Jakob von Uexküll

Von Mückensonnen und Umweltröhren

Patrick Horvath

Werner Horvath: "Umweltröhren", Detail aus dem Gemälde "Apollon"

Jakob von Uexküll

Der eigenwillige, aus baltischem Adel stammende Philosoph und Biologe Jakob von Uexküll ist ohne Zweifel einer der fruchtbarsten Denker des 20.Jahrhunderts. Nicht nur als Mitbegründer der Physiologie erwarb er sich großen Ruhm in den Naturwissenschaften, sondern vor allem als Vorläufer des Konstruktivismus in der Wissenschaftstheorie. Im folgenden sollen vor allem die Erkenntnisse von Uexkülls Hauptwerk "Theoretische Biologie" (1928) dargelegt werden, im Anschluß daran will ich ihre Bedeutung für die Philosophie und den Konstruktivismus im speziellen herausarbeiten.

Der Titel erklärt sich aus der von Uexküll intendierten Forderung nach einer Neukonzeption der Biologie; die damals vorherrschende Biologie beschränkte sich fast ausschließlich auf die Beschreibung verschiedenster Strukturen in lebenden Organismen oder die Erforschung der chemischen, physikalischen und mechanischen Prozesse in den Lebewesen. Uexküll meint, daß einer solchen Biologie die theoretische Grundlage fehlt. So benötigt man zur übersichtlichen Anordnung des Materials und seiner Beschreibung wohl besondere Methoden, allerdings keine besondere theoretische Konzeption; betrachtet man das Lebewesen als eine bloße Maschine und untersucht man ihre Funktion, reichen die Kenntnisse anderer Wissenschaften (Physik, Chemie etc.) völlig aus (1).

Uexküll schwebt aber eine andere, damals neue und heute teilweise verwirklichte Art der Biologie vor: Im Mittelpunkt dieser soll Uexkülls gleich zu Beginn genannter Grundsatz "Alle Wirklichkeit ist subjektive Erscheinung" stehen (2). Dieser Satz darf allerdings nicht im Sinne eines Solipsismus verstanden werden, denn obwohl sich Uexküll manchmal hart an der Grenze eines solchen bewegt, distanziert er sich doch von ihm.

Vielmehr bezieht sich der Grundsatz auf Uexkülls im weiteren Verlauf der "Theoretischen Biologie" dargelegte Erkenntnis, daß man der Natur nicht durch die traditionelle biologische Forschung gerecht werden kann, sondern nur unter Berücksichtigung des Subjekts des Menschen und des Tieres. Dieser Standpunkt wird aus dem Hintergrund verständlich, von dem aus Uexküll arbeitet. Anknüpfend an Immanuel Kant, dessen Ansichten er ins Biologische überträgt, geht er davon aus, daß die Gegenstände "Erscheinungen sind, die ihren Aufbau einem Subjekt verdanken" (3).

Aufgrund der Erkenntnisse Kants, meint Uexküll, müsse die Biologie vorrangig zwei Aufgaben erfüllen. Zunächst müsse die Rolle erforscht werden, die den Sinnesorganen und dem Zentralnervensystem bei der Konstruktion der "Wirklichkeit" zukommt. Danach müsse die Beziehung der Tiere zu den Gegenständen untersucht werden (4). Was Uexküll interessiert, ist also in erster Linie die subjektive Wirklichkeit von Mensch und Tier. Er will also z.B. untersuchen, wie die Raum- oder Zeitempfindung des Menschen zustandekommt oder auf welche Weise etwa eine Biene die Welt erlebt.

Das erste der acht Kapitel der "Theoretischen Biologie" ist daher mit "Der Raum" betitelt. In ihm bemüht sich Uexküll, der als Honorarprofessor der Biologie auf der Höhe des Wissens seiner Zeit in dieser Disziplin stand, die biologischen und psychologischen Voraussetzungen der Raumwahrnehmung zu untersuchen. Seine Thesen sind empirisch fundiert und auch heute noch im Großen und Ganzen gültig - sieht man von einigen Details ab, die für den weiteren Verlauf der "Theoretischen Biologie" aber nicht von Bedeutung sind.

So meint Uexküll, in Anknüpfung an seine (biologische) Kantinterpretation, richtig: "Der Raum verdankt sein Dasein der inneren Organisation des Subjektes Mensch, welche die Sinnesqualitäten in räumliche Form kleidet." (5)

Er stellt fest, daß vor allem zwei Sinne spezifisch raumbildend wirken: Der Tast- und der Gesichtssinn (6). In Anknüpfung an den bekannten Psychologen Weber leitet er raumbildende Qualitäten aus dem Tastsinn ab; er nennt sie Lokalzeichen. Der Begriff ist zunächst verwirrend; er soll bedeuten, daß neben biologischen Strukturen, die uns etwa Druck, Wärme etc. empfinden lassen, auch solche bestehen, die durch Signale die räumliche Position eines uns berührenden Gegenstandes anzeigen. Uexkülls Annahme, diese Lokalzeichen werden durch einen eigenen Nervenapparat aufgenommen, ist zwar nicht der letzte Stand der neurobiologischen Forschung, sein Verdienst ist aber, als einer der ersten den "biologischen" Aufbau des Raumes erkannt zu haben.

Seine Darlegungen über das räumliche Sehen sind im Prinzip durch die moderne Forschung bestätigt: Die Netzhaut eines Auges, die aus zahlreichen Sehelementen (Stäbchen und Zapfen) besteht, liefert uns eigentlich nur ein zweidimensionales Bild der Welt. Durch den Vorgang der Akkomodation wird diese "Sehfläche" aber nach vorne und hinten verschoben; dies ist möglich durch einen Muskelring, in den die Linse des Auges eingebettet ist und den Brechungsgrad der Linse verändert (7). Die moderne Forschung würde noch andere biologisch bedingte Faktoren hinzufügen, die das Tiefensehen ermöglichen, so etwa die Querdisparation, die ein Zusammenfügen der zwei leicht zueinander versetzten Bilder durch das Gehirn darstellt, die unsere beiden Augen liefern, ferner die Ausnützung des Konvergenzwinkels. Dieser entsteht, weil die Sehlinien der Augen leicht zueinander gewandt sind. Je weiter entfernt ein Gegenstand nun ist, umso kleiner ist dieser Winkel, d.h. umso weniger sind die Augen zueinander gedreht; diesen Umstand nützt das Gehirn, um Tiefeninformationen zu gewinnen. Die modernen Erkenntnisse bestätigen also das Vorhandensein angeborener Faktoren, die die Raumwahrnehmung ermöglichen; sie erweitern Uexkülls Ausführungen (vgl.8).

Uexküll erkennt aber, daß die Raumwahrnehmung auch von der Erfahrung abhängig ist - damals eine bahnbrechende Feststellung, heute Standardwissen des Psychologen, Biologen und Mediziners. Uexküll meint, durch die durch Erfahrung erworbenen Qualitäten des räumlichen Sehens erkennen wir Erfahrungszeichen, die uns Hinweise auf die Räumlichkeit geben. Diese sogenannten "Erfahrungszeichen" sind weitgehend ident mit den in der heutigen Psychologie bekannten "sekundären Tiefencues"; dies sind Erscheinungen, anhand derer man durch Erfahrung Entfernungen abschätzen kann.

Uexküll erläutert sie so:

"Daß die Entfernungszeichen, die in Schatten, Überschneidungen und im Abschätzen der Größe uns bekannter Gegenstände bestehen, von Kindern noch nicht richtig gewertet werden, geht aus einer Erzählung von Helmholtz hervor, der berichtet, er sei als kleiner Junge mit seiner Mutter an einem Turm vorbeigegangen, an dem Arbeiter beschäftigt waren, und habe seine Mutter gebeten, einen der kleinen Männerchen herabzulangen.

Ich habe an mir selbst die Erfahrung gemacht, daß die Kenntnis der Entfernungszeichen eine erworbene ist. Als ich nach einem schweren Typhus zum ersten Mal ausging, hing das Bild der Straße, wie ein buntbemalter Teller in ca. 20 m Entfernung vor mir. Ein Wagen, der an mir vorbeifuhr und in die bunte Fläche geriet, entfernte sich nicht weiter, sondern wurde bloß kleiner. Sehr bald hatte ich die richtige Einschätzung wieder erlangt. Aber ich habe doch den Eindruck mitgenommen, wie es in einer so kleinen Welt zugeht." (9)

Die heutige kognitive Psychologie bestätigt die Existenz erworbener Fähigkeiten der räumlichen Wahrnehmung. Auch die von Uexküll angegebenen Anhaltspunkte dieser (Schatten, Überschneidungen, Abschätzen der Größe) sind korrekt (8).

Weiters führt Uexküll im Laufe seines Werkes andere Qualitäten der Raumempfindung an - er nennt sie Richtungszeichen.

Diese Qualität entsteht durch ein "Anklingen", also eine Aktivierung eng beieinander liegender Lokalzeichen hintereinander. Dies soll bedeuten, daß wenn wir z.B. mit dem Finger an unserem Oberarm entlangfahren, nacheinander einzelne Orte der Haut gereizt werden. Ein "Lokalzeichen" wird ausgesandt, bevor es "abklingt" wird ein nächstes wiederum aktiviert. Durch diese Konstellation der Reizung einzelner Orte entsteht in uns eine neue Qualität, die Richtungsempfindung (10).

Weiters beschäftigt ihn die Wahrnehmung einer Bewegung. Diese wird durch denselben Vorgang ermöglicht. Blicken wir z.B. auf eine Krähe, die von einem Baum zu einem anderen fliegt, sehen wir ihre Bewegung, weil auf der Netzhaut nacheinander, mit hoher Geschwindigkeit, nahe beieinanderliegende Rezeptoren hintereinander aktiviert werden; wir sehen also viele, leicht versetzte Einzelbilder, die von unserem Gehirn als Bewegung interpretiert werden. Diese "Bewegung" ist also von uns konstruiert! Die biologischen Strukturen nehmen nur einzelne Orte wahr, an denen die Krähe sich zu einem gewissen Zeitpunkt befindet. Ferner werden die auf der Netzhaut aktivierten Orte gedanklich "hinausverlegt"; d.h. in Wahrheit werden Rezeptoren im Auge gereizt, wir "projezieren" die Reizung aber "nach außen" und schaffen so erneut eine Wirklichkeit. Uexküll stellt ferner fest, daß auf der Netzhaut die Abbildung spiegelverkehrt erfolgt: Die Krähe fliegt vom Baum von links nach rechts, auf unserer Netzhaut in die umgekehrte Richtung. Blicken wir ferner der Krähe nach, bewegt sich der Kopf mit der fliegenden Krähe, bleibt sie immer im Mittelpunkt unserer Netzhaut stehen; trotzdem nehmen wir eine Bewegung wahr (11). Uexküll demonstriert auf diese Art, daß die wahrgenommene Welt einer weiteren Bearbeitung durch das Gehirn unterworfen sein muß, also Konstruktionscharakter besitzt.

So kommt Uexküll zum Ergebnis, daß wir den "Raum" in verschiedensten unterschiedlichen Qualitäten empfinden; zum einen erleben wir den "Tastraum", wir können also Berührungen lokalisieren, zum anderen den "Sehraum", den wir mit den Augen wahrnehmen, aber auch den "Greifraum", dies ist die Raumwahrnehnmung, die entsteht, wenn wir, Sinnes- und Tasteindrücke vernachlässigend, mit den Armen um uns greifen - die Empfindung des Greifraumes entsteht durch die Bewegung der Arme. Auch diesen untersucht er, indem er ihn in seine kleinsten Bausteine zerlegt. Folgendes experimentelles Design führt ihn dazu: Streckt man seinen Arm und vollführt man mit einem feinen Tuschhaarpinsel an einer senkrechten Fläche die kleinstmögliche Armbewegung, so kommt man auf die kleinste Strecke, das biologische Atom des Greifraumes. Diese kleinste Strecke, die man mit ausgestrecktem Arm vollführt, ist etwa 2 cm groß (12). Ich habe das Experiment selbst nachvollzogen und bin auf ähnliche Ergebnisse gekommen. Es ist bei dem Design zu beachten, daß der Pinsel nicht zu früh abgesetzt wird, die Augen geschlossen bleiben und der Arm voll ausgestreckt ist. Der relativ große Baustein des Greifraumes hängt mit dem Muskeltonus zusammen.

Uexküll ist ferner der Meinung, daß wir ein subjektives, nicht bloß gedachtes, sondern vor allem fühlbares Koordinatensystem in den Raum legen. Er spricht im übertragenden Sinn von einer Tönung, die er durch Introspektion feststellt. Wird man etwa von hinten berührt, wird die ausgelöste Empfindung nach Uexkülls Meinung von einer entsprechend "getönten" Qualität begleitet. Dies dient der besseren Lokalisation des Reizes. Doch nicht nur im Tastraum, auch im Seh- und Greifraum sei diese Tönung vorhanden (13). Dieser Ansatz scheint einer weiteren Beschäftigung wert; ein subjektiv "fühlbares" Koordinatensystem, das wir in den Raum "hineinkonstruieren" scheint mir zumindest plausibel, obwohl gegen die auch von Uexküll angewandte Introspektion wissenschaftstheoretische Probleme Einwände bestehen (vgl.8). Experten halten Uexkülls Werk trotzdem für empirisch fundiert (14).

In Hinblick auf seine Erkenntnisse des menschlichen Raumes untersucht Uexküll die Räume der Tiere; Tiere leben ebenfalls in konstruierten Räumen. Im vollen Bewußtsein, daß er das wohl qualitativ verschiedene subjektive Empfinden der verschiedensten Lebewesen nicht nachfühlen kann, nähert er sich trotzdem an die Raumempfindung des Tieres an, indem er versucht, die Anzahl der vom jeweiligen Tier wahrnehmbaren Orte, also in erster Linie die Zahl der Rezeptoren auf der Netzhaut, und ferner ihren Sehwinkel festzustellen, unter dem verschiedene Tiere die Welt betrachten. In der Erforschung solcher "Sehwelten" sieht Uexküll eine Hauptaufgabe des Biologen (15).

Uexküll betont im Anschluß an seine biologische Analyse des Raumes erneut, daß es keinen absoluten Raum gibt (hier folgt er Kant). Die Wahrnehmung des Raumes ist nach Uexküll auf unsere Sinnesorgane und die mit ihnen korrespondierenden kognitiven Prozesse zurückzuführen. Die Wahrnehmung des Raumes hat den Zweck, den empfundenen Inhalten, etwa den Farben, die Qualität des Ortes in Hinblick auf eine bessere Orientierung zuzuzordnen. Unsere Raumempfindung - und es gibt nur subjektive Räume - ist und bleibt aber ein Konstrukt (16).

Das zweite Kapitel, betitelt mit "Die Zeit" beginnt mit folgenden Worten:

"Ebenso sicher wie es keinen absolut objektiven Raum gibt, ebenso sicher gibt es keine absolut objektive Zeit; weil sowohl Raum wie Zeit nur Formen unserer menschlichen Anschauung sind" (17).

Uexküll betritt mit dieser Feststellung quasi doppelt gesicherten Boden. Erneut folgt er natürlich Kant, der diese Feststellung bereits in der "Kritik der reinen Vernunft" gemacht hat. Uexküll hat - dies geht aus noch zu behandelnden späteren Kapiteln hervor - aber auch Einstein rezipiert (18); Kant und Einstein destruierten bekanntlich den Gedanken der unabhängig vom Beobachter fortschreitenden Weltzeit (siehe entsprechende Kapitel dieses Buches). Uexküll fügt den philosophischen und den physikalischen Argumenten für diese Feststellung noch die biologischen hinzu (Dabei knüpft er an die Thesen von K.E. von Baer an).

Uexküll führt für den von uns empfundenen Augenblick den Begriff Momentzeichen ein - ähnlich wie das Lokalzeichen eine subjektive Qualität der Zeit. Diese Momentzeichen schreiten nicht gleichmäßig voran: "...die Länge der Momentzeichenreihe schätzen wir mit größerer oder geringerer Genauigkeit. Sobald wir aber auf einen sich wiederholenden Ton in der Außenwelt achten, steigert sich die Genauigkeit in hohem Maße. Wir schätzen dann die Anzahl der zwischen den betonten Momentzeichen liegenden unbetonten Momentzeichen, die sogenannten Intervalle, mit unfehlbarer Sicherheit gegeneinander ab." (19)

Demnach unterscheidet Uexküll durchaus zwischen subjektiver und objektiver Zeit (20). Die "objektive Zeit" ist aber nur ein gleichmäßig auftretendes Phänomen, das von unserer Tätigkeit unabhängig ist. Regelmäßig und objektiv meint durchaus auch intersubjektiv nachprüfbar und meßbar - dies heißt aber nicht "absolut wahr". Schon Einsteins Thesen beweisen die Relativität des Standpunktes selbst der Meßgeräte; auch sie unterliegen der Zeitdilatation; sie liefern auch kein Abbild der "wahren" Zeit. Trotzdem sind Meßgeräte wichtige Hilfsmittel eben aufgrund der größeren Regelmäßigkeit, die die Momentzeichen aufweisen und der praktischen Koordination von Handlungen aufgrund ihres intersubjektiven Charakters.

Uexküll nennt die angeborene Fähigkeit des Taktschlages als Grundlage für das Zählen. Der Taktschlag geht auf den kreativen Umgang mit Momentzeichen zurück - letzlich also auf ein subjektives Empfinden, welches von biologischen Strukturen generiert wird. Die "Zahl" ist nach Uexküll ein Kunstprodukt; sie ist für ihn die bloße Bezeichnung eines Taktes - also unseres Umganges mit den subjektiv erlebten Momenten. Er schreibt: "Ursprünglich wird die Zahl wohl dadurch entstanden sein, daß man mit der taktschlagenden Hand Striche nebeneinander in den Sand ritzte. So entsteht auch heute noch die Zahl für jeden Schüler, wenn er in der ersten Rechenstunde Striche auf die Tafel schreibt. Hierdurch gelingt es, ein Bindeglied zwischen Zeitgrößen und Raumgrößen zu schaffen, und dieses Bindeglied nennen wir Zahl" (21). Insoferne vergleicht Uexküll das Wesen der Musik mit dem Wesen der Mathematik und leitet beide letztlich aus biologischen Strukturen ab. In der Mathematik wie in der Musik werden Gruppen zusammengefaßt (die Addition ist, wie Uexküll hervorhebt, in demselben Maße an die Gruppenzusammenfassung gebunden wie der Taktschlag) (22).

Die Uexküllsche Zahlentheorie ist ein interessanter Beitrag zur Philosophie der Mathematik, liefert sie doch eine biologische Erklärung zur Zahlenentstehung. Ein wesentlicher Kritikpunkt der Uexküllschen Ansicht ist aber die völlige Vernachlässigung historischer und kultureller Aspekte der Mathematik, die etwa der Philosoph und Geschichtsmorphologe Oswald Spengler, der in Halle auch Mathematik studierte, in seinem Hauptwerk anschaulich darlegt.

So meint Spengler:

"Ich wähle als Beispiel für die Art, wie eine Seele sich im Bilde ihrer Umwelt zu verwirklichen sucht, inwiefern also gewordene Kultur Ausdruck und Abbild einer Idee menschlichen Daseins ist, die Zahl, die aller Mathematik als schlechthin gegebenes Element zugrunde liegt. Und zwar deshalb, weil die Mathematik, in ihrer ganzen Tiefe den wenigsten erreichbar, einen einzigartigen Rang unter allen Schöpfungen des Geistes behauptet. Sie ist eine Wissenschaft strengsten Stils wie die Logik, aber umfassender und weit gehaltvoller; sie ist eine echte Kunst neben der Plastik und Musik, was die Notwendigkeit einer leitenden Inspiration und die großen Konventionen der Form in ihrer Entwicklung angeht; sie ist endlich eine Metaphysik von höchstem Range, wie Plato und vor allem Leibniz beweisen (...) Die Zahl ist das Symbol der kausalen Notwendigkeit. Sie enthält wie der Gottesbegriff den letzten Sinn der Welt als Natur. Deshalb darf man das Dasein von Zahlen ein Mysterium nennen und das religiöse Denken aller Kulturen hat sich nie diesem Eindruck entzogen (...) Der Ursprung der Zahlen gleicht dem Ursprung des Mythos (...) Es ist der Stil einer Seele, der in einer Zahlenwelt, aber nicht in ihrer wissenschaftlichen Fassung allein zum Ausdruck kommt (...) Daraus folgt eine entscheidende Tatsache, die den Mathematikern selbst bisher verborgen geblieben ist. Eine Zahl an sich gibt es nicht und kann es nicht geben. Es gibt mehrere Zahlenwelten, weil es mehrere Kulturen gibt." (23)

Diese Tatsache ist auch Uexküll verborgen geblieben. Spenglers Verdienst ist der Beweis, daß je nach Kultur, unterschiedliche Zahlenbegriffe herrschen. Uexküll geht von einem, allen Kulturen gleichen Zahlenbegriff aus, der in seiner Ursache auf eine Gruppierung der Momentzeichen zurückzuführen ist. Trotz dieses Mangels ist es nun Uexkülls Verdienst, daß er versucht, der Zahl, die ja zweifelsohne Konstruktionscharakter besitzt, durch die Erforschung desselben näher zu kommen.

Uexküll wendet sich bald von diesem hochinteressanten Einzelaspekt ab und knüpft an die früheren Aspekte an; vor allem an die von Einstein und Kant bewiesene relativ und subjektiv erlebte Zeit und an Baers Thesen von den subjektiv erlebten Momenten.

So verdeutlicht er die biologische Konsequenz dieser Aspekte mit mehreren faszinierenden Gedankenspielen:

"So kann das Leben zweier Menschen, die am gleichen Tag geboren wurden und am gleichen Tag sterben, sehr verschieden an Reichtum der Erlebnisse und Dauer sein, selbst wenn die beiden Menschen identische Schicksale haben. Gesetzt den Fall: A durchlebe, während der Sekundenpendel hin- und hergeht, 10 Momente, B dagegen 20, so wird das Leben von B doppelt so lange währen und doppelt so reich sein wie das Leben von A." (24)

Wenn man also doppelt so viele sujektive Momente erleben könnte wie ein anderer, wäre auch das Leben doppelt so lang und reich. Dies kann bedeuten, daß eine Eintagsfliege genauso "lang" lebt wie wir Menschen, weil sie (möglicherweise) viel mehr subjektive Momente in einer Sekunde empfindet.

Uexküll stellt weiters fest, daß Bewegungen nur in einem gewissen Rahmen als solche wahrgenommen werden. Rast eine Kanonenkugel an mir vorbei, so ist sie zu schnell für meine Augen, daher sehe ich ihre Bewegung nicht. Betrachte ich umgekehrt den Stundenzeiger einer Uhr, so kann ich auch seine Bewegung nicht sehen - ich kann sie erschließen, weil er seinen Ort mit der Zeit verändert, aber nicht direkt wahrnehmen. Zu schnelle oder zu langsame Objekte werden nicht als bewegt wahrgenommen. Wo liegt nun die Grenze (nach Weber: die Schwellen) des "zu schnell" oder "zu langsam" bei jedem einzelnen Lebewesen? (25)

Uexküll antwortet in seiner Theoretischen Biologie, daß die Grenze des "zu schnell" mit der Dauer der Momentzeichen, also der subjektiv erlebten Momenten variiert. Dies ist der Fall, weil eine Bewegung für uns zu schnell ist, wenn der ganze Weg in einem Moment zurückgelegt wird. Dies soll an einem Beispiel illustriert werden: Der kürzest erlebte Moment beim Menschen - er kann durch psychophysische Methoden festgestellt werden - beträgt zwischen einer zehntel und einer achtzehntel Sekunde; die Messungen schwanken. Der Mensch erlebt also zwischen 10 und 18 Momenten in einer Sekunde; rast ein Objekt z.B. in einer hundetrstel Sekunde an uns vorbei, erleben wir seine Bewegung nicht, denn bevor ein Moment überhaut "vorbei" ist, ist die Bewegung schon erfolgt. Die Grenze des "zu schnell" liegt beim Menschen eben bei einer zehntel bis achtzehntel Sekunde (pro kleinsten, wahrnehmbaren Ort). Die Grenze des "zu langsam" variiert sowohl mit den Moment- als auch mit den Lokalzeichen. Ersteres wird sofort klar: Je mehr Momentzeichen ich erlebe, umso langsamer werden die von mir wahrgenommenen Bewegungen. Betrachtet man nämlich ein Pendel, dessen Schlag eine Sekunde lang ist, mit mehr Momentzeichen, bewegt er sich entsprechend langsamer. Die Grenze des "zu langsam" verändert sich nun folgendermaßen: Eine Bewegung wird nicht mehr wahrnehmbar, wenn ein Objekt länger an einem (kleinsten wahrnehmbaren) Ort verweilt als einen Moment. Nehmen wir an, eine Schnecke bewegt sich von einem (von mir) kleinsten wahrnehmbaren Ort zum nächsten in einer halben Sekunde, so verweilt sie an diesem Ort länger als mein Moment; ich erlebe daher ihre Bewegung nicht. Nehmen wir aber an, mein Momentzeichen betrüge eine halbe Sekunde, könnte ich ihre Bewegung sehen. Je weniger Momentzeichen, umso langsamere Bewegungen kann man daher wahrnehmen; umso schneller werden auch die Bewegungen. Die Ortszeichen haben aber natürlich auch einen Einfluß auf die Grenze des "zu langsam": Oben hieß es, daß der kleinste wahrnehmbare Ort, das Lokalzeichen also, die Bewegungswahrnehmung prägt. Und tatsächlich: wären wir in der Lage, mehr Orte wahrzunehmen, würde sich die Geschwindigkeit der Objekte vergrößern, auch würden wir langsamere Bewegungen wahrnehmen. Man betrachte eine "zu langsame" Bewegung mit der Lupe; plötzlich wird sie wahrnehmbar (natürlich ist dies eine Vorstellungshilfe, die nur ein beschränktes Bild unserer Lage vermittelt, mehr Rezeptoren auf der Netzhaut zu besitzen, dazu später). Zusammenfassend kann man also sagen: Je mehr Lokalzeichen, umso schneller die Bewegungen, umso niedriger die Schwelle des "zu langsam"; nach Uexküll bleibt die Schwelle des "zu schnell" unbeeinflußt von Lz, denn: "Was für 8 Orte zu schnell war, ist auch für 4 Orte zu schnell, wenn sie in einem Moment durchmessen wurden". Je mehr Momentzeichen, umso langsamer die Bewegungen, umso niedriger die Schwelle des "zu schnell", umso höher die Schwelle des "zu langsam". Je weniger Momentzeichen, umso höher die Schwelle des "zu schnell", umso niedriger die Schwelle des "zu langsam".

Diese Betrachtungen sind unbedingt notwendig, um die Momente des Tieres zu erforschen. Jedes Tier erlebt natürlich andere, subjektive Momente; beim Menschen kann man diese leicht feststellen, denn man kann ihn beim psychophysischen Experiment befragen. Das Tier kann man nicht fragen, ob es ein Lämpchen gerade noch leuchten sieht. Uexküll verfährt, um das Momentzeichen des Tieres festzustellen, folgendermaßen: Er bestimmt die Grenze des "zu langsam" bei der Bewegung durch die Reaktion eines Tieres im Experiment. Er bestimmt die Lokalzeichen, indem er die Rezeptoren zählt. Aus diesen Daten schließt er in Hinblick auf die zuvor getätigten Überlegungen und das von ihm berechnete Verhältnis von Ort zu Moment auf den subjektiv erlebten Moment (26).

"Das feste Verhältnis von Ort zu Moment gibt uns die Möglichkeit , bei Tieren, deren Ortskonstante wir kennen und deren Grenzen des Sichtbaren wir experimentell feststellen (indem wir ihre Bewegungsreflexe studieren), die Momente zu berechnen. Solche Experimente sind noch nie systematisch in Angriff genommen worden, doch will ich an einem Beispiel zeigen, wie man vorzugehen hat. Die Pilgermuschel besitzt, unter der Voraussetzung, daß jedes Auge einem Ort entspricht, eine Ortskonstante von 100 Orten, während das menschliche Auge eine Ortskonstante von 21600 Orten besitzt. Das menschliche Auge müßte daher viel langsamere Bewegungen wahrnehmen als die Pilgermuschel, wenn diese den gleichen Moment besäße wie der Mensch. Nun habe ich aber feststellen können, daß die Grenze nach dem Zulangsam bei der Pilgermuschel nicht erheblich von der unsrigen abweicht. Daraus läßt sich schließen, daß der Moment der Pilgermuschel ebenfalls 216mal länger ist als der des Menschen, d.h. etwa 12-13 Sekunden betragen muß."(26).

Zum ersten Mal in der Wissenschaftsgeschichte wurde der Moment der Pilgermuschel untersucht. Obwohl die prinzipielle Vorgangsweise und die theoretische Ausgangsbasis fundiert ist, muß Kritik geübt werden: So setzt Uexküll ein zu großes Vertrauen in die Bewegungsreflexe der Pilgermuschel, die er ja studiert, um die Schwelle des "zu langsam" zu bestimmen. Die Pilgermuschel ist ja sicherlich nicht das reaktionsfreudigste Tier der Welt; was, wenn die Pilgermuschel eine Bewegung als solche wahrnimmt, aber darauf nicht reagiert? Der Gedanke erscheint mir nicht zu abwegig. Außerdem muß einem Auge der Pilgermuschel ja nicht unbedingt ein Ort entsprechen. Doch Uexküll wollte nur eine prinzipielle Vorgangsweise demonstrieren; seine Überlegungen zum Verhältnis Bewegungsschwelle - Ort - Moment sind völlig richtig. Warum Uexküll gerade die Pilgermuschel als Versuchstier verwendete, ist fraglich. Wahrscheinlich war es als einziges Tier geduldig genug, seine ungewöhnliche Experimente über sich ergehen zu lassen, ohne davonzulaufen.

Um die erlebte Zeit auch in all ihren Dimensionen zu erfassen, führt Uexküll im Anschluß an diese Analyse den Begriff der Wirkzeit ein, im Gegensatz zur bisher besprochenen Merkzeit. Die Merkzeit ist die Zeit, die ich "merke", also erlebe; von ihr war bis jetzt die Rede. Die Wirkzeit ist die Zeit, die meine "Wirkung" nach außen in Anspruch nimmt. Der Moment der Stubenfliege, mit dem sie fremde Bewegungen wahrnimmt, währt nämlich viel länger als das Intervall, das die Kontraktion ihrer antagonistischen Flügel trennt. Den kürzesten Moment des "Wirkapparates" nennt Uexküll das Nu. Beim Menschen ist das Nu leider noch nie gemessen worden; doch demonstriert Uexküll mit seiner Benennung, daß die Zeit genauso wie der Raum auf verschiedene Arten erlebt wird (27).

Uexküll stellt fest, daß all die vorhin genannten Erkenntnisse für die Biologie wesentlich sind.

"Um die Bedeutung der drei Grundqualitäten des Raumes, der Zeit und der Bewegung voll beweisen zu können, ist es nötig, sie in ihrer Eigenschaft als Weltfaktoren zu betrachten. Solange man Lokal-, Moment- und Richtungszeichen als bloße Qualitäten unseres Gemüts betrachtet, bleiben sie als drei unvergleichbare Größen nebeneinander bestehen. Aber jede dieser elementaren Größen hat ihre Aufgabe in der Welt zu erfüllen, und tritt damit in Wechselbeziehung zu den anderen Größen, die in Zahlen ausdrückbar sind.

Die Aufgabe, die den drei Qualitäten vorgeschrieben ist, ist für alle drei die gleiche. Eine jede von ihnen tritt als kleinstes Gefäß oder als kleinster Rahmen für andere Qualitäten, die erst durch diese Umfassung in die Weltordnung eingefügt werden. Sie selbst verzichten darauf, Inhalt zu sein und der Welt Farbe, Duft und Klang zu verleihen. Dafür ermöglichen sie einen geordneten Aufbau der Welt; man kann sie daher elementare Weltordner nennen. Keiner dieser Weltordner ändert jemals seine Größe oder seine Intensität und gewinnt dadurch die Fähigkeit, die unverrückbaren Marken zu liefern, die der Welt ihre Sicherheit verleihen (...)

Wir werden daher Moment, Ort, und Schritt als die drei Faktoren der Weltordnung bezeichnen, auf die man als die letzten unteilbaren Elemente bei der Rechnung zurückgreifen muß (...) Die drei Weltfaktoren haben, da es keine allgemeine gültige Welt gibt, keine allgemeine Gültigkeit, sondern bleiben auf die Einzelwelt des Subjekts beschränkt und dürfen nicht ohne weiteres von der Welt des einen Subjekts auf die des anderen übertragen werden. Um jedoch eine Verständigung zu erzielen, hat man sich bekanntlich auf gewisse Zeit- und Längenmaße geeinigt, die ein jeder in seiner Welt als sogenannte objektive Maße benutzt." (28).

Das dritte Kapitel trägt den Titel "Die Inhaltsqualitäten", das er mit einer Ausführung der Unterscheidung zwischen dem Weltbild der klassischen Physik und dem der Biologie einleitet. Nach Ansicht der klassischen Physik gibt es in der Welt nach Uexküll:

1. Orte, deren Zahl unendlich ist 2. Bewegungen, deren Ausbreitung unbegrenzt ist 3. Momente, deren Reihe ohne Anfang und Ende ist

In der Biologie, meint Uexküll, die die erlebten Welten von Mensch und Tier behandelt, gibt es aber:

1. Orte, deren Zahl endlich ist 2. Bewegungen, deren Ausbreitung begrenzt ist 3. Momente, deren Reihe sowohl Anfang und Ende besitzt 4. Inhaltsqualitäten, deren Zahl feststeht

"Die Welt der Physiker gilt dem Biologen nur als eine gedachte Welt, der keine Wirklichkeit entspricht, die aber als rechnerisch wertvolles Hilfsmittel einzuschätzen ist." (29)

Diese Analyse bringt die Stellung des Konstruktivismus zur Naturwissenschaft zum Ausdruck. Es wäre eine Illusion zu glauben, daß die Naturwissenschaften uns die Wahrheit von der Welt künden. Sie sind wichtige Hilfsmittel, die uns wie unsere Augen helfen, uns in der Welt zurechtzufinden. Genausowenig wie unsere Augen zeigen die physikalischen Meßgeräte die Welt "wie sie ist". Der Physiker konstruiert eine Apparatur, die - wie unser Auge auch - in einer Verbindung zur "Welt-an-sich" steht. Das heißt, die Welt, die sich außerhalb unserer Sinne befindet, existiert nach konstruktivstischer - und auch nach Uexkülls Auffassung - aber nicht so, wie der klassische Physiker glaubt: als absoluter Raum, mit einer linear fortschreitenden Zeit etc. Das, was unser Auge anzeigt, ist nicht bloß ein ikonenhaftes Abbild der Welt, sondern eine von der Wahrheit völlig unterschiedliche Wirklichkeit, die von unserer biologischen Struktur konstruiert wird. Dasselbe gilt für die physikalischen Meßgeräte: auch ihre Struktur konstruiert eine Wirklichkeit, die in sich völlig anders ist als die Außenwelt; eine Wechselbeziehung zur Außenwelt ist zwar vorhanden, über ihre Natur kann aber genausowenig ausgesagt werden wie über das (Kantsche) Ding-an-sich. An einem Beispiel der modernen physikalischen Forschung wird dies deutlich: Man kann Meßgeräte oder Vorrichtungen bauen, wie etwa ein Prisma, welches das Licht zerlegt. Von dieser Beobachtung inspiriert kann der Physiker nun eine Theorie konstruieren, die dies erklärt, sozusagen ein Modell. So kann der Physiker nun meinen, das Licht sei eine elektromagnetische Welle; diese Theorie ist ein Erklärungsmodell für die Beobachtung. Andere Beobachtungen zeigen nun z.B., daß das Licht von großen Massen abgelenkt wird. Solche Beobachtung legen andere Konstruktionen nahe, nämlich das Modell, daß das Licht aus vielen kleinsten Teilchen besteht. Es kann also festgestellt werden: Die Versuchsanordnungen sind meist von uns konstruiert, reagieren je nach ihrer Art auf die Welt-an-sich. Sie sind Reaktion auf die, nicht bloßes Abbild der Welt-an-sich. Anschließend konstruiert der Physiker ein Modell, mit dem er das Ergebnis der Versuche zu interpretieren sucht. Dieses Modell ist keine Wahrheit, nicht einmal eine Annäherung an diese, sondern Konstruktion, brauchbar vielleicht, nicht aber wahr. Neue Beobachtungen, die nicht in die Theorie "passen", fordern neue Theorien. Oftmals bestehen mehrere Theorien nebeneinander, die miteinander nicht vereinbart werden können - der Dualismus zwischen Welle und Teilchen beschäftigt die Physik seit vielen Jahren. Selbst wenn eine Theorie konstruiert wird, die die zwei Modelle zu einem vereint und zusätzlich noch weitere Beobachtungen zum Licht, die mit diesen zwei Modellen unvereinbar sind (Zwei-Spalten-Experiment) berücksichtigt, bleibt die Theorie Konstruktion, Modell, und es ist denkbar, daß neue Beobachtungen neue Erklärungsmodelle fordern und gängigen widersprechen oder zwei Physiker eine Beobachtung auf zwei verschiedene Arten interpretieren. Analoges gilt für die Sozialwissenschaften (z.B. Soziologie, Politikwissenschaft, Publizistik). Auf den in diesem Absatz unternommenen Exkurs soll später noch eingegangen werden. Um auf Uexküll zurückzukommen, kann man sagen, daß er die vielen, zahllosen Welten der Subjekte untersucht, weil ihn die Konstruktionsmechanismen ihrer Wirklichkeit interessieren. Er sieht dieses für die Biologie wichtige Gebiet zurecht als vernachlässigt an. Die klassische Physik ist für ihn ein wichtiges Hilfsmittel, jedoch mit beschränktem Wahrheitsgehalt. Die moderne, nach-klassische Physik seit Einstein, die die Relativität der physikalischen Weltanschauung in ihren Mittelpunkt setzt, schätzt er außerordentlich hoch.

Für verbohrte Objektivitätsfanatiker seiner Zeit findet Uexküll harte Worte:

"Dem Auge des naiven Menschen ist nur die eigene Erscheinungswelt sichtbar, die, von Raum und Zeit umspannt, voll von klingenden, duftenden, farbigen Dingen ist. Diese naive Weltbetrachtung sucht die wissenschaftliche Forschung von zwei entgegengesetzten Seiten zu beeinflußen. Die physikalische Lehre (Anm. Uexküll meint die klassische Physik, P.H.) will den Naiven überzeugen, daß die von ihm gesehene Welt voll subjektiver Täuschungen ist, und daß die einzig wirkliche Welt viel ärmer ist, da sie nur in einem ungeheuren und ewigen Wirbeltanz der Atome besteht, der rein kausal abläuft. Hingegen versucht die biologische Lehre den Naiven darauf aufmerksam zu machen, daß er viel zu wenig sieht, und daß die wirkliche Welt viel reicher ist, als er ahnt, weil um jedes Lebewesen eine eigene Erscheinungswelt ausgespannt ist, die in den Grundzügen seiner Welt gleicht, aber dennoch so viele Variationen aufweist, daß er sein ganzes Leben dem Studium dieser Welten sich widmen kann, ohne je ein Ende abzusehen (...)
Haben wir nun erst einmal den Anfang gemacht, an wenigen Tieren zu zeigen, welche Umwelt sie wie ein festes, aber unsichtbares Glashaus umschließt, so werden wir bald die Welt um uns mit zahllosen schillernden Welten bevölkern können, die den Reichtum unserer Welt noch tausendfach erhöht. So bietet die Biologie dem Naiven eine unbegrenzte Bereicherung seiner Welt, während der Physiker ihn zum Bettler macht." (30)

Nach diesen wichtigen Betrachtungen wendet er sich dem eigentlichen Thema dieses Kapitels zu, den Inhaltsqualitäten. Sie stehen in einem ähnlichen Verhältnis zu den Lokal- und den Momentzeichen wie die Ziegel zum Gerüst. Wir Menschen konstruieren also Orte, eine Zeit und in diese konstruieren wir einen Inhalt, wir füllen sie auf, wir malen sie sozusagen an. Die wichtigste Inhaltsqualität ist die Farbe. Uexküll entwickelt in seiner "Theoretischen Biologie" ein Farbmodell, daß den in der heutigen Psychologie gängigen sehr ähnlich ist. So besitzen wir eine gewisse determinierte Anzahl von Farbqualitäten. Uexküll stellt in seinem Farbmodell die unterschiedlichen Farbqualitäten Rot, Gelb, Blau und Grün als Eckpunkte eines Quadrats dar. Auf der Linie zwischen Rot und Gelb liegen alle Mischfarben dieser Qualitäten, also alle Orangetöne, das gleiche gilt für die Linie zwischen Blau und Grün, auf der alle blaugrünen Mischfarben zu finden sind. Innerhalb des Quadrats liegen die Farben, die aus mehreren Qualitäten gemischt sind. Über der Grundfläche dieses Quadrats steht eine Doppelpyramide; die Spitze der einen Pyramide ist weiß, die andere schwarz. Im nun entstehenden Farbraum hat jede Farbe einen Platz (Dies gilt natürlich für die subjektiv erlebten Farbqualitäten) (31). Wie ich bereits feststellte, ist ein solches Farbmodell heute noch im wesentlichen gültig.

Ich komme nun zu einer in diesem Kapitel erläuterten Konzeption Uexkülls, die mir als zentral für sein Weltbild und den Konstruktivismus erscheint. Es handelt sich um ein Modell des Universums, das Uexküll das Modell der Umweltröhren nennt. Es veranschaulicht seine Philosophie wesentlich.

So schreibt er:

"Wenn man die Umwelt eines Tieres in einem bestimmten Moment als Kreis darstellt, so kann man jeden darauffolgenden Moment als einen neuen Umweltkreis hinzufügen. Auf diese Weise erhielte man eine Röhre, die der Länge des Lebens des Tieres entspräche. Diese Röhre wird allseitig von Merkmalen gebildet, die man sich entlang und um den Lebensweg des Tieres aufgebaut denken kann. Es gleicht daher der Lebensweg einem an beiden Enden geschlossenen Umweltstunnel. In diesem Umweltstunnel ist die Art der Merkmale, die überhaupt auftreten können, von vornherein festgelegt, so daß man seine Weite und seinen Reichtum als prädestiniert bezeichnen kann. Aber auch die zeitliche Länge des Tunnels hat ein vorgeschriebenes Maß, das nicht überschritten werden kann." (32)

Die Umwelt, also die subjektive Welt des Tieres (und auch des Menschen) als eine Röhre zu versinnbildlichen, erscheint mir faszinierend. So wird gezeigt, daß viele Welten nebeneinander existieren, in denen jeweils viele Wirklichkeiten, viele Farben und Formen und auch Zeiten vorkommen. Wie muß wohl eine Mücke die Welt erleben, oder eine Giraffe oder bloß ein anderer Mensch? Jedes Wesen lebt in seiner "Röhre", sein ganzes Leben bewegt es sich nur durch diese und erlebt auf seine Weise. Man stelle sich einen Kosmos vor, der aus lauter solchen bunten, sich ineinanderschlingenden Röhren besteht, in denen jeweils völlig unterschiedliche Gesetze gelten. Aus meiner Röhre in die Welt außerhalb meiner Sinne zu treten ist mir genausowenig erlaubt, wie die Sonne mit den Augen einer Mücke zu sehen - sie wäre dann nicht meine Sonne, sondern im wahrsten Sinne des Wortes eine Mückensonne - sie würde mir in anderen Farben und Formen leuchten und ich hätte eine andere Vorstellung von ihr als in meiner Röhre. Das Erleben der Pilgermuschel wird mir also genauso ewig unbekannt bleiben wie das der Wildkatze. Das faszinierende an der Uexküllschen Sicht der Welt ist aber auch, daß sie sehr tolerant ist, sowohl Tieren, als auch Menschen gegenüber. Denn unser menschliches Erleben, unsere Sicht der Welt, ist nicht besser als die des Delphins oder des Einsiedlerkrebses - nur anders. Wenn der Biologe versucht, die Welt des Tieres zu erforschen, weiß er, daß er zwar viele Faktoren von außen erschließen kann, letztlich er die Welt aber niemals so erleben kann wie das Tier (33). Er räumt damit dem anderen Lebewesen eine Einzigartigkeit ein, die es wert ist, daß man sich in sie hineinzufühlen versucht. Aus dem Tier wird etwas schützenswertes und faszinierendes, nicht ein minderes, primitives Wesen, dessen Herren wir sind. Überträgt man das Modell der Umweltröhren auf eine Gesellschaftsordnung, so wird auch verschieden fühlenden und denkenden Menschen eine Existenz nebeneinander eingeräumt. Uexkülls biologische Ansicht ist im höchsten Maße pluralistisch und liberal - man sieht, daß nicht jeder Biologismus automatisch intolerant und brutal sein muß; vielmehr kommt es darauf an, mit welcher Grundeinstellung man die biologischen Interaktionen betrachtet.

Literatur:

(1) Jakob von Uexküll: Theoretische Biologie. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1973 (nach der Ausgabe von 1928); S.7 = Einleitung
(2) ebd.; S.9 f. = Einleitung
(3) ebd.; S.8 f. = Einleitung (Zit.gekürzt)
(4) ebd.; S.10 = Einleitung
(5) ebd.; S.12 = Erstes Kapitel
(6) ebd.; S.13 = Erstes Kapitel
(7) ebd.; S.19 = Erstes Kapitel
(8) Philip Zimbardo: Psychologie. Springer Verlag, Berlin u.a. 6.Auflage 1995.
(9) Uexküll a.a.O.; S.21 = Erstes Kapitel
(10) ebd.; S.17 = Erstes Kapitel
(11) ebd.; S.22 bis 27 = Erstes Kapitel
(12) ebd.; S.27 bis 31 = Erstes Kapitel
(13) ebd.; S.17, S.22f., S.31ff. = Erstes Kapitel
(14) Rudolf Bilz: Vorwort zur Taschenbuchausgabe. In: Uexküll a.a.O.; S.VI
(15) Uexküll a.a.O.; S.57 bis 60 = Erstes Kapitel
(16) ebd.; S.66 bis 69 = Erstes Kapitel
(17) ebd.; S.70 = Zweites Kapitel
(18) ebd.; S.337 = Achtes Kapitel
(19) ebd.; S.71 f. = Zweites Kapitel
(20) ebd.; S.72 f. = Zweites Kapitel
(21) ebd.; S.73 f. = Zweites Kapitel
(22) ebd.; S.73 bis 77; Zweites Kapitel
(23) Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 10.Auflage 1991 (Ungekürzte Ausgabe).
(24) Uexküll a.a.O.; S.79 = Zweites Kapitel
(25) ebd.; S.81f. = Zweites Kapitel
(26) ebd.; S.82 bis 85 = Zweites Kapitel
(27) ebd.; S.85 bis 87 = Zweites Kapitel
(28) ebd.; S.90 bis 92 = Zweites Kapitel
(29) ebd.; S.95 = Drittes Kapitel
(30) ebd.; S.96 = Drittes Kapitel
(31) ebd.; S.97 = Drittes Kapitel
(32) ebd.; S.108 = Drittes Kapitel
(33) ebd.; S.104 = Drittes Kapitel

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