Werner Horvath: "Friedrich Nietzsche - Von den drei Verwandlungen des Geistes", Öl auf Leinwand, 2005.
Seminararbeit aus Ethik: "Moralkritik bei Nietzsche"
Wintersemester 1996/97
Universität Wien
Lehrveranstaltungsleiter: Univ.-Prof.Dr.Kampits
2. Nietzsches hauptsächliche Argumente zur Moralkritik in der Morgenröte
1. Drei Schlüssel zum Verständnis des Werkes
Ursprünglich sollte die erstmals 1881 veröffentlichte Morgenröte einen anderen Titel tragen: Die Pflugschar wollte Nietzsche sein Buch nennen. Erst auf die Anregung von Peter Gast hin, der vorschlug, dem Buche ein Zitat aus der indischen Rigveda voranzustellen ("Es gibt so viele Morgenröten, die noch nicht geleuchtet haben"), entschloß sich Nietzsche, in den Titel das Wort "Morgenröte" zu übernehmen - die Intention des Werkes blieb natürlich dieselbe.
Das Motiv der Pflugschar taucht einige Jahre später in Nietzsches Also sprach Zarathustra wieder auf, fast versteckt, könnte man meinen, im Kapitel "Von den Tugendhaften", aber doch nicht ganz vergessen.
"Über euch, ihr Tugendhaften, lachte heut meine Schönheit. Und also kam ihre Stimme zu mir: "sie wollen noch - bezahlt sein!". Ihr wollt noch bezahlt sein, ihr Tugendhaften? Wollt Lohn für Tugend und Himmel für Erden und Ewiges für euer Heute haben?
Und nun zürnt ihr mir, daß ich lehre, es gibt keinen Lohn- und Zahlmeister? Und wahrlich, ich lehre nicht einmal, daß Tugend ihr eigener Lohn ist. Ach, das ist meine Trauer: in den Grund der Dinge hat man Lohn und Strafe hineingelogen - und nun auch noch in den Grund eurer Seelen, ihr Tugendhaften!
Aber dem Rüssel des Ebers gleich soll mein Wort den Grund eurer Seelen aufreißen; Pflugschar will ich euch heißen.
Alle Heimlichkeiten eures Grundes sollen ans Licht; und wenn ihr aufgewühlt und zerbrochen in der Sonne liegt, wird euch eure Lüge von eurer Wahrheit ausgeschieden sein...
...Daß eure Tugend euer Selbst sei, und nicht ein Fremdes, eine Haut, eine Bemäntelung: das ist die Wahrheit aus dem Grund eurer Seele, ihr Tugendhaften!"
Die Textstelle, im oben angeführten Zitat gekürzt wiedergegeben, ist ein wesentlicher Schlüssel zum Verständnis des Werkes; sie beschreibt vorzüglich einen der zentralsten Grundgedanken der Morgenröte, den man etwa in folgende Worte fassen könnte: Es gibt keine Moral-an-sich, also kein unveränderliches, absolutes, moralisches Gesetz als kosmisches Prinzip; und schon gar nicht gibt es eine Belohnung oder eine Strafe im Jenseits für die Einhaltung bzw. den Verstoß gegen ein solches - die Philosophen und Theologen der Vergangenheit hätten aber eine solche absolute Moral erdacht, quasi in die Welt hineingelegt - und damit keinen geringen Schaden verursacht. Vielmehr ist jede Tugend und Moral aus psychologischen, nicht metaphysischen Gründen erklärbar; Moral ist eine Verkleidung, eine Bemäntelung des "Inneren" des einzelnen oder des jeweiligen Volkes etc; welche Tugend man wählt, ist, ob man es nun weiß oder nicht, zugibt oder nicht, letztlich eine Frage der Persönlichkeit. Wenn Nietzsche im oben angeführten Zitat davon spricht, den Grund der Seele aufreißen zu wollen, meint er die von ihm intendierte Bloßlegung der psychischen Prozesse, welche die Genese der Moral hervorrufen.
Die Sprengkraft von Nietzsches Ansichten liegt vor allem in der Destruktion der herkömmlichen Moraltheorien, die der Moral einen höheren Ursprung zuschreiben. Sie ist aber auch die Destruktion des vielgepriesenen Glaubens an die Selbstlosigkeit der Moral - eine Moral, die selbstlos ist, ist für Nietzsche nicht denkbar, höchstens eine Moral, die aus im Subjekt verankerten Gründen das Selbst verleugnet. - Nietzsches Feldzug gegen solche Moralsysteme nimmt in der Morgenröte seinen Anfang; in der Morgenröte ist das Urbild zu Nietzsches späteren Ausführungen niedergelegt. Das Symbol der Morgenröte soll sicherlich auch auf den wohl von Nietzsche geahnten Anfang seines eigentlichen philosophischen Lebenswerk hinweisen: "...und eines Morgens stand er mit der Morgenröte auf...", heißt es gleich zu Beginn von Also sprach Zarathustra. Der Morgen als Erlösung von der geistigen Nacht, als Beginn der Erleuchtung, als helles Licht am Ende eines langen finstren Tunnels taucht erstmals in Nietzsches Werken auf. Die Morgenröte sollte für Nietzsche zu einem äußerst persönlichen Symbol werden.
Den zweiten Schlüssel findet man wohl in Nietzsches Rückblick auf die Morgenröte in seiner späten Schrift Ecce homo. Nietzsche schreibt:
"Mit diesem Buch beginnt mein Feldzug gegen die Moral. Nicht, daß es den geringsten Pulvergeruch an sich hätte: - man wird ganz andre und viel lieblichere Gerüche an ihm wahrnehmen, gesetzt, daß man einige Feinheit in den Nüstern hat. (...) Meine Aufgabe, einen Augenblick höchster Selbstbesinnung der Menschheit vorzubereiten, einen großen Mittag, wo sie zurückschaut und hinausschaut, wo sie aus der Herrschaft des Zufalls und der Priester heraustritt und die Frage des warum?, des wozu? zum ersten Male als Ganzes stellt -, diese Aufgabe folgt mit Notwendigkeit aus der Einsicht, daß die Menschheit nicht von selber auf dem rechten Wege ist, daß sie durchaus nicht göttlich regiert wird, daß vielmehr gerade unter ihren heiligsten Wertbegriffen der Instinkt der Verneinung, der Verderbnis, der decadence-Instinkt verführerisch gewaltet hat. Die Frage nach der Herkunft der moralischen Werte ist deshalb für mich eine Frage ersten Ranges, weil sie die Zukunft der Menschheit bedingt. (...) Der Verlust an Schwergewicht, der Widerstand gegen die natürlichen Instinkte, die "Selbstlosigkeit" mit einem Worte - das hieß bisher Moral ... Mit der Morgenröte nahm ich zuerst den Kampf gegen die Entselbstungs-Moral auf." (KTA 77, 369)
Die Morgenröte ist der Beginn von Nietzsches Kampf gegen alle moralischen Einstellungen, die aus der "Bleichsucht" ein Ideal gemacht haben: ein Kampf gegen die Moral, die Selbstverleugnung als Tugend preist.
Den dritten und wesentlichsten Schlüssel zum Werke stellt aber die Vorrede der Morgenröte dar. Wie jede gute Vorrede wurde sie nach der Fertigstellung des Werkes vollendet, im Herbst 1886. Und wieder malt Nietzsche ein Bild mit seinen Worten, formt ein Symbol.
"In diesem Buche findet man einen 'Unterirdischen'..." - und zwar den wackren Nietzsche selbst, drauf und dran, das "Vertrauen zur Moral zu untergraben", langsam und unerbittlich gräbt dieser Mann, bei seiner schweren Arbeit fast zufrieden seinen Weg. "Es ist bisher am schlechtesten über Gut und Böse nachgedacht worden", meint Nietzsche, alle Betrachter waren befangen, gefangen von der Moral, becirct - Nietzsche nennt die Moral die "eigentliche Circe der Philosophen". Unter ihrer Verführung hätten nach Nietzsche "von Plato ab alle philosophischen Baumeister in Europa umsonst gebaut" - vor allem Kant ging es weniger um Wahrheit oder Gewißheit, sondern um das, wie er selbst schreibt, "majestätische sittliche Gebäude": um es aufbauen zu können, wollte er die Vernunft in die Schranken weisen. Gerade dieses Ziel, dieses Interesse, die Moral zu verteidigen, unangreifbar vor allem für die Vernunft zu machen, war die Quelle der Irrtümer aller großen Philosophen der Vergangenheit.
Aber warum unternimmt es Nietzsche, das Fundament der Moral zu untergraben? Er gibt selbst in der Vorrede die Antwort: "Aus Moralität!". Auch ihn treibt das "du sollst!", die Wahrhaftigkeit, die verbietet, zu unglaubwürdigen Werten zurückzukehren, die uns treibt, Antworten zu finden - die Moral wird hier aus moralischen Gründen aufgehoben, die Moral wendet sich in diesem historischen Ereignis gegen sich selbst, Nietzsche kann von der "Selbstaufhebung der Moral" sprechen.
In dieser Vorrede werden nicht nur weitere Intentionen Nietzsches klar, sie liefert auch ein treffendes Bild des Stils des Werkes. Die Morgenröte ist in kurzen, lose zusammenhängenden Aphorismen verfaßt; alle sind sie "Gedanken über die moralischen Vorurteile", wie es schon der Untertitel des Werkes verheißt: Jeder Gedanke "untergräbt" das Fundament der Moral, mal hier ein wenig, dort ein bißchen - solange, bis das "majestätische sittliche Gebäude" krachend einstürzt. Entsprechend schwierig gestaltet sich das Lesen des Buches - Nietzsche meint, man müsse es langsam lesen: denn es sei ein Freund des "lento" und vertrage die Eile nicht.
Eine vollständige Darstellung aller einzelnen Aspekte des Werkes macht die Textstruktur unmöglich: Das Buch ist in 575 Aphorismen aufgesplittert, die, je weiter der Text fortschreitet, einen immer geringeren inhaltlichen Zusammenhang aufweisen. Die vollständige Darstellung soll in dieser Arbeit auch nicht versucht werden. Vielmehr soll sie manche, nämlich die wichtigsten Wege Nietzsches zu beschreiten und nachzuzeichnen versuchen.
Oftmals vernachläßigt in der Besprechung der Morgenröte werden die vielen unscheinbaren Aphorismen, die nicht unmittelbar Argumente gegen die moralischen Ansichten enthalten, aber verschiedene Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft betonen - scheinbar ohne Zusammenhang mit Nietzsches Angriffe gegen Moral und Christentum. Damit meine ich z.B. den Aphorismus 5, in dem er darauf hinweist, daß das "große Ergebnis der bisherigen Menschheit darin bestehe, nicht ständig in Furcht vor wilden Tieren, Barbaren, Göttern und Träumen leben zu müssen". Tatsächlich haben sich in dieser Beziehung die menschlichen Lebensverhältnisse drastisch geändert.
In diesem Zusammenhang sind aber vor allem die Aphorismen 7 und 31 zu sehen; ersterer ist betitelt mit "Umlernen des Raumgefühls" und sagt im wesentlichen aus, daß wir langsam gelernt haben, die Welt als klein, "ja das Sonnensystem als Punkt zu empfinden". In Aphorismus 31 wird auf unsere erst von Nietzsches Zeitgenossen Darwin entdeckte Abstammung vom Tier verwiesen: Am Anfang der Menschheit sitzt zähnefletschend der Affe.
Diese Ansichten der modernen Welt sind aber keinesfalls für die weitere Moralkritik Nietzsches unerheblich, sondern vielmehr quasi der Hintergrund, vor dem auch Nietzsches Skepsis vor Moral und Religion erst möglich sind. Denn die größten Erkenntnisse der letzten Jahrhunderte haben uns ernüchtert und uns die Augen über die erdichtete Großartigkeit des Menschen geöffnet.
Früher glaubten die Menschen an eine Erde, die im Mittelpunkt des Universums steht, an ein sich um die Heimat der Menschen drehendes Universum - heute wissen wir, daß die Erde ein Punkt ist im All, ein mit einer Schleimschicht, Menschheit genannt, überzogener Gesteinsbrocken; wir können uns heute nicht mehr so wichtig nehmen wie früher. Auch den Glauben daran, die Abbilder Gottes zu sein, mußten wir aufgeben, außer wir wollten Gott als übermenschlichen Affen sehen; denn die Menschen sind nichts als weiterentwickelte Affen. Auch in dieser Hinsicht also: eine Ernüchterung unseres einstmals so aufgeblasenen Selbstbildes.
In diesem Zusammenhang ist auch der Fehlschluß des Kolumbus zu sehen, den Nietzsche in Aph.37 zitiert: "Ist es wahrscheinlich, daß die Sonne auf nichts scheine, und daß die nächtlichen Wachen der Sterne an pfadlose Meere und menschenleere Länder verschwendet werden?" Daraus schloß Kolumbus, daß andere Länder auch bewohnt sein müssen; das ist aber ein Fehlschluß, der von einer Überschätzung der Wichtigkeit des Menschen zeugt - der Mensch wird hier also als dermaßen wichtig betrachtet, daß das Sonnenlicht ohne ihn verschwendet wäre! Das erscheint dem heute lebenden Menschen genauso lächerlich, als ob der Regenwurm sich zum wichtigsten Teil des Universums erklären und alle regenwurmlosen Planeten demnach als überflüssig betrachten würde.
Diese Ansichten bedeutet aber auch, daß man nicht von der Nützlichkeit einer Sache für uns auf ihre zwingende Existenz schließen könnte, denn wir sind nicht Sinn und Zweck des Universums. In diesem Sinne spricht auch Aphorismus 90, betitelt mit "Egoismus gegen Egoismus":
"Wie viele schließen immer noch 'es wäre das Leben nicht auszuhalten, wenn es keinen Gott gäbe!' (oder, wie es in den Kreisen der Idealisten heißt: 'es wäre das Leben nicht auszuhalten, wenn ihm die ethische Bedeutsamkeit seines Grundes fehlte') - folglich müsse es einen Gott (oder eine ethische Bedeutsamkeit des Daseins) geben! In Wahrheit steht es nur so, daß, wer sich an diese Vorstellung gewöhnt hat, ein Leben ohne sie nicht wünscht: daß es also für ihn und seine Erhaltung notwendige Vorstellungen sein mögen, - aber welche Anmaßung, zu dekretieren, daß alles, was für meine Erhaltung notwendig ist, auch wirklich dasein müsse! Als ob meine Erhaltung etwas Notwendiges sei! (...)"
Es ist vor allem das durch die Erkenntnisse der modernen Welt geprägte neue Weltgefühl, daß zwar nicht direkt ein Argument für Nietzsches Moralkritik ist, aber doch den Hintergrund für sie liefert; dieses Weltgefühl, das uns den Menschen als für die Gesamtheit des Kosmos unwichtiger als früher empfinden läßt, ist quasi der Boden, auf dem die weiteren Ansichten Nietzsches wachsen und gedeihen; denn durch das moderne Weltbild werden im Leser einige Fragen aufgeworfen wie z.B.: Was bedeutet schon irgendein Gefühl eines etwas weiterentwickelten Affen, der auf einem punktförmigen Gesteinsbrocken lebt, der wiederum irgendwo durch den unendlichen Raum saust, für die Gesamtheit des Universums? Was, wenn er z.B. zufällig ein Gefühl wie Liebe empfindet, darf er dann schließen, daß dieses Gefühl metaphysisches Grundprinzip des Universums ist? Darf sich dieses objektiv unwichtige Wesen als wichtigster Bestandteil des Kosmos betrachten und weiter in der Hoffart leben, irgendjemand müsse ihm die Unsterblichkeit nach dem Tod oder die ewige Glückseligkeit garantieren? Wären solche Schlüsse nicht absurd?
Vor diesem Hintergrund sind die weiteren Ausführungen Nietzsches zu sehen. Einer der wichtigsten Grundgedanken des Werkes wird schon in Aphorismus 3 zusammengefaßt:
"Als der Mensch allen Dingen ein Geschlecht gab, meinte er nicht zu spielen, sondern eine tiefe Einsicht gewonnen zu haben: - den ungeheuren Umfang dieses Irrtums hat er sich sehr spät und jetzt vielleicht noch nicht ganz eingestanden. -Ebenso hat der Mensch allem, was da ist, (...) eine ethische Bedeutung über die Schulter gehängt. Das wird einmal ebensoviel und nicht mehr Wert haben, als es heute schon der Glaube an die Männlichkeit oder Weiblichkeit der Sonne hat."
Die Natur, das ganze Universum steht für Nietzsche "jenseits von Gut und Böse"; die moralischen Wertungen und Bedeutungen sind nur vom Menschen hineininterpretiert, hineingelesen worden - in Gut und Böse die metaphysischen Triebkräfte des Kosmos zu orten oder für die Welt eine moralische Bedeutung, etwa die Gerechtigkeit als Grundordnung anzunehmen, hält Nietzsche für genauso verfehlt wie die Annahme, die Sonne hätte ein Geschlecht. Der Kosmos ist einfach - und dabei steht er jenseits von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Schuld und Strafe, kennt kein moralisches Ziel und ist ohne höheren, metaphysischen Zweck. In Aphorismus 17 kommt diese Grundhaltung ebenfalls zum Ausdrucke, wenn Nietzsche kritisiert, daß die Menschheit zuerst an die böse Natur glaubte, bis schließlich Rousseau die gute Natur erfand - und beides stimmt eben nicht. Vielmehr konstruiert der Mensch aus psychologischen "inneren" Kräften ein Moralsystem und interpretiert es in die Welt.
Der Glaube an die ethischen Gründe des Kosmos sind für Nietzsche ein genauso großer Irrtum wie der Glaube an eine "Sphärenmusik" (Aph.100), dem viele Weise der Vergangenheit nachhingen. In Aphorismus 563 bezeichnet Nietzsche die sittliche Weltordnung sogar als Wahn.
Ebenso wie die sittliche Ordnung Welt nur "über die Schulter gehängt" ist und in die Welt hineininterpretiert wurde wie das Geschlecht in die Sonne, meint Nietzsche, daß die Idee von Belohnung und Bestrafung als höheres Prinzip des Universums ebenfalls eine Erfindung ist. Es ist also keineswegs so, daß die Guten, Braven, Lieben von der kosmischen Gerechtigkeit belohnt, die Bösen und Ungerechten aber bestraft und gerichtet werden - das ist für Nietzsche höchstens Wunschvorstellung (der Schwachen?), nichts weiter.
In diesem Sinne ruft Nietzsche in der Morgenröte zu einer "neuen Erziehung des Menschengeschlechts" auf (Aph.13): "Helft, ihr Hilfreichen und Wohlgesinnten, doch an dem einen Werke mit, den Begriff der Strafe, der die ganze Welt überwuchert hat, aus ihr zu entfernen! Es gibt kein böseres Unkraut!"
Nicht nur in die "ganze reine Zufälligkeit des Geschehens" hätte man "um ihre Unschuld gebracht", man hätte auch, meint Nietzsche, "die Tollheit so weit getrieben, die Existenz selber als Strafe empfinden zu heißen, - es ist, als ob die Phantasterei von Kerkermeistern und Henkern bisher die Erziehung des Menschengeschlechts geleitet hätte!"
Man fühlt sich bei Nietzsches Ausführungen stark an die Theorien des griechischen Philosophen Epikur erinnert, dessen Intention es u.a. war, den Höllenglauben seiner Zeitgenossen zu bekämpfen. Darauf kommt Nietzsche in Aph.72 zurück, wo er Epikurs Philosophie als befreiende Wohltat preist - mit der Ablehnung des Gedankens einer Strafe im Jenseits fällt die Angst vor der Hölle - und die Befreiung von dieser Angst ist sicherlich das Hauptverdienst Epikurs. - Doch hätte die christliche Religion den längst überwundenen Glauben wiederbelebt und damit unsägliches psychisches Leid über die Welt gebracht (zur Kritik des Christentums in der Morgenröte siehe Punkt 2.9).
"Wir wollen nicht mehr die Ursachen zu Sündern und die Folgen zu Henkern machen." - in Aphorismus 208 spricht Nietzsche seine Stellung zur metaphysischen Strafe aus. In diesem Sinne argumentiert auch Aphorismus 202. Die Ablehnung der Interpretation der Strafe in den Grund der Dinge ist eine wesentliche Stütze von Nietzsches Moralkritik.
Wichtig ist auch die Sicht des Gefühls bei Nietzsche; diese Sicht beinhaltet in Hinblick auf seine Moralkritik zwei wesentliche Aspekte:
1.) Das Gefühl stammt nicht aus höheren, metaphysischen Eingebungen, ist nicht von höheren Mächten inspiriert. In diesem Sinne schreibt Nietzsche unter dem Titel "Stimmung als Argument" im Aphorismus 28:
"Was ist die Ursache freudiger Entschlossenheit zur Tat? - diese Frage hat die Menschen viel beschäftigt. Die älteste und immer noch geläufige Antwort ist: Gott ist die Ursache, er gibt uns dadurch zu verstehen, daß er unserem Willen zustimmt. Wenn man ehemals ein Orakel über ein Vorhaben befragte, wollte man von ihnen jene freudige Entschlossenheit heimbringen; und jeder beantwortete einen Zweifel, wenn ihm mehrere mögliche Handlungen vor der Seele standen, so: 'ich werde das tun, wobei jenes Gefühl sich einstellt.' Man entschied sich also nicht für das Vernünftigste, sondern für ein Vorhaben, bei dessen Bilde die Seele mutig und hoffnungsvoll wurde. Die gute Stimmung wurde als Argument in die Waagschale gelegt und überwog die Vernünftigkeit: deshalb, weil die Stimmung abergläubisch ausgelegt wurde, als Wirkung eines Gottes, der Gelingen verheißt (...)"
Die von Nietzsche kritisierte Sichtweise des Gefühls ist aber wohl nicht mehr zeitgemäß. Vielmehr sind die Gefühle teils aus individuellen, psychologischen Gründen erklärbar. Andererseits "erlernen" wir Gefühle durch unsere Umgebung, in der wir den ersten Umgang mit ihnen erproben. In Aph.35 betont Nietzsche, daß viele Gefühle auf Urteilen unserer Vorfahren basieren; insoferne das Vertrauen auf das Gefühl soviel bedeute, als ob man seinem Urgroßvater stärker vertraut als sich selbst. Auch der Rausch, die Ekstase kann, wie Nietzsche in Aph.50 meint, nicht mehr als "höheres" Stadium betrachtet werden, in dem wir die tieferen Gründe des Universums erfahren.
Die Basis für die Gefühle ist für Nietzsche vielmehr biologisch, nicht metaphysisch. Diese Sichtweise könnte man z.B. aus Aph.83 lesen.
Die größte Unvernunft, die wir begehen können, besteht für Nietzsche daher darin, sich für eine Lehre aus Gefühlsgründen zu entscheiden (Aph.99) - Gefühle sind trügerischer als die Vernunft, die gehobene Brust nicht der "Blasebalg Gottes", mit dem er uns die Gefühlswahrheit gleichsam einbläst.
2.) Nicht nur den "höheren" Ursprung der Gefühle leugnet Nietzsche, sondern auch ihre Moralität oder Unmoralität. Ebenso wie die Welt stehen die Gefühle "jenseits von Gut und Böse". Es gibt also keine "guten" Gefühle, aber auch keine "bösen" Gefühle, für die man im Jenseits bestraft wird oder derer man sich schämen muß. Da die Gefühle für Nietzsche zu einem großen Teil auf körperlichen Ursachen beruhen, stellt sich die Frage nach der höheren Moralität gar nicht; und die moralische Interpretation eines Gefühls ist schlichtweg ein Mißverständnis des Leibes. Unter dem Titel "Die christlichen Interpreten des Leibes" schreibt Nietzsche in Aphorismus 86:
"Was nur immer von dem Magen, den Eingeweiden, dem Herzschlage, den Nerven, der Galle, dem Samen herkomme - alle jene Verstimmungen, Entkräftungen, Überreizungen, die ganze Zufälligkeit der uns so unbekannten Maschine! - alles das muß so ein Christ wie Pascal als ein moralisches und religiöses Phänomen nehmen, mit der Frage, ob Gott oder Teufel, ob Gut oder Böse, ob Heil oder Verdammnis darin ruhen! Oh über den unglücklichen Interpreten! Wie er sein System winden und quälen muß! Wie er sich selber winden und quälen muß, um Recht zu behalten!"
Man könnte z.B. aus diesem Aphorismus ableiten, daß etwa die Sexualität und die damit verbundenen Gefühle (sexuelles Begehren, Lust etc.) nicht als etwas Böses betrachtet werden dürfen, weil sie doch auf natürlichen, leiblichen Bedürfnissen beruhen. Für Nietzsche wäre es blanker Unsinn, dem Leib eine gute oder böse Bedeutung beizulegen - für Nietzsche ist der Leib einfach, er existiert ohne moralischen Hintergedanken; seine Moralität und Unmoralität zu betrachten ist für Nietzsche ein Mißverständnis des Leibes.
Aber nicht nur die biologische Basis des Gefühls, auch das Gefühl selbst kennt ursprünglich kein Gut und Böse. An-sich kennt der "Trieb" diese Begriffe nicht; nur wenn man böse von ihm denkt, "macht man ihn böse" (Aph.76). Er erwirbt sich Gut und Böse als "zweite Natur": er wird von uns nur so getauft.
Nietzsche begründet seine Skepsis der Moral gegenüber auch mit Argumenten zur Entstehung derselben. Nietzsche weist darauf hin, daß zur Entstehung der Moral viele Faktoren beitragen, die geneigt sind, unser Mißtrauen gegen sie zu erhöhen: Nietzsche nennt in diesem Zusammenhang z.B. die Mitwirkung von abergläubischer Furcht, falschen Kausalitäten, Zwangshandlungen, Wahn, tierischen Trieben, Stolz, Lust etc. bei der Entstehung von Sitte oder dem Begriff der Schuld. Einige wichtige Beispiele sollen folgen.
Der Wahnsinn hätte nach Nietzsche in der Geschichte von Moral und Religion immer eine große Rolle gespielt. Dies erläutert er u.a. im Aphorismus 14 unter dem Titel "Bedeutung des Wahnsinns in der Geschichte der Moralität", hier gekürzt wiedergegeben:
"(...) : fast überall ist es der Wahnsinn, welcher dem neuen Gedanken den Weg bahnt, welcher den Bann eines verehrten Brauches und Aberglaubens bricht. Begreift ihr es, weshalb es der Wahnsinn sein mußte? Etwas in Stimme und Gebärde so Grausenhaftes und Unberechenbares wie die dämonischen Launen des Wetters und des Meeres und deshalb einer ähnlichen Scheu und Beobachtung Würdiges? Etwas, das so sichtbar das Zeichen völliger Unfreiwilligkeit trug, wie die Zuckungen und der Schaum des Epileptischen, das den Wahnsinnigen dergestalt als Maske und Schallrohr einer Gottheit zu kennzeichnen schien? Etwas, das dem Träger eines neuen Gedankens selber Ehrfurcht und Schauder vor sich und nicht mehr Gewissensbisse gab und ihn dazu trieb, der Prophet und Märtyrer desselben zu werden? (...)"
Der Wahnsinn gibt dem Menschen neue Ideen, nimmt ihm Hemmungen und Gewissensbisse und wirkt geheimnisvoll und göttlich, sodaß er die Menschen begeistert. Der Wahnsinn war nach Nietzsche schon mehr als einmal die Wurzel einer Neuerung in Sitte, Religion und Moral. Daß der Wahnsinn tatsächlich im höchsten Maße kreativitätssteigernd wird, konnte ich schon in meiner Fachbereichsarbeit Über die Beziehung zwischen Geistesstörung und Kreativität beweisen - Nietzsche ist in diesem Punkt recht zu geben.
Aber Nietzsche geht in besagtem Aphorismus 14 noch weiter. So behauptet er, daß es in jeder Religion und jedem Moralsystem Mittel und Wege gibt, den Wahnsinn künstlich hervorzubringen. Die Mittel seien immer und überall dieselben: "unsinniges Fasten, fortgesetzte geschlechtliche Enthaltung, in die Wüste gehen oder auf einen Berg und eine Säule steigen" etc.
In Aphorismus 66 fügt er hinzu, daß es z.B. das ganze Mittelalter als entscheidende Merkmal höchsten Menschentums galt der Vision fähig zu sein - das heißt nach Nietzsche: einer tiefen geistigen Störung. Zu allen Zeiten hätte man nun die "halbgestörten, phantastischen, fanatischen" Personen überschätzt. Hat jemand aber eine "Vision", d.h. eine solche geistige Störung, sollten wir ihm nicht gläubig gegenüber stehen, sondern ihm eher vorsichtig begegnen.
Dazu eine kritische Anmerkung: Würden wir eine solche Skepsis, die uns Nietzsche vorschlägt, tatsächlich umsetzen, müßten wir uns von so ziemlich allen kulturellen Leistungen aller Völker der Weltgeschichte distanzieren - denn fast alle diese Werke stammen aus der Geistesstörung und dem Wahnsinn. Der Wahnsinn scheint überhaupt eine Voraussetzung für jedes große Werk der Menschheitsgeschichte zu sein ("Non est magnum ingenium sine mixtura dementiae", bemerkte schon Seneca). Van Gogh, Tasso, Kleist, Hölderlin...die Reihe der schwer geisteskranker Denker und Dichter, die teils auch lange Zeit in Irrenanstalten verbrachten, ließe sich lange fortsetzen. Schließlich müßten wir uns sogar von Nietzsches Werk distanzieren, der ja auch nicht gerade als Prototyp des normalen Menschen gelten darf (1889 fiel er in Turin in geistige Umnachtung; er wurde in die Irrenanstalt eingeliefert, als er verwirrt und weinend ein Pferd umarmte, das einen schweren Karren ziehen mußte). Ich gehe davon aus, daß Nietzsche recht hat und tatsächlich bei einer Vision des Hesekiel, Jesus, Paulus, Konstatin etc. die Schizophrenie und bei so manchem Säulenheiligen des frühen Mittelalters der Wahnsinn eine gewisse Rolle gespielt hat (muß man nicht verrückt sein, sich dreißig Jahre lang fastend auf eine Säule zu setzen? vgl. Weber: Geschichte des Mittelalters) Doch diese Feststellung schmälert meiner Ansicht nach nicht den Wert ihres Werkes, sondern der Wahnsinn hat das Werk der großen Genies erst ermöglicht! Nietzsche selbst relativiert auch seine eigene Verurteilung des Wahnsinns, wenn er später in der Vorrede von Also sprach Zarathustra schreibt:
"Ich sage euch: man muß noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können."
Daß aber der Wahnsinn in der Entstehung der Moral eine Rolle spielte, muß zugegeben werden. Aber auch in der tradierten Sitte ist oft vieles, was an Geisteskrankheit gemahnt: So betont Nietzsche auch sittliche Taten, die zu Zwangshandlungen ausarten können. So führt er z.B. in Aphorismus 16 das Verbot der Kamtschadalen an, den Schnee von den Schuhen mit dem Messer abzuschaben (den Zuwiderhandelnden droht die Todesstrafe!)
Oftmals sind nach Nietzsche auch falsche (phantastische) Kausalitäten der Grund, warum sich ein Moralsystem entwickelt. Dazu schreibt Nietzsche im Aphorismus 10 unter dem Titel "Gegenbewegung zwischen Sinn der Sittlichkeit und Sinn der Kausalität":
"In dem Maße, in welchem der Sinn der Kausalität zunimmt, nimmt der Umfang des Reiches der Sittlichkeit ab: denn jedesmal, wenn man die notwendigen Wirkungen begriffen hat und gesondert von allen Zufällen, allem gelegentlichen Nachher (post hoc) zu denken versteht, hat man eine Unzahl phantastischer Kausalitäten, an welche als Grundlagen von Sitten bisher geglaubt wurde, zerstört - die wirkliche Welt ist viel kleiner als die phantastische - und jedesmal ist ein Stück Ängstlichkeit und Zwang aus der Welt verschwunden, jedesmal auch ein Stück Achtung vor der Autorität der Sitte: die Sittlichkeit im großen hat eingebüßt. Wer sie dagegen vermehren will, muß zu verhüten wissen, daß die Erfolge kontrollierbar werden."
Phantastische Kausalitäten, die mit abergläubischer Angst vermengt seien, bringen nach Nietzsche also die Moral, vor allem die Volksmoral hervor. In diesem Sinne spricht auch Aph.33: Böse Zufälle, die die Gemeinde treffen, würden als Strafen der Gottheit interpretiert - man würde meinen, daß gegen die Sitte verstoßen wurde. Auch würde man neue Gebräuche erfinden, um weiteres Unheil abzuwenden. Danach würde man wiederum peinlichst genau bedacht sein, diese Bräuche einzuhalten, aus abergläubischer Angst vor neuen Strafen, die von der Gottheit kommen. Ein solches Vorgehen wäre aber von einer falschen Kausalität geleitet, da sowohl Ursachen und Wirkungen falsch interpetiert werden. Die "Beweise" von moralischen Regeln geschähen auch auf eine scheinwissenschaftliche Art, wie Nietzsche in den Aphorismen 11 und 24 ausführt, die in dieser Arbeit jedoch nicht näher besprochen werden sollen.
Der Aberglaube ginge aber nach Nietzsche noch weiter; er stellt folgende Theorie im Aph.18 auf: Für die ursprünglich lebenden Menschen sei die Grausamkeit der höchste Genuß. Um den Göttern einen ähnlichen Genuß zu verschaffen, quälen und opfern sie andere Menschen, die sie gefangen oder besiegt haben. Diese Vorgangsweise kann aber nach Nietzsche eine Umkehr erfahren, wenn sich ein Erneuerer der Sitte selbst quält. Viele Führer von Völkern, die neue Bräuche einführen, wüten gegen das eigene Fleisch und quälen sich selbst. Nietzsche führt es auf ihre ursprüngliche Ansicht zurück, den Göttern eine Art Ersatzbefriedigung für die Veränderung der alten Gebräuche zukommen zu lassen.
Ferner meint Nietzsche, daß viele moralische Forderungen auf biologische Aspekte zurckzuführen seien. So betont er z.B. in Aph.26, die Anpassung an eine Gruppe sei ein innerer Trieb, der schon den Tieren zu eigen ist, um Gefahren besser trotzen zu können. Moralsysteme, die Anpassung forderten, könnten darauf zurückgeführt werden. Moral entstünde aber auch aufgrund von Nachahmung der als moralisch empfundenen Handlungen der Eltern durch die Kinder (Aph.34, 104).
Im Zusammenhang mit der Genese der Moral ist auch der Aphorismus 97 zu sehen.
"Man wird moralisch, - nicht weil man moralisch ist! - Die Unterwerfung unter die Moral kann sklavenhaft oder eitel oder eigennützig oder resigniert oder dumpf-schwärmerisch oder gedankenlos oder ein Akt der Verzweiflung sein, wie die Unterwerfung unter einen Fürsten: an sich ist sie nichts Moralisches." Die Moral nimmt man also nach Nietzsches Ansicht aus unmoralischen Gründen an, denen er auf die Spur zu kommen versucht.
In diesem Sinne spricht auch der Aphorismus 101, der mit dem Titel "Bedenklich" versehen wurde:
"Einen Glauben annehmen, bloß weil er Sitte ist, - das heißt doch: unredlich sein, feige sein, faul sein! - Und so wären Unredlichkeit, Feigheit und Faulheit die Voraussetzung der Sittlichkeit?"
Auch der Gedanke der Schuld entspringt aus "unmoralischen" Gründen: Bei einem Mißerfolg wolle eine Gemeinschaft ihre Machteinbußen ausgleichen, ferner sich selbst zeigen, daß sie noch Macht besitzt; darum wird ein Schuldiger gesucht und dieser dann bestraft (Aph.140).
Aus den bisherigen Ausführungen ist ersichtlich, daß Nietzsche in der Morgenröte noch weit entfernt ist, eine einheitliche Theorie der Genealogie der Moral zu entwickeln, doch schon wesentliche Ansätze seiner Ideen über die Entstehung der Moral in der Morgenröte vorweggenommen sind. Seine allgemeine Intention kann zusammenfassend als der Versuch verstanden werden, die psychologischen Wurzeln der Moralentstehung aufzudecken.
Für Nietzsche wäre der Begriff einer "selbstlosen Handlung" ein Widerspruch in sich: Eine Handlung, die völlig ohne Berücksichtigung des ego vor sich geht ist aus psychologischen Gründen gar nicht möglich. Hinter den selbstlosen Handlungen steht für Nietzsche ein in irgendeiner Form egoistisches Motiv, und sei es auch ein unbewußt wirksames.
In diesem Sinne spricht u.a. der Aphorismus 30, betitelt mit "Die verfeinerte Grausamkeit als Tugend". Nietzsche schreibt:
"(...) Was ist denn das eigentlich für einen Trieb und welches ist sein Hintergedanke? Man will machen, daß unser Anblick dem anderen wehe tue und seinen Neid, das Gefühl der Ohnmacht und seines Herabsinkens wecke; man will ihm die Bitterkeit seines Fatums zu kosten geben, indem man auf seine Zunge einen Tropfen unseres Honigs träufelt und ihm scharf und schadenfroh bei dieser vermeintlichen Wohltat ins Auge sieht. (...) Jener zeigt Erbarmen gegen die Tiere und wird deshalb bewundert, - aber es gibt gewisse Menschen, an welchen er eben damit damit seine Grausamkeit hat auslassen wollen. Dort steht ein großer Künstler: die vorempfundene Wollust am Neide bezwungener Nebenbuhler hat seine Kraft nicht schlafen lassen, bis er groß geworden ist, - wie viele bittere Augenblicke anderer Seelen hat er sich für das Großwerden zahlen lassen! Die Keuschheit der Nonne: mit welchen strafenden Augen sieht sie in das Gesicht anderslebender Frauen! wieviel Lust der Rache ist in diesen Augen! Das Thema ist kurz, die Variationen darauf könnten zahllos sein, aber nicht leicht langweilig, - denn es ist immer noch eine gar zu paradoxe und fast wehetuende Neuigkeit, daß die Moralität der Auszeichnung im letzten Grunde die Lust an verfeinerter Grausamkeit ist. Im letzten Grunde - das soll hier heißen: jedesmal in der ersten Generation. Denn wenn die Gewohnheit irgend eines auszeichnenden Tuns sich vererbt, wird doch der Hintergedanke nicht mitvererbt (...): und vorausgesetzt, daß er nicht durch die Erziehung wieder dahintergeschoben wird, gibt es in der zweiten Generation schon keine Lust der Grausamkeit mehr dabei: sondern Lust allein an der Gewohnheit als solcher. Diese Lust aber ist die erste Stufe des "Guten"."
Nietzsche betont also, daß die "verfeinerte Lust an Grausamkeit" der wahre Grund für die Entstehung sogenannter selbstloer Handlungen ist; zumindest in der "ersten Generation", also bei den Erfindern dieser Tugend.
In Aphorismus 145 kritisiert Nietzsche ebenfalls die angebliche Selbstlosigkeit der Liebe; aber auch das angeblich selbstlose Mitleid hat letztlich egoistische Wurzeln.
Die Argumentation des Aphorismus 133 lautet in diesem Zusammenhang in etwa folgendermaßen: Wenn wir einem Menschen, der ins Wasser fällt nachspringen, kann man nur aufgrund von Gedankenlosigkeit auf die Idee verfallen, es geschähe aus purem, selbstlosem Mitleid; ebenso resultiert die Empfindung des Unbehagens, wenn man jemand Blut speien sieht, keineswegs aus Selbstlosigkeit. "Sehr stark unbewußt" meint Nietzsche würden wir doch an uns denken: denn der "Unfall des anderen beleidigt uns, er würde uns unserer Ohnmacht, vielleicht unserer Feigheit überführen, wenn wir ihm nicht Abhilfe brächten". Außerdem würde uns das Leid des anderen stören, weil es die Hilflosigkeit des Menschen überhaupt - und damit auch unsere eigene - demonstriert. Ferner können wir unsere Macht zeigen, Beifall ernten, Lob und Erkenntlichkeit erlangen. Das außerordentliche Lob des Mitleids z.B. durch Schopenhauer, der v.a. seine Selbstlosigkeit preist, ist darum nicht gerechtfertigt, weil das Mitleid, zumindest, was seinen unbewußten Ursprung betrifft, egoistisch ist; das Mitleid ist aus solchen und weiteren Gründen nach Nietzsche eine "Quelle der Lust" (Aph.34).
Was aus diesen Annahmen folgt, geht u.a. aus Aphorismus 148 hervor:
"Sind nur die Handlungen moralisch, wie man wohl definiert hat, welche um des anderen willen und nur um seinetwillen getan werden, so gibt es keine moralischen Handlungen! Sind nur die Handlungen moralisch - wie eine andere Definition lautet -, welche in Freiheit des Willens getan werden, so gibt es ebenfalls keine moralischen Handlungen!" Da die sogenannten "moralischen" und "guten" Handlungen aus dem Egoismus entstünden, wäre nun der Egoismus, zumindest der verfeinerte, rehabilitiert: man gäbe ihm "das gute Gewissen zurück". Die einseitige Verdammung einer verfeinerten egoistischen Handlung ist für Nietzsche also nicht mehr gerechtfertigt.
Eine vernünftige Begründung der Moral hat für Nietzsche keinen Wert, da dieses Einpassen in Vernunftkategorien ein nachträglicher Vorgang ist. Dies schreibt er deutlich in Aphorismus 1 unter dem Titel "Nachträgliche Vernünftigkeit". Alle Dinge würden dermaßen von Vernunft "durchtränkt", daß ihre Herkunft aus der Unvernunft unwahrscheinlich erschiene. Die ursprünglichen Gründe der Moral sind aber nicht vernünftig, sondern entspringen aus bereits in den Punkten 2.5. und 2.6. erläuterten Gründen. Zu Nietzsches Einstellung zur Vernunft siehe auch die Punkte 3.2. und 3.3.
Auch negative Auswirkungen der Moral werden bei Nietzsche thematisiert, teils auch polemisiert. In Aphorismus 19 entwickelt er z.B. folgenden Gedankengang: Die Sittlichkeit besteht im Gehorsam gegen die Sitte; die Sitte wiederum repräsentiert die Erfahrung früherer Geschlechter. Übt man nun absoluten Gehorsam gegen die althergebrachten Erfahrungen und Wertschätzungen, würde damit der Entstehung neuerer und besserer Sitten entgegengewirkt. Polemisch ausgedrückt: die Sitte verdummt.
In Aphorismus 39 führte Nietzsche aber auch die negativen Folgen des Glaubens an eine reine Geistigkeit an, die oftmals Basis der Moral und Sitte ist. Man lernt durch diesen Glauben seiner Meinung nach den Körper geringzuschätzen und zu quälen; dies wiederum wäre nicht nur ungesund und selbstzerstörerisch, sondern würde auch den Geist korrumpieren, der für Nietzsche, getreu dem antiken Motto "mens sana in corpore sano" eingedenk, niemals unabhängig vom Körper wäre. ähnlich negativ bewertet Nietzsche z.B. die vita contemplativa in Aph.41.
Ein weiteres Beispiel, das ich aus zahllosen anderen herausgreifen möchte, findet man im Aphorismus 166. Hier stellt er in etwa folgende Frage: Ist ein einheitliches Moralsystem, dem sich alle unter großen Opfern anpassen müssen, überhaupt wünschenswert? Oder soll man nicht eher individuelle Ausformungen von Sittlichkeit zulassen? Nietzsche zu einem universalen Moralsystem:
"Pfui! Ihr wollt in ein System hinein, wo man entweder Rad sein muß, voll und ganz, oder unter die Räder gerät! Wo es sich von selber versteht, daß jeder das ist, wozu er von oben her gemacht wird! Wo das Suchen nach "Konnexion" zu den natürlichen Pflichten gehört?"
Liest man die Morgenröte, kann man sich des Eindruckes nicht erwehren, daß sich Nietzsche mit seiner Kritik des Christentums und der Religion (im Gegensatz zu den Angriffen in seinen späteren Schriften) noch weitgehend zurückhält. Doch seine wesentlichen Ansichten über das Christentum scheinen in dieser frühen Schrift jedenfalls schon herausgebildet.
Die Morgenröte vermittelt Nietzsches Bild des Christentums etwa folgendermaßen: Die christliche Religion beherbergt lebensfeindliche Werte (Nietzsche sollte diese "Niedergangs"-werte später mit dem Wort d'cadence bezeichnen), die dem antiken Geist völlig entgegengesetzt sind. In der Morgenröte vergleicht er das Christentum (boshafterweise) mit einem orientalischen Weib, weil eine seiner Devisen lautet "Wen Gott liebt, züchtigt er"; gerade die Züchtigung als Beweis der Liebe zu sehen, sei aber orientalischen Frauen zueigen (Aph.75). Diese lebensfeindliche Religion, die von Paulus ins römische Reich getragen wurde, verband sich mit den lebensverneinenden Philosophien der Antike (v.a. dem Platonismus), die Nietzsche schon in der Morgenröte als nihilistisch betrachtet (vgl.Aph.474), weil sie ein Jenseits (also ein "Nichts") höher als das Diesseits bewerten. Unterstützt wurde die Bewegung von Pöbel-Ressentiments gegen die römischen Herrenmenschen (vgl.Aph.71), ferner gegen die Philosophen und die von ihnen gepredigte Vernunft (Aph.58); das Volk wollte wieder fühlen und nach Herzenslust dumm sein dürfen - dies ermöglichte das Christentum mit seiner Devise "Selig sind die geistig Armen". Ferner war das Christentum für die Masse der Erbärmlichen, Schwachen und Ohnmächtigen genau die richtige Philosophie (vgl.Aph.65). Das Christentum unterminierte nach Nietzsche das ohnehin geschwächte Imperium, nicht ohne vorher alle negativen Elemente des Heidentums in sich aufzunehmen und dadurch noch ekelhafter zu werden. Vor allem der längst von Epikur überwundene Höllenglaube wurde zu einer Säule des christlichen Erfolges (vgl. Aph.72). Die nun "universal-heidnisch" gewordene Kirche konnte sich auch über die Reichsgrenzen hinaus verbreiten, da sie nach der Absorption der abergläubischsten und dümmsten heidnischen Bräuche überall irgendetwas fand, an dem sie anknüpfen konnte (vgl.Aph.70). Nach dem Ende der Antike hätte das Christentum das Mittelalter herbeigeführt, eine Epoche der tiefsten Dummheit und des unsinnigsten Aberglaubens; ein Kulturverfall sondergleichen ("Plutarch gibt ein düsteres Bild vom Zustand eines Abergläubischen innerhalb des Heidentums: dies Bild wird harmlos, wenn man den Christen des Mittelalters entgegenhält,..."; aus Aph.77). Die Neuzeit wäre im wesentlichen ein Vorgang der langsamen und mühevollen Emanzipation von dieser dunklen Zeit; auf dieser Zurückdrängung des Christentums liegt im wesentlichen der ganze Kulturfortschritt der Moderne begründet. Nun läge das Christentum am Sterbebett (Aph.92), nun sei noch der letzte Stoß gegen diese Religion zu unternehmen.
Das Christentum besitzt nach Nietzsche eine zutiefst verlogene Form der Philologie (Aph.84), die ihn als Philologen natürlich besonders auf die Palme gebracht hat; das Christentum hat die Kunst des schlechten Lesens seit Jahrtausenden gepflogen. Der beste Beweis sei die christliche Interpretation des Alten Testaments; diese Interpretation könne unmöglich mit gutem Gewissen vollzogen worden sein. Man hat versucht, den Juden das Alte Testament "unter dem Leibe wegzuziehen, mit der Behauptung, es enthalte nichts als christliche Lehren und gehöre den Christen als dem wahren Volke Israel: während die Juden es sich nur angemaßt hätten". Man behauptete (und behauptet) tatsächlich, daß überall im Alten Testament nur von Christus die Rede sein sollte, "überall namentlich von seinem Kreuze, und wo nur ein Holz, eine Rute, eine Leiter, ein Zweig, ein Baum, eine Weide, ein Stab genannt wird, da bedeute dies eine Prophezeiung auf das Kreuzesholz; selbst die Aufrichtung des Einhorns und der ehernen Schlange, selbst Moses, wenn er die Arme zum Gebet ausbreitet, ja selbst die Spieße, an denen das Passahlamm gebraten wird, - alles Anspielungen und gleichsam Vorspiele des Kreuzes! Hat dies jemals jemand geglaubt, der es behauptete?"
Die Schlechtigkeit des Christums äußert sich nach Nietzsche aber auch in seiner "erlogenen Sündhaftigkeit" (Aph.29) und seiner jämmerlichen Zur-Schau-Stellung dieser Sünde, seinem Haß auf Leib und Selbst und seiner unmöglichen Haltung der Sexualität gegenüber, die sie ebenso wie Aphrodite und Eros in eine Reihe mit allem Bösen und Tückischen gestellt hat (Aph.76). Völlig natürliche Regungen des Körpers wurden somit verteufelt (Aph.86). Das Christentum sei daher der Inbegriff der psychischen Marter; es hätte die Hölle auf Erden geschaffen!
Überhaupt sei es ein einziger Kanon unerfüllbarer Gebote; die Gebote sind so unsinnig hoch angesetzt, daß man sie gar nicht erfüllen kann! Sie sind aber unerfüllbar aus Kalkül, denn der Gläubige wird in seinem Streben immer entmutigt, bis er sich Gott verzweifelt und gebrochen zu Füßen wirft und sich in seine Gnade begibt (Aph.87).
Den absoluten Gipfelpunkt in seiner Korruption hätte das Christentum aber betrieben, indem es den Zweifel mit der Sünde in Verbindung brachte, anstatt ihn zu loben! Damit war der Selbständigkeit des Menschen überhaupt ein Ende gesetzt (Aph.89).
Nietzsche betont in der Morgenröte ferner immer wieder, daß das christliche Märtyrertum kein Beweis für die Wahrheit des Christentums ist (Aph.73):
" 'Für die Wahrheit des Christentums sprach der tugendhafte Wandel der Christen, ihre Standhaftigkeit im Leiden, der feste Glaube und vor allem die Verbreitung und das Wachstum trotz aller Trübsal', - so redet ihr auch heute noch! Es ist zum Erbarmen! So lernt doch, daß dies alles nicht für und nicht gegen die Wahrheit spricht, daß die Wahrheit anders bewiesen wird als die Wahrhaftigkeit, und daß letztere durchaus kein Argument für die erstere ist!"
Alle positiven Seiten des Christentums, wenn es überhaupt welche gibt, haben aber zudem noch Kehrseiten. Nietzsche schreibt in diesem Sinne unter anderem (Aph.80): "Die Kehrseite des christlichen Mitleidens am Leiden des Nächsten ist die tiefe Beargwöhnung aller Freuden des Nächsten, seine Freude an allem, was er will und kann."
Es sei nötig, es dem Buddhismus gleichzutun und den christlichen Gott beiseite zu werfen (Anm. der Buddhismus ist eine atheistische Religion). In diesem Sinne spricht auch Aph.96.
Man erkennt also, daß Nietzsche im Gegensatz zu seinen späteren Schriften vergleichsweise wenig Kritik am Christentum übte, seine prinzipiellen Ansichten aber quasi als Urbilder schon in dieser frühen Schrift herausgebildet sind.
Für Nietzsche ist aber auch die Geschichtlichkeit der Moral zumindest ein Anstoß zum Zweifel an der universalen Gültigkeit eines Systems; vorausgesetzt, man wählt nicht den Ausweg, zu behaupten, wir hätten die besten Vorstellungen über die Moral; und alle anderen Völker, Kulturen, Generationen, Epochen, lägen mit ihrem Urteil falsch. Diese Überschätzung der eigenen Moralanschauungen ist aber für Nietzsche ungangbar; dies drückt er schon in Aphorismus 2 aus, der mit dem Titel "Vorurteil der Gelehrten" versehen ist.
"Es ist ein richtiges Urteil der Gelehrten, daß die Menschen aller Zeiten zu wissen glaubten, was gut und böse, lobens- und tadelnswert sei. Aber es ist ein Vorurteil der Gelehrten, daß wir es jetzt besser wüßten als irgendeine Zeit."
In diesem Sinne wird Nietzsche nicht müde, Beispiele des historischen Wandels der Bewertung der Tugenden zu nennen.
So betont Nietzsche in Aphorismus 38: Die alten Griechen, allen voran Hesiod, hätten den Neid als gut und tugendhaft gepriesen, da er den Wettbewerb zwischen den Menschen steigert. Die Hoffnung hingegen, noch von vielen unserer Zeitgenossen als hohe Tugend gepriesen, wurde von Griechen als tückisch und trügerisch angesehen, weil sie den Mensch im falschen Schein wiege. Die Juden hingegen haben den Zorn, der in der christlichen Welt zu den sieben Todsünden zählt, "heiliggesprochen" und damit als gottgewollte Regung erachtet. Der unter dem Titel "Moralische Moden" stehende Aphorismus 131 bespricht die Wertung des Mitleids in der Antike; bekanntlich ist das Mitleid für das Christentum das tugendhafte Gefühl schlechthin. Die moralisch hochstehendsten Philosophen, wie z.B. Epiktet, der berühmte Stoiker, hätten sich gegen das Mitleid ausgesprochen. Ich möchte zu Nietzsches Beispielen hinzufügen, daß auch Seneca dem Mitleiden sehr skeptisch gegenüberstand: So meinte er, daß zum Mitleid erstens nur die Schwachen neigen würden, es sei daher erbärmlich. Zweitens argumentiert er, daß das Mitleid das Leid in der Welt vermehrt, weil statt einem nun mehrere Leute leiden. Und drittens wären mitleidige Leute aufgrund ihrer eigenen heftigen Gefühle kaum in der Lage, einen klaren Kopf zu behalten, um den Grund des Leidens aus der Welt zu schaffen (De clementia II, 4ff.) Ähnliche Bemerkungen kann man aber z.B. auch in Aphorismus 9 finden, wo Nietzsche betont, daß einem alten Römer das Streben der Christen nach ihrer persönlichen Seligkeit als zutiefst egoistisch und unmoralisch erschienen ist.
Die Geschichtlichkeit der Moral, verbunden mit der fehlenden Bereitschaft, die gegenwärtigen Moralvorstellungen zu überschätzen, liefert Nietzsche weitere Argumente für seine Moralkritik.
In diesem Punkte sollen einige besonders wichtige und interessante, aber auch dem persönlichen Geschmacke des Autors der vorliegenden Arbeit entsprechende Schwerpunkte der Reflexion der Morgenröte herausgegriffen und besprochen werden, wobei aufgrund der unüberschaubaren Vielfalt der Themen selbstredend kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden kann.
"Was ist Wollen!" fragt Nietzsche im Aphorismus 124 und gibt sogleich die Antwort:
"Wir lachen über den, welcher aus seiner Kammer tritt, in der Minute, da die Sonne aus der ihren tritt, und sagt: 'ich will, das die Sonne aufgehe'; und über den, welcher ein Rad nicht aufhalten kann und sagt: 'ich will, das es rolle'; und über den, welcher im Ringkampf niedergeworfen wird und sagt: 'hier liege ich, aber ich will hier liegen'. Aber trotz allem Gelächter! Machen wir es denn jemals anders als einer von diesen dreien, wenn wir das Wort gebrauchen: 'ich will'?"
Der sogenannte freie Wille existiert nach Nietzsche also nicht: Er sei Illusion, nachträgliche Interpretation. Stattdessen gilt: "du wirst getan" (Aph.120). Der Mensch hätte "zu allen Zeiten das Aktivum mit dem Passivum verwechselt". Unsere Handlungen, die wir im nachhinein als Entscheidungen einstufen, sind keineswegs wirklich aus Freiheit vollbracht, vielmehr werden wir von anderen äußeren, aber vor allem inneren Kräften dazu geleitet. Ähnlich gelagert ist auch die Aussage des Aphorismus 116.
Ebenso wie die Freiheit des Willens ist für Nietzsche die Vernunft nichts weiter als eine nachträgliche Interpretation unserer Triebe. Diese Ansicht zeigt schon Aphorismus 1:
"Nachträgliche Vernünftigkeit. - Alle Dinge, die lange leben, werden allmählich so mit Vernunft durchtränkt, daß ihre Abkunft aus der Unvernunft dadurch unwahrscheinlich wird. Klingt nicht fast jede genaue Geschichte einer Entstehung für das Gefühl paradox und frevelhaft.? Widerspricht der gute Historiker im Grunde nicht fortwährend?"
Die Rationalisierung unserer Handlungen ist eine nachträgliche. Die Vernunft ist für Nietzsche also nur Handlanger der Triebe, der ihre nachträgliche Rechtfertigung versucht.
In seinem Vortrag Freud und die Zukunft bezeichnet Thomas Mann den Schöpfer der Psychoanalyse als Schüler Schopenhauers, was sicherlich den Tatsachen entspricht, von Freud aber oftmals heftig und wutentbrannt geleugnet wurde (eine Freudsche Negation im wahrsten Sinne des Wortes!). Thomas Mann weist aber insbesonders darauf hin, daß in Nietzsches Werken wesentliche und zentrale Erkenntnisse der Psychoanalyse kurz aufleuchten und in ihrer Grundidee vorweggenommen werden.
Die Morgenröte beinhaltet in der Tat zahlreiche solcher luziden Momente, in denen der Leser sich stark an die Psychoanalyse Freuds erinnert fühlt, was mich unter anderem berechtigte, Nietzsche in meiner Preisarbeit Das Apollinische und das Dionysische in der jüngsten Politik Europas als "psychologisches Genie" zu bezeichnen.
So gemahnen schon die oben besprochenen Ansichten Nietzsches über die Freiheit des Willens und die Vernunft an die Freudsche Psychoanalyse. Eine ihre Hauptaussagen ist sicherlich, daß der Mensch nicht "Herr im eigenen Haus" ist, sondern seine Handlungen weitgehend vom Unterbewußtsein, einer dem Zugriff des Bewußtsein verschlossenen und auch unbekannten Instanz, abhängig ist. Freud selbst führte die heftige Kritik an der Psychoanalyse eben auf dieses Menschenbild zurück: "Der größere Anteil (Anm.der Kritik, P.H.) rührt davon her, daß durch den Inhalt der Lehre starke Gefühle der Menschlichkeit verletzt worden sind...Die psychoanalytische Auffassung vom Verhältnis des bewußten Ichs zum übermächtigen Unbewußten (bedeute) eine schwere Kränkung der menschlichen Eigenliebe." Diese Kränkung wurde von Freud die psychologische genannt und in eine Reihe gestellt mit der biologischen durch die Evolutionstheorie Darwins und der kosmologischen durch die Entdeckungen des Kopernikus.
Aber auch hinsichtlich der Traumtheorie Nietzsches und Freuds bestehen mancherlei Übereinstimmungen, wenngleich Nietzsche die seine weit nicht so gründlich und fundiert wie Freud ausführt, sondern den Traum nur am Rande behandelt (Aph.119 und 128).
Nietzsche schreibt in Aph.128 unter dem Titel "Traum und Verantwortlichkeit":
"In allem wollt ihr verantwortlich sein! Nur nicht für eure Träume! Welch elende Schwächlichkeit, welcher Mangel an folgerichtigem Mute! Nichts ist mehr euer Eigen als eure Träume! Nichts mehr euer Werk! Stoff, Form, Dauer, Schauspieler, Zuschauer - in diesen Komödien seid ihr alles ihr selber! Und hier gerade scheut und schämt ihr euch vor euch, und schon Ödipus, der weise Ödipus, wußte sich Trost aus dem Gedanken zu schöpfen, daß wir nichts für das können, was wir träumen! (...) Muß ich hinzufügen, daß der weise Ödipus recht hatte, daß wir wirklich nicht für unsere Träume - aber ebensowenig für unser Wachen verantwortlich sind, und daß die Lehre von der Freiheit des Willens im Stolz und Machtgefühl des Menschen ihren Vater und ihre Mutter hat? Ich sage dies vielleicht zu oft: aber wenigstens wird es dadurch noch nicht zum Irrtum."
Nietzsche meint also, wir wären zwar insoferne nicht für unser Träumen verantwortlich, weil wir es auch nicht für unser Wachen sind; die Träume sind aber doch mehr unser Werk als alle anderen geistigen Leistungen, die wir uns als Eigentum zuschreiben. Diese Aussage könnte von Freud stammen; sie stimmt völlig mit seiner Sicht des Traumes überein. Das Auftauchen der Person des Ödipus in diesem Aphorismus weckt auch manche andere Assoziation zu Sigmund Freuds Werk.
Nietzsche schreibt ferner über den Traum:
"...-wenn meine Vermutung erlaubt ist, daß unsere Träume eben den Wert und Sinn haben, bis zu einem gewissen Grad jenes zufällige Ausbleiben der "Nahrung" (Anm. des Triebes, P.H.) während des Tages zu kompensieren." (aus Aph.119).
Sigmund Freud meint: "Der Traum ist die (verkleidete) Erfüllung eines (unterdrückten, verdrängten) Wunsches." (zit. nach Schuster, Springer-Kremser: Bausteine der Psychoanalyse. Wien, 3.Aufl., 1994).
Beide Denker sind also einer Meinung, was den hauptsächlichen Charakter des Traumes betrifft: Er erfüllt unbefriedigte Triebe. Freud betont auch, daß als Anstoß des Trauminhaltes durchaus äußere physiologische Reize dienen können. Nietzsche meint ebenfalls: "Diese Erdichtungen (Anm. des Traumes),..., sind Interpretationen unserer Nervenreize während des Schlafens, sehr freie, sehr willkürliche Interpretationen von Bewegungen des Blutes und der Eingeweide, vom Druck des Armes und der Decken, von den Tönen der Turmglocken, der Wetterhähne, der Nachtschwärmer und andere Dinge der Art." (aus Aph.119).
Es sei ebenfalls bemerkt, daß die in Aph.126 geäußerte Ansicht über das Gedächtnis starke Ähnlichkeiten zur Freudschen Theorie darüber aufweist (vgl. Freuds Arbeit "Der Wunderblock").
Daß Nietzsche aber auch die Entdeckung des Unterbewußtseins vorwegnimmt, geht aus folgendem Textausschnitt hervor:
"... - muß ich aber ausführen, daß unsere Triebe im Wachen ebenfalls nichts anderes tun als die Nervenreize interpretieren und nach ihrem Bedürfnisse deren "Ursachen" ansetzen? Daß es zwischen Wachen und Träumen keinen wesentlichen Unterschied gibt? Daß selbst bei einer Vergleichung sehr verschiedener Kulturstufen die Freiheit der wachen Interpretation in der einen der Freiheit der andern im Träumen nichts nachgibt? (...) Daß all unser sogenanntes Bewußtsein ein mehr oder weniger phantastischer Kommentar über einen ungewußten, vielleicht unwißbaren, aber gefühlten Text ist?" (aus Aph.119, Hervorhebung von mir).
Man darf sich in Hinblick auf diese Aspekte nicht wundern, daß der für die Psychoanalyse wichtige Begriff "Es" ursprünglich von Nietzsche stammt. Freud schreibt 1923: "Der Ausdruck selbst wurde von Georg Groddeck (...), einem deutschen Arzt übernommen, der (...) selbst wohl dem Beispiel Nietzsches gefolgt (ist), bei dem dieser Ausdruck für das Unpersönliche und sozusagen Naturnotwendige in unserem Wesen durchaus gebräuchlich ist." (Ges.W.XIII, 251, Fußnote 2).
Aus diesem Zitat Freuds geht auch hervor, daß er das Werk Nietzsches äußerst gut gekannt haben muß. Ich denke, es ist in Hinblick auf die Ergebnisse dieser Arbeit durchaus legitim, Nietzsche als geistigen Vorvater Sigmund Freuds zu bezeichnen.
In der späten Schrift Antichrist erreicht Nietzsches Paulus-Kritik ihren absoluten Höhepunkt; doch schon in der Morgenröte sind manche Ansichten Nietzsches über Paulus ausgebildet: und zwar v.a. in den Aphorismen 68 und 94. Für Nietzsche beginnt die Geschichte des Christentums erst mit Paulus ("Dies ist der erste Christ, der Erfinder der Christlichkeit! Bis dahin gab es nur einige jüdische Sektierer", Aph.68); Paulus, ursprünglich ein "wütender Eiferer des Gesetzes" (Aph.68), des jüdischen Gesetzes wohlgemerkt, war nach Nietzsche von tiefem Haß gegen eben dieses erfüllt, als er innerlich die faktische Unerfüllbarkeit des Gesetzes erfühlte; in Christus fand Paulus eine Möglichkeit, dieses Gesetz abzuwerfen, zu vernichten. So stellte er (von einem epileptischen Anfall inspiriert) Christus als Sohn Gottes dar, der für die Sünde des Menschen dem verstimmten Gott geopfert wurde, damit die Erlösung der Menschen ermöglichte und ferner das bisherige Gesetz erfüllte - also dessen Gültigkeit beendete. Den Kampf Pauli für Christus interpretiert Nietzsche in erster Linie als Kampf gegen das jüdische Gesetz.
Man erkennt, wie ausgesprochen unausgereift und argumentativ schwach die später viel weiterentwickelte Paulus-Kritik Nietzsches sich in der Morgenröte darstellt - es soll in dieser Arbeit aber betont werden, daß die Grundfrage zu diesem Thema in dieser frühen Schrift schon gestellt ist.
Nietzsches endgültige Ansicht über Luther sollte sich ebenfalls erst im Antichrist vollständig herausbilden. Die ersten zaghaften Bemerkungen über ihn in der Morgenröte würdigen ihn noch als weitgehend positive Gestalt - im Antichrist sollte Luther zum Verräter und Zerstörer der Renaissance mutieren. Nietzsche vertritt im Antichist die Ansicht, daß die edle und hervorragende Gesinnung der Antike durch das Christentum weitgehend zerstört und beendet worden ist. Die Renaissance versuchte nun nach Nietzsche, diese edlen und hervorragenden Triebkräfte zu reaktivieren und die Sklavenmoral des Christentums durch eine der Antike nachgebildete Herrenmoral zu ersetzen; dies wäre auch gelungen, hätte nicht der von bäuerischer und provinzieller Dummheit geschlagene Geist Luther dem Christentum einen Ausweg aus dem geistigen Vernichtungskampf geliefert, indem er die schon damalige Unglaubwürdigkeit des Christentums zu einem Versagen der Katholischen Kirche erklärte und damit das Volk wieder unter das Joch des Christentums, freilich eines abgeschwächten Christentums, führte (Antichrist 61).
In der Morgenröte aber - ich halte diesen Umstand für bemerkenswert - wird zwar ebenfalls der bäuerische Geist Luthers betont (Aph.88) und seine aufdringliche Moral kritisiert (Aph.82), Nietzsche glaubt aber in Aph.88 auch zu erkennen, daß Luthers Thesen durch ihre Kritik an der bisherigen christlichen vita contemplativa den Weg zu einer unchristlichen vita contemplativa ermöglicht hätten - Luther ist also in der Morgenröte noch nicht Zerstörer der Renaissance, sondern Wegbereiter der Überwindung des Christentums - welch starker Wandel in Nietzsches Interpretation!
Nietzsche war der Inbegriff des einsamen Denkers; er verbrachte große Teile seines Lebens, v.a. seines Lebens als Philosoph in völliger Einsamkeit, was einerseits mit den zahllosen Krankheiten zusammenhängt, die ihn zeitlebens plagten und sozial isolierten, andererseits mit Nietzsches neuartigen Gedanken und philosophischen Theorien, die ihn innerlich von seiner Umgebung und, wenn er die Gedanken offen aussprach, seine Umgebung von ihm entfremdeten.
Nietzsche nimmt in fast jedem seiner Bücher zur Einsamkeit Stellung - notgedrungen, denn sie ist ein Bestandteil seines Lebens, der zur Verarbeitung drängt. Dabei ist sein Bild von der Einsamkeit bivalent. Einerseits preist er sie als inspirierend, heilsam und für den Denker notwendig; davon zeugen z.B. folgende zwei Zitate aus Also sprach Zarathustra:
Aus dem Kapitel "Von den Fliegen des Marktes":
"Fliehe mein Freund, fliehe in die Einsamkeit! Ich sehe dich zerstochen vom Lärme der großen Männer und zerstochen von den Stacheln der kleinen.
Würdig wissen Wald und Felsen mit dir zu schweigen. Gleiche wieder dem Baume, den du liebst, dem breitästigen: still und aufhorchend hängt er über dem Meer. (...)
Ermüdet sehe ich dich durch giftige Fliegen, blutig geritzt sehe ich dich an hundert Stellen; und dein Stolz will nicht einmal zürnen. (...)
Deine Nächsten werden immer giftige Fliegen sein; das, was groß an dir ist - das selber muß sie giftiger machen und immer fliegenhafter.
Fliehe mein Freund, in deine Einsamkeit und dorthin, wo eine rauhe, starke Luft weht. Nicht ist es dein Los, Fliegenwedel zu sein. - Also sprach Zarathustra."
Aus dem Kapitel "Die Heimkehr":
"O Einsamkeit! Du meine Heimat Einsamkeit! Zu lange lebte ich wild in wilder Fremde, als daß ich nicht mit Tränen zu dir heimkehrte!"
In solchen und ähnlichen Stellen seines Werkes lobt er die Einsamkeit; andererseits findet man immer wieder Briefe an seine wenigen Freunde, in denen er über seine Einsamkeit klagt (vgl. Friedrich Würzbach: Nietzsche in Selbstzeugnissen, Briefen und Dokumenten. Berlin 1942; vgl. auch Nachwort zu KTA 73).
Wie steht Nietzsche zur Einsamkeit nun in der Morgenröte?
In Aphorismus 485 stellt Nietzsche unter dem Titel "Ferne Perspektiven" einen kurzen, fiktiven Dialog dar:
"A: Aber warum diese Einsamkeit? - B: Ich zürne niemandem. Aber allein scheine ich meine Freunde deutlicher und schöner zu sehen als zusammen mit ihnen; und als ich die Musik am meisten liebte und empfand, lebte ich ferne von ihr. Es scheint, ich brauche die fernen Perspektiven, um gut von den Dingen zu denken."
Die Einsamkeit steigert also nicht nur das Wohlbefinden, sondern auch die klarere Sicht der Dinge. Ähnlich ist die Aussage des ebenfalls in Dialogform konzipierten Aphorismus 491, betitelt mit "Auch deshalb Einsamkeit!".
"A: So willst du wieder in deine Wüste zurück? - B: Ich bin nicht schnell, ich muß auf mich warten - es wird spät, bis jedesmal das Wasser aus dem Brunnen meines Selbst ans Licht kommt, und oft muß ich länger Durst leiden, als ich Geduld habe. Deshalb gehe ich in die Einsamkeit - um nicht aus den Zisternen für jedermann zu trinken. Unter vielen lebe ich wie viele und denke nicht wie ich; nach einiger Zeit ist es mir dann immer, als wolle man mich aus mir verbannen und mir die Seele rauben - und ich werde böse auf jedermann und fürchte jedermann. Die Wüste tut mir dann not, um wieder gut zu werden."
Im Aphorismus 440 lobt er ebenfalls die Einsamkeit des Denkers, wenn er schreibt:
"Dies (Anm.die unfruchtbare Einsamkeit der Nonne, P.H.) hat nichts gemein mit der Einsamkeit der vita contemplativa des Denkers: wenn er sie wählt, will er keineswegs entsagen; vielmehr wäre es ihm Entsagung, Schwermut, Untergang seiner selbst, in der vita practica ausharren zu müssen: auf diese verzichtet er, weil er sie kennt, weil er sich kennt. So springt er in sein Wasser, so gewinnt er seine Heiterkeit."
Die Einsamkeit ist für den Denker also keine Entsagung, sondern sein Lebenselement, das ihn heiter stimmt. Wie anders klingt da Aphorismus 443, der sich nicht so glatt in diese positive Darstellung einfügen lassen will:
"Zur Erziehung. - Allmählich ist mir das Licht über den allgemeinsten Mangel unserer Art Bildung und Erziehung aufgegangen: niemand lernt, niemand strebt danach, niemand lehrt - die Einsamkeit ertragen."
Wie? Die Einsamkeit ertragen? Ich dachte, sie sei eine Heiterkeit, tut not, "um wieder gut zu werden". Auch in der Morgenröte taucht also, wenngleich versteckt, auch eine negative Seite der Einsamkeit auf.
Ich führe Nietzsches bivalentes Bild der Einsamkeit, das ihn sie einmal als herrlich preisen und bald darauf als kaum erträglich verfluchen läßt, nicht auf eine Inkonsequenz Nietzsches zurück. Vielmehr erscheint die Einsamkeit nicht nur Nietzsche bivalent, sondern die Einsamkeit ist bivalent in ihrem tiefsten Wesen - sie ist beides zur selben Zeit: heilsame Medizin und kaum zu ertragender Schrecken. Doch die Einsamkeit scheint, betrachtet man das Leben der großen Philosophen, zumindest für ihr Schaffen nötig: Cartesius zog sich bei der Niederschrift seiner Meditationen jahrelang in die Einsamkeit zurück; Epikur lebte zurückgezogen in seinem Garten; Marquis de Sade stilisierte seine abgeschiedene Umgebung zum "Schloß Silliny" hoch, in dem der Weise unabhängig von den Vorurteilen der Welt sein Innerstes auszuleben imstande ist; ...und Nietzsche hatte eben seinen in Also sprach Zarathustra gerühmten "einsamen Gipfel". Daß man auf einem hohen Gipfel aber auch "rauhe Luft" ertragen muß und dies äußerst hart ist, scheint verständlich. Daß Nietzsche seine bivalente Haltung zur Einsamkeit bewußt gepflogen hat, geht meiner Ansicht auch aus dem Zarathustra-Kapitel "Vom Wege des Schaffenden" hervor.
Es besteht kein Zweifel, daß Nietzsche sein eigenes Leben ganz der Erkenntnis weihte; einer heroischen Form der Erkenntnis, keiner "Bildungsphilisterei". Dieser Form der Erkenntnis, der er letztlich, wie Thomas Mann in seinem Essay Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung meint, nicht gewachsen war, fiel er selbst zum Opfer: Mit einem tragischen Lebensschicksal hatte er sein Genie gleichsam abzubüßen ("Man büßt es teuer, unsterblich zu sein: man stirbt dafür mehrere Male bei Lebzeiten" KTA 77, 377).
Nietzsche betont selbst in Aph.45 der Morgenröte, daß die Erkenntnis der Wahrheit als einziges ungeheures Ziel, fast könnte man meinen, moralisches Ziel übrig geblieben sei, für das man noch Opfer bringen könnte. Auch lobt er z.B. in Aphorismus 146 das unbedingte Streben nach Erkenntnis, das auch jedes Mitleid und jede Rücksichtnahme auf sentimale Gefühle verbietet. Auch das Streben nach Wahrheit, die nicht Trost spendet, hält er in Aphorismus 424 für ehrenwert: Wahrheit ist für Nietzsche kein Trostmittel. Welch innere Erfahrung spricht aus dem Philosophen, der sich nur unter schwersten inneren Kämpfen zu seinen oft schmerzvollen Ansichten durchgerungen hat!
Die Erkenntnis ist für Nietzsche zu einer Leidenschaft geworden, einer unglücklichen, nie erfüllbaren Liebe gleich, an der man letztlich zugrunde geht - aber in Größe (vgl. Aph.429)! Das Streben nach Erkenntnis würde sich wohl eignen, neue moralische Ziele zu begründen.
Nietzsche sah die zunehmende Entfernung vom antiken Ideal "bellum et otium", vor allem von letzterem, mit tiefer Besorgnis, ja mit leidenschaftlicher Ablehnung. Die moderne Auffassung der Arbeit, die ständigen Fleiß und unermüdliches Sichverausgaben verlangt, würde vielmehr alle großen Gedanken zermürben und unmöglich machen.
Von dieser Auffassung zeugt etwa der Aphorismus 173, hier ausschnittsweise zitiert, betitelt "Die Lobredner der Arbeit":
"Bei der Verherrlichung der 'Arbeit', bei dem unermüdlichen Reden vom 'Segen der Arbeit' sehe ich denselben Hintergedanken, wie bei dem Lobe der gemeinnützigen unpersönlichen Handlungen: den der Furcht vor allem Individuellen. Im Grunde fühlt man jetzt, beim Anblick der Arbeit - man meint immer dabei jene harte Arbeitsamkeit von früh bis spät - daß eine solche Arbeit die beste Polizei ist, daß sie jeden im Zaume hält und die Entwicklung der Vernunft, der Begehrlichkeit, des Unabhängigkeitsgelüstes kräftig zu hindern versteht. Denn sie verbraucht außerordentlich viel Nervenkraft und entzieht dieselbe dem Nachdenken, Grübeln, Träumen, Sorgen, Lieben, Hassen, sie stellt ein kleines Ziel immer vor's Auge und gewährt leichte und regelmäßige Befriedigungen."
In diesem gedanklichen Zusammenhang steht auch der Aphorismus 178, der mit dem Titel "Die Täglich-Abgenützten" versehen ist:
"Diesen jungen Männern fehlt es weder an Charakter, noch an Begabung, noch an Fleiße: aber man hat ihnen nie Zeit gelassen, sich selber eine Richtung zu geben, vielmehr sie von Kindesbeinen an gewöhnt, eine Richtung zu empfangen. Damals, als sie reif genug waren, um "in die Wüste geschickt zu werden", tat man etwas anderes - man benutzte sie, man entwendete sie sich selber, man erzog sie zu dem täglichen Abgenutztwerden, man machte ihnen eine Pflichtenlehre daraus - und jetzt können sie es nicht mehr entbehren und wollen es nicht anders. Nur darf man diesen armen Zugtieren ihre 'Ferien' nicht versagen - wie man es nennt, dies Muße-Ideal eines überarbeiteten Jahrhunderts: wo man einmal nach Herzenslust faulenzen und blödsinnig und kindisch sein darf."
Diese Textstelle öffnet auch die Augen über das neue Ideal, welches besagt, daß Studenten nicht nur etwas "Brauchbares" studieren sollen (also nicht Philosophie - denn wer "braucht" schon das Denken?), sondern das "brauchbare" Studium auch möglichst schnell in der kürzesten Zeit absolvieren müssen - sonst könnte man noch über das Gelernte nachdenken!
In diesem Zusammenhang sei auch Nietzsches Meinung über die immer häufiger werdenden Krämerseelen angeführt; so schreibt er in Aphorismus 186 unter dem Titel "Geschäftsleute":
"Euer Geschäft - das ist euer größtes Vorurteil, es bindet euch an euren Ort, an eure Gesellschaft, an eure Neigungen. Im Geschäft fleißig - aber im Geiste faul, mit eurer Dürftigkeit zufrieden und die Schürze der Pflicht über diese Zufriedenheit gehängt: so lebt ihr, so wollt ihr eure Kinder!"
Und in Aphorismus 206 ruft Nietzsche aus: "Pfui! sich aufreden zu lassen, durch eine Steigerung dieser Unpersönlichkeit (Anm. der Arbeit, P.H.), innerhalb des maschinenhaften Getriebes einer neuen Gesellschaft, könne die Schande der Sklaverei zur Tugend gemacht werden! Pfui! einen Preis zu haben, für den man nicht mehr Person bleibt, sondern Schraube wird!"
Nietzsche ist, wie aus den angeführten Zitaten hervorgeht, der Ansicht, daß die moderne Auffassung von Arbeit eine falsche ist: in der modernen Zeit wird von jedem eine tägliche Abnützung im Beruf verlangt - so werden heute die unliebsamen Gedanken abgetötet und die Menschen verdummt und geknechtet!
Ich habe diesen Punkt unter die genauer erläuterten Themen aufgenommen, weil ich der Ansicht bin, daß Nietzsches Ausführungen gerade in der heutigen Zeit aktueller denn je sind und wahrlich jedem zu denken geben sollten. Es gibt eine Form des Fleißes, die dem einzelnen (vor allem seinem Denken) schädlich ist; unter dem Klima der allgemeinen Betriebsamkeit wird der Philosoph zu einer gefährdeten Spezies!
Es sollte uns zu denken geben, daß Jahrhunderte der Zensur in Zwangssystemen die Philosophie nicht zu zerstören vermochten, die sogenannte "freie" Wirtschaft der sogenannten "freien" Gesellschaft aber dermaßen viel an Geist geraubt hat, daß die öffentliche Meinung mittlerweile am Gipfelpunkt der Perversion angelangt ist, die Philosophie - und damit das Denken - generell als überflüssig zu empfinden und dem Stand des Philosophen eine neue unmoralische Bedeutung angedeihen zu lassen. Diese neue unmoralische Bedeutung ist, man höre und staune: Die sogenannte Faulheit. Früher lehnte man vielleicht die Philosophie ab, weil sie zu kritisch war oder gegen die herkömmliche Moral oder die Obrigkeit sich auflehnte. Heute lehnt man sie ab, weil sie zuviel Zeit braucht - Zeit, die man doch verwenden könnte, um eilfertig, schwitzend und geknechtet noch ein bißchen mehr Geld verdienen zu können; solange, bis der menschliche Verstand einer, von der ständigen, aufreibenden Arbeit bis aufs Letzte ausgequetschten Zitrone gleicht!
Die moderne Welt, welche die Menschen unter dem Deckmantel von Demokratie und vor allem freier Wirtschaft zum willenlosen Sklaven macht und den geknechteten Objekten noch mit dem Gefühl ihrer angeblichen Eigenständigkeit, Freiheit und Unabhängigkeit schmeichelt, scheint das zu vollbringen, was die Monarchen, Diktatoren und Despoten der Vergangenheit allesamt nicht vermochten: Den menschlichen Geist zu brechen, das Denken der Bürger völlig zu beherrschen und die Philosophie als Tummelplatz der freien Geister in ihrer Bedeutung weitgehend zu schmälern, wenn nicht langfristig zu vernichten! Die Ironie unserer Zeit, über die spätere Generationen einstmals lachen werden: Die Despoten siegen über die Freidenker durch die Waffe der freien Gesellschaft.
Gedanken Nietzsches zum modernen Phänomen Arbeit tauchen aber auch in anderen Werken auf - nicht bloß in der Morgenröte, sondern z.B. in der Fröhlichen Wissenschaft. Hier sei noch Aphorismus 329 gekürzt angeführt, der unter dem Titel "Muße und Müßiggang" steht:
"Es ist eine indianerhafte, dem Indianerblute eigentümliche Wildheit in der Art, wie die Amerikaner nach Gold trachten: und ihre atemlose Hast der Arbeit - das eigentliche Laster der neuen Welt - beginnt bereits durch Ansteckung das alte Europa wild zu machen und eine ganz wunderliche Geistlosigkeit darüberzubreiten. Man schämt sich jetzt schon der Ruhe; das lange Nachsinnen macht beinahe Gewissensbisse. Man denkt mit der Uhr in der Hand, wie man zu Mittag ißt, das Auge auf das Börsenblatt gerichtet, - man lebt wie einer, der fortwährend etwas 'versäumen könnte'. 'Lieber irgendetwas tun als nichts' - auch dieser Grundsatz ist eine Schnur, um aller Bildung und allem höheren Geschmack des Garaus zu machen. Und so wie sichtlich wie alle Formen an dieser Hast der Arbeitenden zugrunde gehen: so geht auch das Gefühl für die Form selber, das Ohr und Auge für die Melodie der Bewegungen, zugrunde. Der Beweis dafür liegt in der jetzt überall geforderten plumpen Deutlichkeit, in allen den Lagen, wo der Mensch einmal redlich mit Menschen sein will, im Verkehre mit Freunden, Frauen, Verwandten, Kindern, Lehrern, Schülern, Führern und Fürsten, - man hat keine Zeit und keine Kraft mehr für die Zeremonie, für die Verbindlichkeit mit Umwegen, für allen Esprit der Unterhaltung und überhaupt für alles otium. Denn das Leben auf der Jagd nach Gewinn zwingt fortwährend dazu, seinen Geist bis zur Erschöpfung auszugeben, in beständigem Sichverstellen oder überlisten oder Zuvorkommen: die eigentliche Tugend ist jetzt, etwas in weniger Zeit tun als ein anderer. Und so gibt es nur selten Stunden der erlaubten Redlichkeit: in diesen aber ist man müde und möchte sich nicht nur mehr 'gehen lassen', sondern lang und breit und plump sich hinstrecken. Gemäß diesem Hange schreibt man jetzt seine Briefe; deren Stil und Geist immer das eigentliche 'Zeichen der Zeit' sein werden. Gibt es noch ein Vergnügen an Gesellschaft und an Künsten, so ist es ein Vergnügen, wie es müde gearbeitete Sklaven sich zurecht machen. (...) Die Arbeit bekommt immer mehr alles gute Gewissen auf ihre Seite. (...) - Nun! Ehedem war es umgekehrt: Die Arbeit hatte das schlechte Gewissen auf sich. Ein Mensch von guter Abkunft verbarg seine Arbeit, wenn die Not ihn zum Arbeiten zwang. Der Sklave arbeitete unter dem Druck des Gefühls, daß er etwas Verächtliches tue - das "Tun" selber war etwas Verächtliches. "Die Vornehmheit und die Ehre sind allein bei otium und bellum": so klang die Stimme des antiken Vorurteils! "
In Hinblick auf diese Gedanken kann man auch die in unserer Gesellschaft immer stärker werdende "moderne Idee" der sogenannten weiblichen Emanzipation bewerten. Es gibt doch tatsächlich Narren, die der Meinung sind, Frauen könnten durch die Arbeit am Fließband oder die hektische Tätigkeit im Büro zu mehr Freiheit gelangen. Ich bin der Ansicht, daß die Frauen sie dort vergeblich suchen werden. Früher waren es die armen Häftlinge im KZ, die in Ermangelung anderer Hoffnung an den von sadistischen Nazis angebrachten Spruch über den Toren der Arbeits- und Vernichtungslager glauben mußten: "Arbeit macht frei". Heute sind es die bemitleidenswerten Frauen, die doch tatsächlich meinen, in diesem trügerischen Satz gäbe es nur einen Funken Wahrheit, und die dann ihre "Freiheit" und "Selbstverwirklichung" in der abnützenden Arbeit suchen!
"Erkenne dich selbst ist die ganze Wissenschaft - Erst am Ende der Erkenntnis aller Dinge wird der Mensch sich selber erkannt haben. Denn die Dinge sind nur die Grenzen des Menschen."
Der oben zitierte Aphorismus 48 faßt Nietzsches Bild der Wissenschaft vorzüglich zusammen; dem "Erkenne dich selbst" näher zu kommen, ist das Ziel all seinen Schriften, ganz besonders das der Morgenröte. Diese Schrift ist ein Anfang, so wie der Morgen ein Anfang ist: Ich möchte behaupten, daß zwar schon die vor der Morgenröte verfaßten Werke wichtige Vorarbeiten zu Nietzsches Lebenswerk darstellen, die Morgenröte aber das eigentliche philosophische Erwachen Nietzsches ist.
Der Wert der vorliegenden Arbeit liegt neben der Intention, Nietzsches Argumentationsstrukturen darzulegen, darin, daß sie demonstriert und ersichtlich macht, daß die wesentlichen Aussagen späterer Schriften Nietzsches in der Morgenröte vorbereitet werden. Die späteren Schriften Nietzsches sind in diesem Werk enthalten wie die voll ausgereifte Frucht bereits im Keime enthalten ist. Wesentliche Grundfragen sind schon gestellt, wesentliche Ansichten Nietzsches herausgebildet, z.B. was Theorien zur Genealogie der Moral, die Kritik des Christentums und gewisse psychologische Erkenntnisse betrifft. Wenngleich, wie am Beispiel der Luther-Interpretation ersichtlich, Nietzsche noch einige Variationen seiner Philosophie unternimmt, ist die Richtung, in welche er von nun an abzielt, bestimmt.
Nietzsche meint in seinem Rückblick in Ecce homo über die Morgenröte:
"Daß man von dem Buch Abschied nimmt mit einer scheuen Vorsicht vor allem, was bisher unter dem Namen Moral zu Ehren und selbst zur Anbetung gekommen ist, steht nicht im Widerspruch damit, daß im ganzen Buch kein negatives Wort vorkommt, kein Angriff, keine Bosheit. - daß es vielmehr in der Sonne liegt, rund, glücklich, einem Seegetier gleich, das zwischen Felsen sich sonnt."
Wer, der das Werk gelesen hat, könnte hier nicht zustimmen? Die Morgenröte ist erfüllt von einem ungeheuren Reichtum an Gesichtspunkten; es ist ein wertvolles und angenehmes Buch, voller Ruhe und Heiterkeit. Gleichzeitig ist es der sanfte Anfang einer großen, befreienden Aufklärung, die Nietzsche mit seiner epochemachenden Philosophie verfolgte.
Patrick Horvath : Das Apollinische und das Dionysische in der jüngsten Politik Europas. Ausgezeichnet mit dem Preis des KALEIDOSKOP-Programmes der Europäischen Union, überreicht am 9.Mai 1996 an der Aristoteles-Universität Thessaloniki (Griechenland).
Patrick Horvath : Über die Beziehung zwischen Geistesstörung und Kreativität. Fachbereichsarbeit aus Philosophie und Psychologie (1.BRG Linz, Fadingerstraße), Linz 1995.
Thomas Mann : Freud und die Zukunft. In: Sigmund Freud: Abriß der Psychoanalyse / Das Unbehagen in der Kultur. Frankfurt, 24,1974..
Thomas Mann : Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrungen. In: Also sprach Zarathustra. o.O., 1976.
Friedrich Nietzsche : Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile. Stuttgart, 7, 1991.
Friedrich Nietzsche : Die Fröhliche Wissenschaft. Stuttgart, 7, 1986.
Friedrich Nietzsche : Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Köln 1994.
Peter Schuster, Marianne Springer-Kremser: Bausteine der Psychoanalyse. Wien, 3, 1994.
Georg Weber, Alfred Baldamus : Geschichte des Mittelalters. Essen o.J.
Werner Horvath: Friedrich Nietzsche, Zeichnung im Stil des neuen bildenden Konstruktivismus
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