Giovanni Battista Vicos
De nostri temporis studiorum ratione
(Über die Vernunft der Studien unserer Zeit)
unter besonderer Berücksichtigung der dort geäußerten Gedanken zu
Rhetorik, Ästhetik und Philosophie
Patrick Horvath, Mat.-Nr.9502353, Studienkennzahl 296/300, Lehrveranstaltung "Rhetorik, Ästhetik, Philosophie" bei Herrn Dr.Roß, Sommersemester 1999
I. Einleitung
Giovanni Battista Vicos Schrift "De nostri temporis studiorum ratione" gehört - trotz ihres umständlichen Titels - zu den besten Werken des besagten Philosophen. Vittorio Hösle, einer der ausgewiesensten Vico-Kenner der Gegenwart, nennt das Buch "ein kleines Juwel". Es handelt sich dabei um die überarbeitete Form einer feierlichen Eröffnungsrede, die Vico 1708 (anläßlich des Beginns des neuen Studienjahres) an der Universität Neapel hielt, an der er das Amt eines Professors der Rhetorik innehatte.
Diese Schrift, die ein Jahr später erstmals erschien, war Giovanni Battista Vicos erste wissenschaftliche Publikation. Sie ist in mehrfacher Hinsicht bedeutsam:
Einerseits für die Entwicklung des Philosophen Vico, denn viele Gedanken, die später in seinem Hauptwerk "Scienza Nuova" näher ausgeführt sind, enthält die Schrift schon im Keim.
Des weiteren liegt die Wichtigkeit von "De ratione..." darin, daß sie viele Gedanken enthält, die, so meine ich, heute noch zum großen Teil Gültigkeit besitzen.
Und nicht zuletzt ist sie eine wahre Fundgrube für jeden, der sich mit Rhetorik befaßt und von einem berühmten Denker einiges über ihr Wesen erfahren möchte. Vico sieht die Rhetorik aber nicht isoliert, sondern stellt sie in einen großen Zusammenhang mit allgemeinen philosophischen Überlegungen (z.B. zu Bildung, Wissenschaft, Recht, Geschichte etc.) und Gedanken zur Ästhetik, einer Disziplin, die sich in der beginnenden Neuzeit vor allem auch aufgrund einer starken Auseinandersetzung mit der Antike grundlegend zu wandeln begann. Von dieser Neubesinnung legt Vicos Schrift ein eindrucksvolles Zeugnis ab. Entsprechend wenig Sinn würde es machen, nur einzelne Aussagen Vicos zu betrachten, vielmehr muß inder vorliegenden Darstellung der Gesamtzusammenhang innerhalb Vicos philosophischem System herausgearbeitet werden.
In der damaligen Gebildetenwelt wurde Vicos "De ratione..." in gewissem engen Rahmen rezipiert. So reagierte z.B. der damals bedeutende niederländische Rechtsgelehrte Henrik Brenkman beeindruckt über Vicos Ausführungen. Trotz solcher Lichtblicke blieb Vicos Gesamtwerk allerdings von den Zeitgenossen weitgehend unbeachtet. Erst viele Jahrzehnte nach Vicos Tod löste es in der gebildeten Welt eine wahre geistige Revolution aus. Heute beansprucht "De ratione...", neben den anderen Werken Vicos, einen festen Platz in der Philosophiegeschichte.
II. Grundfrage der Schrift
Im ersten Kapitel seiner Schrift stellt Vico die Verschiedenartigkeit der Wissenschaften und des Studierens der Antike und seiner Zeit fest, die man später als anbrechende Neuzeit bezeichnen sollte. Die Grundfrage seiner Schrift lautet:
"Welche Art der Studien ist richtiger und besser, die unsere oder die der Alten?"
Bald wird deutlich, daß es ihm nicht um eine einseitige Verurteilung einer der beiden Arten geht, sondern daß er die Vorteile und Nachteile von beidem aufzuspüren gedenkt. Vico ist ein Bewunderer der Verdienste der neuzeitlichen Naturwissenschaft, aber auch ein unerbittlicher Kritiker ihrer Schwächen. Ziel seiner Ausführungen ist es, das neuzeitliche Wissenschaftsverständnis zu verbessern und zu ergänzen, ohne seine offensichtlichen Leistungen schmälern oder gar zerstören zu wollen. Aber auch die antike Art der Studien ist nicht von Fehlern frei; er unterzieht auch sie einer heftigen Kritik, um ihre Stärken umso besser herauszuarbeiten und für die neue Zeit fruchtbar zu machen. Entsprechend meint Vico auch im letzten Kapitel seiner Schrift, der Alternativtitel seiner Schrift hätte lauten können:
"Die Versöhnung der modernen und antiken Studienart"
III. Die Errungenschaften der modernen Naturwissenschaft
Nichts wäre verfehlter, als Vico als Feind der modernen Formal- und Naturwissenschaften und ihrer Methoden zu sehen. Das ganze zweite Kapitel von "De ratione..." widmet Vico vielmehr den Errungenschaften dieser Wissenszweige, für die er hohes Lob findet. Diese Erkenntnisse hätten dazu geführt, daß wir die Alten in zahllosen Bereichen weit übertreffen. Was er später kritisiert, ist aber eine ausschließliche Wertschätzung dieses Bereichs.
In gewisser Weise könnte man sagen, daß Vico in einer von Formal- und Naturwissenschaft dominierten Zeit versuchte, die Kulturwissenschaft gegen diese Übermacht zu behaupten und ihr ein methodisches Fundament zu geben. Er will letztlich bewirken, daß wir eines Tages die Antike auch auf Gebieten wie der Wissenschaft von der Politik, der Philosophie und der Rhetorik genauso übertreffen würden, wie es auf dem Gebiet der Naturwissenschaft zu seiner Zeit bereits der Fall war. Es geht ihm also nicht darum, Naturwissenschaft abzuwerten, sondern darum, Kulturwissenschaft aufzuwerten und zu ähnlicher Bedeutung und Größe zu führen. Dazu muß aber ihre Eigenständigkeit und ihre Relevanz betont werden.
Für wie bedeutsam Vico die formal- und naturwissenschaftlichen Errungenschaften jedoch hält, davon zeugen folgende Wendungen:
"Auch die Alten verwandten Geometrie und Mechanik als Grundlagen der Physik, allein nicht dauernd; wir dagegen dauernd, und zwar beide in verbesserter Form.
(...)
Und die Chemie, von der die Alten gar nichts wußten, welche Dienste leistet sie der Medizin, die nach der Analogie chemischer Erscheinungen zahlreiche Vorgänge und Krankheiten des menschlichen Körpers nicht etwa vermutungsweise erschließt, sondern mit eigenen Augen sieht.
(...)
Die Anatomie, die schon durch Entdeckung des Blutkreislaufes, des Ursprungs der Nerven, ferner unzähliger Säfte, Gefäße und Kanäle des menschlichen Körpers der antiken überlegen war, bringt nun vollends mit Hilfe des Mikroskops die Beschaffenheit der Drüsen und der kleinsten Eingeweideteile, der Pflanzen, des Seidenwurms und der Insekten, und namentlich, im Dienste der genauesten Erforschung der Fortpflanzung, die des befruchteten Eies ans Licht, was alles den Augen der Alten unzugänglich war.
Die Astronomie beobachtet mit Hilfe des Fernrohres neue Sterne, zahlreiche und zwar wechselnde Sonnenflecken und die Stellung der Planeten, Entdeckungen, die mehrere Fehler des Ptolemäischen Weltbildes an den Tag brachten.
Daß jenseits des Ozeans andere Länder liegen, ahnten die Alten noch mit der Ungewißheit des Prophetentums; wir haben sie mit Hilfe des Kompasses entdeckt, und die Geographie hat eine ungeahnte Bereicherung erfahren.
(...)
Die Mechanik, gefördert durch Geometrie und Physik in der Form, wie sie heute gelehrt werden, scheint die menschliche Gesellschaft mit zahlreichen großen und erstaunlichen Erfindungen bereichert zu haben. Jedenfalls darf man sagen, daß aus ihnen die Kriegskunst unseres Zeitalters hervorgegangen ist, die die antike so weit hinter sich gelassen hat, daß angesichts unserer Technik, Städte zu befestigen und einzunehmen, Minerva ihre Burg in Athen verachten und Jupiter seinen dreizackigen Blitz stumpf und träge schelten würde."
Doch diese unzweifelhaften Erfolge dürfen nach Vico unsere Augen nicht verschließen vor einer reinen Ausrichtung des Bildungswesens auf Formal- und Naturwissenschaften.
IV. Das Wahrscheinliche
Die neuzeitliche Wissenschaft, so kritisiert Vico, scheidet sehr streng zwischen Wahren und Falschen. Alles muß streng logisch oder empirisch beweisbar sein, ansonsten wird es als fehlerhaft eingestuft. Alles, was nicht streng beweisbar ist oder bloß den Anschein des Falschen erweckt, wird verworfen. Vico meint aber, daß es noch eine Mittelstufe zwischen Wahrem und Falschem gibt, das Wahrscheinliche. Es ist insofern eine Mittelstufe, weil es doch meistens, aber eben nicht immer wahr ist. Junge Menschen, meint Vico nun, sollten einen Allgemeinsinn ausbilden, den er sensus communis nennt. Vico definiert nur ungenau und mangelhaft, was er darunter versteht - am ehesten wohl etwas, das man heute als "gesunden Menschenverstand" bezeichnen würde. Der sensus communis hat aber, meint Vico, viel mit der Fähigkeit zu tun, Wahrscheinlichkeiten abzuschätzen. Dies ist für das praktische Leben von ungeheurer Bedeutung.
Aber auch für die Redekunst ist der Allgemeinsinn und die Abschätzung von Wahrscheinlichkeiten von großer Wichtigkeit.
"Zudem ist der natürliche Allgemeinsinn die Norm aller praktischen Klugheit und damit auch der Beredsamkeit. Denn die Redner haben oft mehr Mühe mit einem wahren Sachverhalt, der nichts Wahrscheinliches hat, als mit einem falschen, der einen glaubwürdigen Eindruck macht. Es ist daher zu fürchten, daß unsere kritische Schulung die jungen Leute zur Redekunst weniger geschickt machen könnte."
V. Gedächtnis und Phantasie
Zudem vertritt Vico die Auffassung, daß die Beschäftigung mit zu abstrakten Lehrinhalten der Entwicklung des Menschen nicht angemessen ist. Vielmehr blüht gerade in den Jünglingsjahren die Phantasie und das Gedächtnis. Ziel sei es daher, nach dem Vorbild der Antike, gerade in diesem Alter beide Kapazitäten auch optimal auszunützen. Die Beschäftigung mit abstrakten Inhalten sollte später, bei größerer Reife erfolgen. Vico faßt so den eigentlich modernen pädagogischen Gedanken, daß der Kindern und Jugendlichen gelehrte Inhalt an ihre Entwicklungsstufe angepaßt sein muß. Eine andere Vorgangsweise könnte nach Vico dazu führen, daß Phantasie und Gedächtnis - für Vico hängt beides eng zusammen - erstickt wird.
Beides ist nicht zuletzt wichtig für die Redekunst. Er bezeichnet sie ausdrücklich neben Dichtkunst, Malerei und Jurisprudenz als eine der Künste, "die ihre Kraft aus der Phantasie, dem Gedächtnis oder beidem zusammen schöpfen."
In dieser Hinsicht ist Vico auch einer Meinung mit Cicero, der in seiner Schrift "De oratore" das gute Gedächtnis als eine Grundvoraussetzung des begabten Redners sieht.
VI. Die Topik
Vico äußert auch folgende Kritik am neuzeitlichen Umgang mit Wissenschaft:
"Ferner hält man heute die kritischen Wissenschaften hoch. Die Topik wird nicht nur nicht vorangeschickt, sondern ganz und gar vernachlässigt."
Vico definiert weiters die Topik als Kunst der "reichhaltigen Rede". Es ist die Lehre, "das Medium aufzufinden", wobei Medium die Bezeichnung der Scholastiker für das sei, "was die Lateiner mit Argumentum bezeichnen".
Die Topik ist also die Lehre von der Auffindung des Arguments, und zwar des möglichst wirkungsvollen, überzeugenden.
"...unsere Redekunst hat es durchaus mit Zuhörern zu tun; in Hinblick auf ihre Meinung müssen wir unsere Rede einrichten, und die Natur will es, daß oft Leute, die sich von den mächtigsten Gründen nicht bewegen lassen, durch irgendein geringfügiges Argument von ihrem Standpunkt abgebracht werden. Daher muß der Redner, um die Gewißheit zu haben, daß er alle seine Zuhörer gepackt hat, alle Punkte, wo Argumente liegen, durchlaufen haben. Mit Unrecht tadelt man Cicero, daß er viel Unbedeutendes gesagt; denn mit eben diesem Unbedeutenden war er König auf dem Forum, im Senat, vor allem in der Volksversammlung, und wurde zu dem Redner, der wie kein anderer der Würde des Römischen Reichs entsprach."
Die Vernachlässigung der Topik, die in der Antike hochgeschätzt wurde, ist nach Vico ein weiterer Mangel des modernen Bildungssystems.
Es geht bei einer Rede nicht ausschließlich um Wahrheit, sondern vor allem um Wirkung. Eine alle wissenschaftlichen Beweise für eine Sache enthaltende Rede, die aber niemanden bewegt und mitreißt, ist mangelhaft.
VII. Beweis oder Metapher?
Der untrügliche Beweis in den Formal- und Naturwissenschaften ist der Kettenschluß. Man geht von einer bewiesenen Sache aus und leitet daraus streng logisch eine andere ab und so fort. Diese Vorgehensweise nannte man damals die "geometrische Methode". Sie war das Methodenideal der frühen Neuzeit und spielt auch bei Descartes oder Spinoza eine überragende Rolle.
Es gibt aber ein starkes Argument gegen die Methode der Kettenschlüsse in der Rhetorik: Es macht eine an ein Publikum gerichtete Rede tödlich langweilig. Um den Zuhörer zu überzeugen, ist es besser, statt der Beweise Analogien zu verwenden. Dazu dient die Metapher.
"Bei scharfgeschliffenen Aussagen aber steht im Vordergrunde die Metapher, der herrlichste Schmuck und die glänzendste Zier jeder kunstvollen Rede."
Und weiters meint er:
"Die Redekunst wendet sich vornehmlich an die unerfahrene Menge; ungeschulte Menschen aber behalten lange Beweisketten nur schwer im Sinn, zumal wo das Wort davonfliegt unwiderruflich (Horaz) und wenn sie sie auch festhalten könnte, darf man sie mit solcher geistiger Anspannung nicht ermüden. Deshalb muß man zu ihr in jener freien, weitläufigen Art sprechen, wo der Redner bald einen Beweis führt, bald abschweift, bald zum Gegenstand zurückkehrt, das unvollkommen Gesagte verfeinert, das Kurze ausgestaltet, das leichthin Gesprochene gewichtig macht und bei derselben Sache mit immer neuen Redefiguren verweilt, damit der Zuhörer sie sich so tief wie möglich einprägen und so mit nach Hause nehmen kann."
In der Rede muß man also die Metapher dem Beweis vorziehen. Bemerkenswert ist, daß auch Cicero in "De oratore" rät, in Bildern zu sprechen, weil seiner Meinung nach die Masse in Bildern denkt - eine Meinung, die auch von Sigmund Freud in seiner Schrift "Massenpsycholohie und Ich-Analyse" vertreten wird.
VIII. Natur der Dinge - Natur des Menschen
"Darin aber finde ich einen sehr schweren Mangel unserer Studienart, daß wir dem naturwissenschaftlichen Lehrgebiet mit größtem Eifer obliegen, das moralische aber nicht so wichtig nehmen, und vor allem den Teil, der von der Natur des menschlichen Geistes und seinen Leidenschaften im Hinblick auf das bürgerliche Leben und auf die Rednertätigkeit, von den Merkmalen der Tugenden und Laster, von guten und schlechten Bestrebungen, von den Verschiedenheiten der moralischen Charaktere je nach Alter, Geschlecht, Stellung, Vermögen, Herkunft, Staatswesen, und von der Regel des Geziemenden, die von allen die schwerste ist, handelt; und gar die größte und vorzüglichste Lehre, die vom Staate, liegt bei uns fast ganz brach und unbearbeitet."
Vico zeigt also, wie oben besprochen, daß die Bildung seiner Zeit zu sehr von Formal- und Naturwissenschaft dominiert wurde. Diese ist zwar wichtig, es gibt aber auch andere zentrale Wissensgebiete, die für den Einzelnen hilfreich und die Gesamtheit nützlich sind. Vico nennt insbesonders Wissenschaften, die man heute als Psychologie, Ethik und Politikwissenschaft bezeichnen würde. Im Gegensatz zur Antike sieht er zu seiner Zeit eine nicht ausreichende Beschäftigung mit diesen Fächern.
Vico unterscheidet im Kap.VII zwischen der "Natur der Dinge" (natura rerum) und der "Natur der Menschen" (natura hominum). Die Naturwissenschaften würden sich um ersteres bemühen und zeigen, wie die Naturdinge beschaffen sind. Sie sagen uns aber nichts über den Menschen. Man sollte sich auch mit Wissenschaften beschäftigen, die über den Menschen Auskunft geben. Die moderne Studienordnung sei fehlerhaft.
"Aber diese Studienordnung bringt für die jungen Leute den Nachteil mit sich, daß sie künftig weder die nötige Klugheit im bürgerlichen Leben zeigen, noch eine Rede mit Charakterfarben belegen und mit dem Feuer der Affekte zu erwärmen vermögen."
Auch für die bessere Beherrschung der Rede ist die Kenntnis des Menschen also wichtig. Darin liegt für Vico u.a. auch der Sinn der Humanwissenschaften.
Hier finden wir übrigens eine weitere Paralelle zu Cicero. Denn auch der größte Redner der Antike war der Ansicht, daß die Kenntnis der menschlichen Natur eine wichtige Voraussetzung für den guten Redner ausmacht; nur, wer den Menschen kennt, sein Denken, Fühlen und Verhalten, wird seine Rede dem Publikum angemessen gestalten.
So steht in Ciceros "De oratore":
"Jeder weiß doch, daß die größte Stärke des Redners darin besteht, daß er Zorn, Haß oder Schmerz in den Menschen zu erwecken oder sie von den genannten Gemütsbewegungen zu Milde und Mitleid zurückzuführen vermag. Das aber kann er nur dann genau nach seiner Absicht mit seinen Worten erreichen, wenn er die menschlichen Charaktere, das innerste Wesen der Menschennatur und die Beweggründe, durch welche die Leidenschaften entfacht oder besänftigt werden, gründlich durchschaut hat" - darum soll er sich, meint der antike Rhetoriker, Schriftsteller und Politiker weiter, mit Philosophie beschäftigen.
"Denn eben das ist die ureigenste Sache des Redners, wie ich schon oft gesagt habe: eine eindringliche, formal gut gestaltete Rede, die auf Gefühl und Verstand der Hörer abgestimmt ist."
IX. Die Spezialisierung - Grundfehler der modernen Wissenschaft?
Ein Erfolgsgeheimnis der modernen, neuzeitlichen Wissenschaft liegt in ihrer Spezialisierung. Nicht ein einziger beschäftigt sich mit allen oder vielen Gebieten, vielmehr umgekehrt bearbeiten viele einzelne Spezialgebiete. Durch diese Form der Arbeitsteilung kann eine große Menge Forschungsarbeit bewältigt werden, was ohne Zweifel ein Motor des Fortschritts ist.
Vico kann sich trotzdem mit der Spezialisierung und Zersplitterung der Wissenschaften nicht anfreunden. Durch diese Methode produziert man nämlich Fachidioten ohne Allgemeinbildung und zusammenhanglose Forschungsgebiete, die nichts oder wenig miteinander zu tun haben. Aber war nicht der Verlust des Gesamtplans und das unkontrollierte Wuchern der einzelnen Teile der Grund für den Einsturz des babylonischen Turmes? Vico findet sehr harte Worte gegen die neuzeitliche Methode der Spezialisierung, sein Ideal bleibt der Universalgelehrte der Antike.
"Als man nur eine einzige Philosophie pflegte, oder gar einzig auf die vollkommene Natur blickte, da blühten in jeder Art dieser Künste die größten Schriftsteller bei den Griechen, den Römern und den Unseren; nachdem aber die Lehrmethoden bei ihnen allen ausgebildet waren, sind keine Männer von gleicher Berühmtheit aufgetreten (...) Darum möchte ich die Leute, welche Künste und Disziplinen, die eine jede und alle zusammen, im Schoße der Philosophie beschlossen waren, von ihr und untereinander getrennt haben, mit den Tyrannen vergleichen, die eine große, reiche und bevölkerte Feindesstadt, der sie sich bemächtigt haben, um vor ihr sicher zu sein, zerstören, und die Bewohner über weit auseinanderliegende Gaue zerstreuen, damit sie nicht mehr, im Vertrauen auf die Herrlichkeit und den Reichtum ihrer Stadt sowie auf die Zahl der Ihrigen, das Haupt stolz erheben, sich verschwören und einander Hilfe leisten können."
In der Antike gab es keine Zersplitterung des Wissens; und der Grund, warum es keine Universitäten gab, lag nach Vico u.a. darin, "daß ein einziger Philosoph die vollkommenste Universität darstellte".
Die Zersplitterung der Wissenschaften zu überwinden, hält Vico für eine dringliche Aufgabe.
"Damit also dieser Übelstand vermieden würde, wünschte ich, die Universitätslehrer möchten ein einheitliches System aller Disziplinen, mit Rücksichtnahme auf Religion und Staat, aufbauen, das eine allgemeine Konformität der Lehre durchsetzte, und dieses System auf staatlich Anordnung vertreten."
Eine allgemeine Bildung ist nach Vico zudem für den guten Rhetoriker unerläßlich.
"Denn unsere weisen Vorfahren, die Gründer dieser Universität haben ihre Meinung, daß ein Professor der Eloquenz in allen Wissenschaften und Künsten bewandert sein müsse hinreichend zum Ausdruck gebracht...Auch war es nicht unbedacht, wenn der dreimal große Franciscus von Verulam dem König Jakob von England für die Einrichtung einer Universität den Rat gab, die jungen Leute nicht zum Studium der Beredsamkeit zuzulassen, bevor sie nicht den ganzen Wissenschaftskreis durchwandert hätten. Denn was ist die Beredsamkeit anderes als ein Wissen, das schön, gehaltreich und verständlich zu sprechen vermag?"
Hier finden wir wieder eine Parallele zu Cicero, der auch umfassende Bildung als unabdingbare Voraussetzung für den guten Redner hält. So schreibt Cicero in "De oratore":
"Meiner Ansicht nach kann jedenfalls niemand als Redner höchstes Lob verdienen, wenn er nicht Kenntnisse von allem Großen und von allen Künsten und Wissenschaften erlangt hat. Denn eine Rede muß aus der Kenntnis der Materie erwachsen und hervorströmen: Wenn nicht ein sachliches Fundament da ist, das der Redner gründlich beherrscht, so bringt er einen leeren und beinahe kindlichen Wortschwall hervor."
Und weiter: "..., denn eine gute Rede kann nur zustande kommen, wenn der Redner auch versteht, was er sagt."
Schlecht wird eine Rede nach Cicero dann, wenn der Redner schwere Wissenslücken oder -mängel besitzt.
"Eine solche Rede wird, notwendigerweise, wenn ihr die sachliche Grundlage fehlt, weil der Redner seinen Stoff nicht kennt und beherrscht, wirkungslos - oder gar zum Gespött der Leute. Denn was ist so närrisch wie der leere Schall von Worten, und seien sie noch so schön und gewählt, wenn ihnen kein Gedanke und kein Wissen zugrunde liegt?"
X. Zusammenfassung
Vicos Schrift "De nostri temporis studiorum ratione" gehört zu den besten Arbeiten des Philosophen. Nicht nur sind in ihr zahlreiche Gedanken seines Hauptwerks "Szienza nuova" vorweggenommen, auch enthält sie zahlreiche Einsichten über das Wesen der Rhetorik, die Vico nicht isoliert sieht, sondern in den Gesamtkontext grundsätzlicher philosophischer Überlegungen stellt.
Vico vergleicht Wissenschaftsbetrieb und Bildungswesen in Antike und Neuzeit und sucht nach Unterschieden, arbeitet Vorteile und Nachteile beider Wege geistiger Bildung heraus. Dabei entpuppt sich Vico, trotz bewundernder Anerkennung der maßgeblichen Verdienste der modernen Formal- und Naturwissenschaften, als schonungsloser Kritiker einer einseitigen Bildung, die nur auf diese Wissenschaftszweige beschränkt bleibt.
Durch sie sieht er den gesunden Alltagsverstand ebenso gefährdet wie den Sinn für die Abschätzung von Wahrscheinlichkeiten. Die Phantasie und Gedächtnis wird abgetötet durch einen Schwall Mathematik. All diese Eigenschaften sind für Vico aber die Quellen der Redekunst.
Im neuzeitlichen Bildungswesen sieht er aber auch - im Gegensatz zur Antike - die Topik vernachlässigt, die er als Wissenschaft vom Auffinden überzeugender Argumente definiert. Methoden der Mathematik oder Physik, ellenlange Beweisketten zu bilden, hält er für die Rhetorik ungeeignet. In einer guten Rede, meint er, überzeugt weniger der Beweis als die Metapher. Eine gute Rede hat es auch weniger mit bewiesener Wahrheit als mit Wirkung zu tun.
Neben einer Naturwissenschaft, die die Natur der Dinge erforscht, muß es Human- und Kulturwissenschaften geben, die die Natur des Menschen klären. Nur wer menschliches Denken, Fühlen und Handeln versteht, kann ein guter Redner sein.
Die übermäßige Spezialisierung der Wissenschaft, die der Antike unbekannt war, beklagt Vico. Er sieht darin eine bedauerliche Entwicklung, die Fachidiotentum, Zersplitterung und Verlust des Gesamtzusammenhangs der Wissenschaften nach sich zieht. Allgemeinbildung ist für Vico die Grundvoraussetzung für rednerische Leistung.
In dieser Arbeit wurden auch viele Parallelen der Überlegungen Vicos mit Ciceros Schrift "De oratore" angeführt.
XI. Literatur
Vittorio Hösle: Vico und die Idee der Kulturwissenschaft. Genese, Themen und Wirkungsgeschichte der "Szienza nuova". In: Giovanni Battista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker. Hamburg 1990.
Giovanni Battista Vico: De nostri temporis studiorum ratione - Vom Wesen und Weg der geistigen Bildung. Godesberg 1947.
Marcus Tullius Cicero: De oratore - Vom Redner. In: Ders.: Werke in drei Bänden, Bd.2, Berlin und Weimar 1989.
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