn Du eine weiße Leinwand Dich gewissermaßen blödsinnig anstarren siehst.
Du weißt nicht, wie lähmend das ist, das Angestarrtwerden von einer weißen Leinwand, die zum Maler sagt: „Du kannst nichts.“ Die Leinwand hat ein idiotisches Starren und hypnotisiert manche Maler so, dass sie selbst idiotisch werden.
Viele
Maler fürchten sich
vor einer weißen Leinwand, aber
die weiße Leinwand fürchtet sich auch vor dem
wahren, leidenschaftlichen
Maler, der wagt und der einmal die Hypnose dieses „Du kannst
nichts“
durchbrochen hat.
Kunstkritiker:
Also
so wird man zum Maler: einfach
nur mal etwas auf die Leinwand schmieren. Aber woher nimmt man seine
Motive? Aus
des lieben Gottes schöner weiter Welt?
Eins: (2) Ich glaube mehr und mehr, dass man den lieben Gott nicht nach dieser Welt beurteilen darf, denn das ist eine seiner misslungenen Arbeiten.
...
Nein,
nein, da bedarf es anderer
Techniken.
Kunstkritiker:
Und
die wären? Oder besser gefragt,
was waren die Ihren?
Eins:
(1) Abends
führte ich lange und erschöpfende
imaginäre Gespräche mit Freud; einmal kam er sogar
mit mir auf mein Zimmer im
Hotel Sacher und blieb, an die Vorhänge geklammert, die ganze
Nacht da.
Kunstkritiker:
Und
was haben Sie in diesen Gesprächen
herausgefunden?
Eins:
(1) In
diesem Augenblick habe ich das
morphologische Geheimnis Freuds entdeckt! Freuds Schädel ist
eine Schnecke!
Sein Gehirn hat die Form einer Spirale – mit einer Nadel
herauszuziehen! Diese
Entdeckung beeinflusste nachdrücklich das Porträt,
das ich später von ihm
zeichnete.
Kunstkritiker:
Gratuliere!
Sie haben also ein
Problem der Form betreffend den Kopf Sigmund Freuds gelöst
– ein
morphologisches Problem.
Eins: Morphologie – ich habe es gewusst, ich habe gewusst, dass Sie dieses Wort verwenden werden !
(1) Ehre sei Goethe, dass er dieses Wort von so unermesslicher Tragweite erfand, ein Wort, das Leonardo gefallen hätte!
...
Sagen wir lieber Form.
(1) Wir wissen heute, dass Form immer das Produkt eines inquisitorischen Prozesses der Materie ist – die spezifische Reaktion von Materie, die dem schrecklichen Zwang des Raumes unterworfen wird, der sie von allen Seiten würgt, presst und ausquetscht und die Beulen hervortreibt, die sich aus ihrem Leben bis exakt zu den Grenzen der strengen Konturen ihrer Reaktionseigenart entladen.
...
Übrigens:
(1)
Vom ästhetischen
Standpunkt betrachtet, ist Freiheit
Formlosigkeit!
Kunstkritiker: Aber mit Form alleine ist es noch nicht getan, wenn man malen will. Man braucht, sagt man, eventuell auch noch so etwas wie Farbe.
(7) Die Malerei ist eine Sache der Farbe, die Glut der Farbe bei den alten Meistern, vor allem bei El Greco und Rembrandt, sowie die hellen, sonnenstrahlenden Farben der Impressionisten... Und:
(2)
Die Gesetze der Farbe sind
unaussprechlich großartig,
gerade weil es keine Zufälligkeiten sind.
Eins: Das mit der Farbe ist eigentlich ganz leicht.
(4)
Jede Farbe beginnt aus ihrem
Nichts, das ist der
Nachbargipfel, erst ganz leise und steigert sich zu ihrem Gipfel, um
von da an
wieder langsam in ihr Nichts zu verklingen, das ist der andere
Nachbargipfel.
Kunstkritiker: Welch großartige Erkenntnis! Und so nützlich – vor allem zum Malen von Regenbogen. Und zum Malen von Regenbogen.
Nein,
im Ernst. Farbe besitzt doch
neben der physikalischen
Qualität auch eine Wertung. Sie haben zum Beispiel immer das
Blau und Grün des
Meeres geliebt, erinnern Sie sich noch?
Eins: (4) Die Wertung der Farbe ist keine feststehende, sondern rein imaginär. Ist es zu heiß, sehnt man sich nach grün-blau, ist es zu kalt, sehnt man sich nach gelb-rot. Die Nachfrage kann wechseln, der Geschmack kann wechseln.
...
Wie soll man Farbe objektiv bewerten? Bedenken Sie:
(7)
Die Farbe der Aggression, des
Todes, des Exzesses ist
gleichzeitig auch die Farbe intensivsten Lebens.
Kunstkritiker (begeistert): Genau!
(7)
Die Erscheinungen des Lichtes,
die mannigfaltigen
Erscheinungen des farbigen Lichtes, die Farben der Auferstehung sind
wichtig für
mich geworden!
Eins:
Welches
Licht? – Ich sehe keines.
Kunstkritiker
(nach eine
Pause): Ja.
Keiner
spricht ein Wort.
Einige der Reisenden stehen auf
und verlassen den Wartesaal.
Eins
hat sich
zurückgelehnt und scheint zu schlafen.
Nach
längerer Zeit
ertönt ein Knacken aus dem
Lautsprecher.
Stimme
aus dem Lautsprecher:
(6) Die Zeit ist
gekommen. Die Zeit der Beaufsichtigung ist vorbei. Die Zeit des Wartens
auf das
Paradies ist vorbei. Die Zeit des unfruchtbaren Redens ist
vorbei.
Der
Vorhang fällt.
Nachspiel
Wieder
am Gang des Krankenhauses.
Vor der Zimmertüre räumt
die Krankenschwester Schmutzwäsche und die leere Weinflasche
auf ihren
Stationswagen. Der Kunstkritiker kommt, eine neue Flasche in der Hand.
Kunstkritiker: Ah, ausgetrunken! Ich bringe Nachschub, einen noch besseren.
(Er liest von einem Zettel vor.) (8) Sattes, dichtes Purpur-Rubin. Geballtes tiefgründiges Bouquet, viel Lakritze, Korinthen, Dörrbananen, Tabak- und Schwarzteearomen, sehr vielschichtiges Nasenspiel, einen Hauch von frischen Kräutern und Minze in sich tragend. Weicher, anmutiger Gaumen, viel Souplesse im konzentrierten Extrakt, rote und schwarze Beeren, Cassis, Kandisnoten, im Nachklang kommen Tannine zum Vorschein, eindrückliches Potenzial.
Der
wird ihm schmecken!
Krankenschwester:
Er ist nicht mehr da.
Kunstkritiker
(verblüfft): Wieso ist er nicht mehr
da?
Krankenschwester: Herr Eins ist verstorben. Oder – abgereist.
Oder
entsprungen. Genau
weiß man das nicht.
Kunstkritiker:
Was
heißt entsprungen? – Sind wir
hier in einem Gefängnis? Oder in einem Irrenhaus?
Krankenschwester:
Ja.
Kunstkritiker:
Na,
was nun? Gefängnis? Irrenhaus?
Krankenschwester: Die ganze Welt ist ein Gefängnis.
Die ganze Welt ist ein Irrenhaus.
Bevölkert von Gruppen in kollektivem Wahn.
Da sind die Christen, die Industriellen, die Nazis, die Goldhaubenträgerinnen, die Konsumenten, die Fresser, die Parteimitglieder, die Feministen, die Arbeiter, die Manager, die Kommunisten, die Globalisierer, die Querulanten, die Vegetarier, die Verweigerer...
Die
Frage ist immer nur, wer zu einer
bestimmten Zeit die
Oberhand behält.
Kunstkritiker: So scheint es.
...
Ich hoffe er ist abgereist oder entsprungen.
...
Vor allem entsprungen. – Wieder entsprungen.
...
Er wird immer wieder entspringen.
Immer
wieder entspringen. Wie im
Frühling immer wieder
alles entspringt. Wann wird man endlich erkennen, dass Entspringen
Wiederkehr
ist? Dass wir nur überleben, wenn wir immer wieder
entspringen?
Der
Vorhang fällt.
Bibliographie
(1) Salvador Dali: Das geheime Leben des Salvador Dali. Schirmer/Mosel, München, Paris, London, 1990.
(2) Vincent van Gogh – Feuer der Seele. Insel Taschenbuch1265, Insel Verlag, Frankfurt/Main, 1990.
(3) Peter Handke: Über die Dörfer. Suhrkamp Taschenbuch 1072, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, 1981.
(4) Paul Klee: Kunst-Lehre. Reclam Verlag Leipzig 1987.
(5)
Jörg
Haider: Befreite Zukunft jenseits von links und rechts. Politica
Edition, Ibera & Molden, Wien 1997.
(6) Hundertwasser: Das Paradies liegt um die Ecke. Pattloch Verlag, München, 2002.
(7) Hermann Nitsch. Das Orgien Mysterien Theater. Museum Moderner Kunst, Stiftung Wörlen, Passau, 1996.
(8) Beschreibung des Weines 2000 Aalto, Bodegas Aalto, Ribera del Duero. Weinwisser Nr. 11, 2003.
© dieser Textkollage: 2004 Werner Horvath, Linz.