Patrick Horvath

Das Neue Strategische Konzept der NATO

Patrick Horvath, Mat.-Nr. 9502353, Studienkennzahl: 300, Seminar Internationale Politik bei Herrn Prof. Gärtner, Wintersemester 1999 / 2000, Universität Wien

Theoretischer Rahmen: Allianzen nach Stephen Walt

In seiner Arbeit "Why Alliances Endure or Collapse" liefert der amerikanische Professor für Politikwissenschaft Stephen Walt ein theoretisches Grundgerüst zur Analyse von Allianzen. Ihn interessieren die Bedingungen, unter denen Allianzen fortdauern, obwohl ihr ursprünglicher Zweck verloren ging - oder unter denen sie eben wegen großer politischer Veränderungen zusammenbrechen. Seine Überlegungen eignen sich gut als theoretischer Rahmen für die vorliegende Arbeit über das Neue Strategische Konzept der NATO. Nicht zuletzt erscheint dies deshalb sinnvoll, weil die NATO auch eine Allianz ist, die in den letzten Jahren eine massive Umorientierung erfuhr - wohl wollte man ihr, um ihre Fortdauer zu sichern, einen neuen Daseinszweck nach Ende des Kalten Krieges geben.

Was ist eine Allianz?

Nach Stephen Walt ist eine Allianz "a formal or informal commitment for security cooperation between two or more states". Es geht also um Verbindungen zwischen Staaten. Aber "Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich" ist noch zu allgemein formuliert, denn sonst wären Abrüstungsverträge wie der START-Vertrag, der auch partielle Zusammenarbeit zwischen den zwei Blöcken vorsah, auch eine Allianz, was einer Überstrapazierung des Begriffs gleichkäme. Vielmehr muß es schon eine ganz bestimmte Art der Zusammenarbeit sein: "a commitment to mutual defence". Es muß also zumindest eine gegenseitige Verteidigung geben, wenn von einer Allianz gesprochen werden soll.

Diese allgemeine Definition sagt über Details aber sehr wenig aus. Allianzen können nach Walt im höchsten Maße unterschiedlich sein. Zunächst kann man zwischen formal festgeschriebenen und informellen Allianzen unterscheiden. Das Vorhandensein eines Vertrags sagt oftmals wenig aus über das tatsächliche Engagement der Partner. Es ist durchaus möglich, daß zwei Staaten einander substantielle Hilfe leisten, ohne daß ein offizielles Sicherheitsbündnis besteht (man betrachte in diesem Zusammenhang nur das Verhältnis zwischen den USA und Israel - ohne ein formelles Abkommen gibt es de facto massive finanzielle Zuwendungen und militärische Hilfen der USA an den kleineren Partner). Walt unterscheidet aber auch zwischen offensiven und defensiven Allianzen. Es kann also entweder eine Allianz zum Zwecke des Angriffs auf einen bestimmten Gegner gegründet werden, oder die gemeinsame Verteidigung gegen potentielle Angreifer das Hauptanliegen sein. Eine weitere Unterscheidung ist die zwischen symmetrischen und asymmetrischen Allianzen. Bei einer symmetrischen Allianz sind die Bündnispartner ungefähr gleich stark, bei einer asymmetrischen liegt ein großes Machtgefälle zwischen den Partnern vor. Unterschiede gibt es auch hinsichtlich Homogenität bzw. Heterogenität der politischen Systeme oder Werte der Bündnispartner. Während die NATO-Staaten allesamt demokratisch organisiert sind und für sie ähnliche Werte verbindlich sind, war etwa das Bündnis der westlichen Alliierten mit der stalinistischen Sowjetunion gegen Nazi-Deutschland eine Allianz völlig unterschiedlicher Systeme. Zuletzt gibt es noch Unterschiede je nach Grad der Institutionalisierung. Eine Allianz kann über einen großen bürokratischen Apparat und zahllose gemeinsame Institutionen verfügen oder eher lose organisiert sein.

Warum zerbrechen Allianzen?

Allianzen formen sich normalerweise als Antwort auf eine bereits vorhandene, größere Bedrohung. Man nennt dies auch "balancing": Kleinere Staaten legen ihre Kräfte zusammen und stellen ein Gegengewicht zu einer größeren Bedrohung dar. In gewisser Weise könnte man die NATO als ein Beispiel dafür auffassen - entstand sie doch, angesichts Vormarsch der Sowjetunion ein Gegengewicht zu schaffen. Seltener gibt es den umgekehrten Fall, das sogenannte "bandwagoning". Hier schließt sich ein kleinerer, bedrohter Staat an den potentiell bedrohenden Staat an, um der möglichen Gefahr durch Wohlverhalten zu begegnen. Es ist wahrscheinlich deshalb seltener, weil enger Anschluß an einen mächtigen Nachbarn noch keine Garantie bringt, von diesem nicht bedroht zu werden; wie überhaupt im Leben Wohlverhalten keine Garantie einer automatischen Belohnung schafft. Geht man davon aus, daß "balancing" die häufigste Ursache eines Bündnisses ist, folgt daraus, daß die Auflösung einer Allianz wahrscheinlicher wird, wenn sich die Bedrohungslage verändert, z.B. also der potentielle Aggressor nicht mehr vorhanden ist oder so schwach geworden ist, daß er keine ernsthafte Bedrohung mehr darstellt.

Wenn einer der Bündnispartner plötzlich wesentlich stärker wird, als er zum Zeitpunkt der Gründung der Allianz war, wird dieser auf die Unterstützung der anderen wesentlich weniger angewiesen sein. Die anderen Staaten nehmen ihn dann möglicherweise auch als Bedrohung wahr. Die Wahrscheinlichkeit eines Zerbrechens der Allianz ist damit größer. Sehr eng mit diesem Umstand hängt auch die Wahrnehmung der Intentionen eines Staates durch seine tatsächlichen oder potentiellen Bündnispartner zusammen (denn Staaten, die mächtiger werden, nehmen in der Regel eine expansivere Außenpolitik an). Wenn ein Staat aber als aggressiv wahrgenommen wird, ist es wahrscheinlich, daß Widerstände gegen ihn mobilisiert werden. Das klassische Beispiel dafür ist nach Walt das von Otto von Bismarck gegründete Deutsche Reich. Es war nicht nur so mächtig, daß es alleine durch sein Macht Ängste weckte, sondern wurde auch als besonders aggressiv wahrgenommen (wahrscheinlich auch aufgrund des offen zur Schau getragenen imperialen Gehabes). Es war kein Zufall, daß es eine gegnerische Allianz provozierte, die es schließlich erdrückte.

Die Auflösung einer Allianz wird wahrscheinlicher, wenn einer oder mehrere Bündnispartner Zweifel haben, ob die Allianz in der Lage ist, sie ausreichend zu schützen - sei es, weil sie daran zweifeln, ob ihnen ihre Bündnispartner im Ernstfall wirklich zu Hilfe eilen würden, oder weil sie daran zweifeln, daß die Allianz stark genug ist, den Feind niederzuringen. Tritt letzteres ein, ist es sicherer, die Allianz zu verlassen und sich mit dem ehemaligen Feind zu arrangieren. Allianzen werden sich also bemühen ihre Glaubwürdigkeit aufrechtzuerhalten, weil diese ihr größtes Kapital ist. Sie wird sich daher möglicherweise in Konflikten mit großem Aufwand engagieren, die diesen Aufwand gar nicht wert sind, nur um nicht als schwach oder unglaubwürdig dazustehen.

In manchen Theorien wird davon ausgegangen, daß die Außenpolitik eines Staates nur die Fortsetzung seiner Innenpolitik ist (Lenin etwa meinte dies). Welche innenpolitische Prozesse könnten sich negativ auf eine Allianz auswirken? Zum einen könnte der demographische Wandel einen Einfluß haben, besonders dann, wenn eine Allianz auf einem gemeinsamen kulturellen Hintergrund beruht. Ändert sich dieser Umstand durch soziale Trends oder demographische Umwälzungen, ist die Auflösung der Allianz wahrscheinlicher. Auch Wettbewerb innerhalb eines Staates kann die Schuld am Zerbrechen der Allianz haben. So ist es möglich, daß eine politische Elite zu der Ansicht gelangen kann, ihre innenpolitische Stellung verbessern zu können, wenn sie die bestehende Allianz aufgibt. Eine andere Möglichkeit ist ein Regimewechsel. Das neue Regime wird vielleicht andere Positionen als das alte einnehmen, bestehende Allianzen aufgeben und neue eingehen. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein Regimewechsel zur Aufgabe bestehender Allianzen führt, ist umso größer, je fundamentaler der Regimewechsel ist. Folgt ein Regierungswechsel z.B. auf eine demokratische Wahl und folgt eine gemäßigte Partei auf eine andere, ist ein fundamentaler Kurswechsel unwahrscheinlich. Wenn ein Regime durch ein anderes, ideologisch völlig entgegengesetztes, gestürzt wird, ist ein Wechsel der Allianzen leichter möglich - vor allem, wenn die Allianzpartner das alte Regime unterstützten.

Warum dauern Allianzen an?

Die Führung eines Hegemons ist nach Walt eine wichtige Stütze für eine Allianz. Der Hegemon kann nämlich einerseits den Beitritt zu einer Allianz attraktiv machen, weil er ihre Hauptlast trägt und den anderen Mitgliedern eine Menge Vorteile bieten kann. Andererseits ist der Hegemon in der Lage, abtrünnige Mitglieder zu bestrafen - eine Politik, die in alten Zeiten vom antiken Athen während des Peloponnesischen Kriegs und in neueren von der Sowjetunion innerhalb des von ihr dominierten Warschauer Pakts betrieben wurde. Nach Walt ist ein starker Hegemon allerdings kein Allheilmittel gegen zu starke zentrifugale Tendenzen innerhalb der Allianz. Es stellt sich außerdem die Frage, wie lange ein Hegemon bereit oder in der Lage ist, eine solche Politik von "Zuckerbrot- und Peitsche" aufrechtzuerhalten.

Wie schon oben festgestellt, kann der Verlust an Glaubwürdigkeit eine Allianz stark beschädigen oder zu ihrer Auflösung führen. Eine Allianz muß also Aktionen setzen, die ihre Glaubwürdigkeit erhöhen. Möglicherweise ist der Einsatz der NATO in Bosnien oder im Kosovo damit zu erklären, daß ein fehlendes Engagement das Vertrauen in die Ordnungsmacht NATO erschüttert hätte.

Eine Allianz, die nicht im Interesse der gesamten Gesellschaft liegt, kann trotzdem aufrechterhalten werden, wenn eine Elite sie haben möchte. Wenn Walt von diesem "élite manipulation" spricht, hat er dabei vor allem den Druck ethnischer Gruppen auf die U.S.-Außenpolitik im Auge. Juden in den USA waren nach Walt immer maßgeblich an der amerikanischen proisraelischen Politik beteiligt, ebenso betrieben Amerikaner polnischer Herkunft massives Lobbying für den NATO-Beitritt Polens. Man kann aber davon ausgehen, daß es sich kein Staat sich leisten kann, Ressourcen zu verschwenden. Daher wird eine kleine Elite kaum in der Lage sein, eine Allianz aufrechtzuerhalten, wenn diese wirklich dem Gesamtinteresse eines Staates widerspricht. Man sollte also den elitären Einfluß auf die Bildung von Allianzen nicht überschätzen.

Die Wahrscheinlichkeit für das Andauern einer Allianz steigt nach Stephen Walt, wenn sie im hohen Maße institutionalisiert ist, also z.B. einen großen bürokratischen Apparat, eigene Ressourcen und andere Strukturen besitzt. Denn dadurch wird eine Elite von Beamten, Militärs und Politikern geschaffen, die sich für den Erhalt des Bündnisses einsetzt, selbst wenn dieses schon sinnlos geworden ist. Anderseits sind bereits Strukturen vorhanden, die auch zu anderen Zwecken verwendet werden können und deren Neuschaffung mehr kosten würde als ihre Veränderung. Wichtig für das Fortbestehen einer Allianz ist nach Walt aber die Flexibilität ihrer Institutionen, seine Fähigkeit, neue Bestimmungen und Aufgaben zu finden, wenn sich das alte Bedrohungsszenario massiv ändert.

Eine Allianz hält eher an, wenn die einzelnen verbündeten Staaten in ideologischer und politischer Hinsicht einander ähnlich sind. Natürlich können auch große ideologische Unterschiede vergessen werden, wenn es eine übermäßig große Gefahr für alle gibt - man denke an das gemeinsame Vorgehen der Sowjetunion und der Westmächte gegen das Dritte Reich. Aber spätestens, wenn die Gefahr vorbei ist, werden die ideologischen Differenzen offensichtlich - wie nach 1945 im Kalten Krieg. Man sollte ideologische Gemeinsamkeiten aber auch nicht überschätzen, da es neben Ideologie auch andere, stärkere Antriebe in der Politik gibt.

Zur Situation der NATO

Nach Walts Kritierien wäre die NATO eine in einem Vertrag festgeschriebene, also formalisierte Allianz, die ursprünglich defensive Aufgaben hatte (Obwohl die gemeinsame Verteidigung weiterhin Kernaufgabe bleibt, zeigen sich nach Ende des Kalten Kriegs allerdings Tendenzen zu offensiverem Verhalten). Aufgrund des militärischen Machtgefälles zwischen den USA und den einzelnen europäischen Verbündeten ist es eine asymmetrische Allianz (In einigen Jahrzehnten, wenn die europäischen Integrationsbemühungen erfolgreich sein sollten, ändert sich dies vielleicht). Es gibt eine gemeinsame Wertebasis und ähnliche politische Strukturen der einzelnen Bündnispartner, ferner ist ein ausgesprochen hoher Grad der Institutionalisierung gegeben.

Viele Gründe, die ein Auseinanderbrechen von Allianzen wahrscheinlicher machen, sind im Falle der NATO erfüllt. Als der wichtigste erscheint, daß die Hauptbedrohung der NATO, zu deren Abwehr die Allianz eigentlich gegründet wurde, nach Ende des Ost-West-Konflikts und dem Untergang der Sowjetunion verschwand. Daß der europäische Einigungsprozeß zu einer Stärkung Europas führen wird und dies das bisherige Gefüge der Allianz ebenfalls gefährden könnte, wird auch manchmal befürchtet. Aufbauend auf diesem theoretischen Rahmen kann man die gegenwärtigen, massiven Veränderungen innerhalb der NATO als einen Versuch werten, dieser einen neuen Sinn zu verleihen in einer weltpolitischen Lage, die den ursprünglichen raison d’être von 1949 hinfällig gemacht hat. Die NATO hat damit ein gehöriges Maß an Flexibilität und Veränderungswillen bewiesen.

Forschungsleitende Fragstellung

Was mich in dieser Arbeit interessiert, sind die strategischen Weichenstellungen und Umorientierungen, die die NATO nach Ende des Kalten Kriegs unternahm, um der neuen weltpolitischen Situation gerecht zu werden. Zu diesem Zweck soll im Anschluß eine Analyse des am Washingtoner Gipfel beschlossenen Neuen Strategischen Konzepts der NATO im Lichte des hier skizzierten theoretischen Rahmens unternommen werden. Diese Analyse soll nach ausgewählten Schwerpunkten und unter Berücksichtigung anderer wichtiger Dokumente des Gipfels (wie der Washingtoner Erklärung, dem Kommuniqué der Staats- und Regierungschefs etc.) sowie der relevanten Sekundärliteratur erfolgen. Wichtig erscheint mir auch, immer wieder auf die Weichenstellungen hinzuweisen, zu denen das Ende des Kalten Kriegs und der Kosovo-Krieg geführt haben. Vor allem letzterer hat die Endfassung der Konzepts maßgeblich beeinflußt.

Das Neue Strategische Konzept der NATO:

Eine Analyse

Vorgeschichte

Im Jahre 1997 beschlossen die Staats- und Regierungschefs in Madrid offiziell die Ausarbeitung von Abänderungsvorschlägen zum Strategischen Konzept von 1991. Dieses Konzept, nach dem Ende des Kalten Kriegs erstellt, war seinerseits wieder durch den Lauf der Ereignisse überholt worden; so ging es noch von der Existenz einer - allerdings massiv geschwächten - Sowjetunion aus. Nach langen und intensiven Diskussionen wurde das veränderte Strategische Konzept am Gipfel von Washington 1999 feierlich unterzeichnet.

Der Gipfel von Washington gehört sicherlich zu den bemerkenswertesten politischen Ereignissen der jüngsten Zeit. Nicht nur wurde dort das 50-Jahr-Jubiläum der NATO gefeiert, sondern auch die Aufnahme von drei neuen Mitglieder: Polen, Tschechien und Ungarn. Dazu kommt, daß der Gipfel von Washington auch ein Kriegsgipfel war. Zur gleichen Zeit bombardierten NATO-Kampfverbände die Republik Jugoslawien, um das Regime von Slobodan Milosevic von massiven Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land abzuhalten. Um es polemisch zu sagen: Die NATO "feierte" ihren 50.Geburtstag mit einem gewaltigen Feuerwerk über dem Kosovo.

Neu am Kosovo-Krieg war auch, daß die NATO einen souveränen Staat ohne die Zustimmung des UNO-Sicherheitsrats bombardierte; und noch dazu in einem Gebiet operierte, das eindeutig "out of area", also außerhalb des Vertragsgebiets liegt. Der Kosovo-Krieg markiert eine Weichenstellung weg von der bloß defensiven NATO des Kalten Kriegs hin zu einer offensiveren NATO des 21.Jahrhunderts. Der Kosovo-Krieg hat auch die Endfassung des Strategischen Konflikts mitbeeinflußt; es ist also berechtigt, die Ereignisse des Kriegs im Zusammenhang mit den theoretischen Ausführungen des Konzepts zu sehen.

Im Zuge der Formulierung des Neuen Strategischen Konzepts wurden drei heftige Diskussionen ausgefochten. Zum ersten stellte sich die Frage nach einer funktionalen Beschränkung. Daß die gegenseitige Verteidigung weiterhin Kernaufgabe des Bündnisses bleiben sollte, war von Anfang an unbestritten. Ob zu der kollektiven Verteidigung aber auch andere Aufgaben (Krisenmanagement, humanitäre Interventionen etc.) hinzutreten sollten, darüber schieden sich die Geister.

Zweitens war die geographische Beschränkung der Allianz im Gespräch. Die Mehrheit der Europäer, v.a. Deutschland, befürworteten eine Beschränkung der NATO auf das Vertragsgebiet. Die USA hingegen plädierten dafür, aus der NATO ein globales Instrument zu machen und weltweites Krisenmanagement zu betreiben.

Heftig umkämpft war auch die völkerrechtliche Beschränkung. Vor allem Frankreich plädierte dafür, alle Aktionen der NATO, die nicht vom Artikel 5 des Washingtoner Vertrags abgedeckt waren, an die Erlaubnis des UNO-Sicherheitsrats zu binden. Die USA wehrten sich dagegen. Für den Fall, daß der Sicherheitsrat blockiert würde, wollten die USA die Möglichkeit nicht aus der Hand geben, auch eigenständig handeln zu können.

Der Beschluß des Neuen Strategischen Konzepts hatten in der Theorie, die Ereignisse des Kosovo-Kriegs in der Praxis bewiesen, daß in allen oben gennanten drei Fällen letztlich gegen Beschränkungen entschieden wurde. Die "NATO neu" war geboren - als flexible Antwort auf die neue weltpolitische Situation.

Die neuen Bedrohungen

Allianzen pflegen sich, wie im theoretischen Teil festgestellt, über ihre Feinde zu definieren. Das Abhandenkommen der alten Feinde kann eine bestehende Allianz gefährden. Welche neue Feinde sieht die NATO zu Beginn des neuen Jahrtausends?

Zunächst einmal keinen, wenn es im Abschnitt 11 heißt: "Das Bündnis betrachtet sich nicht als Gegner irgendeines anderen Staates". Aber wenn man nicht Gegner eines anderen Staates ist, welche Feinde hat man dann? Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Aufsatz von Javier Solana, der bei Abfassung des Neuen Strategischen Konzepts NATO-Generalsekretär war und jetzt als "Mr.GASP" der EU tätig ist. Er unterscheidet nach Ende des Kalten Krieges folgende vier neue Herausforderungen für die NATO:

Es ist weltweit ein Trend zur verstärkten wirtschaftlichen Vernetzung zu beobachten, u.a. gefördert durch schnellere und bessere Kommunikations- und Verkehrsmittel und eine Zunahme des internationalen Handels. Die Globalisierung macht Gesellschaften flexibler, freier, wohlhabender. Aber sie erzeugt auch neue, zuvor unbekannte Probleme - unsere Wirtschaft und Gesellschaft wird verwundbarer, leichter anfällig für Krisen.

Die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen stellt ein großes Sicherheitsrisiko für die westliche Welt dar. Atomare, aber auch chemische und biologische Waffen, die in die Hände von "Schurkenstaaten" fallen, können zu einer Destabilisierung der Weltpolitik beitragen.

Außerdem wirft die große Zerstörungskraft solcher Waffen die Frage auf, ob diese nicht auch von nicht-staatlichen Akteuren, also z.B. von Terroristen verwendet werden können. Man stelle sich vor: Ein fanatischer Moslem in den USA mit einer tragbaren Atombombe - die Folgen könnten katastrophal sein. Die Verhinderung der Weiterverbreitung und Schutzmechanismen gegen diese sind dringende Projekte für die Zukunft.

Konflikte vom Muster Bosnien oder Kosovo mit regionalen ethnischen Spannungen werden wahrscheinlich die Zukunft dominieren. Vor allem seit dem Ende des Kalten Kriegs haben regionale Konflikte drastisch zugenommen.

Das ist u.a. erklärbar durch den Zusammenbruch des Ostblocks und den daraus resultierenden Destabilisierungen. Besonders das Problem des Zerfalls Jugoslawiens seit Anfang der 90er ist nach wie vor aktuell und stellt neue Herausforderungen an die internationale Gemeinschaft.

Konflikte um Ressourcen (wie z.B. Öl oder in manchen Weltgegenden auch Wasser) werden nach Meinung Solanas weiter zunehmen, ferner Destabilisierungen aufgrund von ökonomischen oder ökologischen Katastrophen. Auch Wanderbewegungen großer Menschenmassen können Gefahren darstellen.

Nach Solanas Meinung wird das zukünftige Engagement der NATO also ungefähr so aussehen: Sie wird weltweit in regionale Konflikte eingreifen und versuchen, zusammenbrechende Ordnungen zu stabilisieren; sie wird die Verbreitung von ABC-Waffen so gut es geht verhindern und darüber hinaus möglicherweise die Position des Westens in den künftigen weltweiten Verteilungskämpfen um Ressourcen stärken.

Was auffällt ist u.a. die Betonung der globalen Einsatzfähigkeit, die in einer "globalisierten" Welt auch notwendig erscheint, wie folgende beide Zitate aus der einschlägigen Fachliteratur illustrieren.

"Geographische Distanz ist ohne Zweifel ein Faktor von schwindender Bedeutung bei der Analyse sicherheitspolitischer Bedrohungen. Eine Ausdehnung der NATO-Verantwortlichkeit über Europa hinaus wäre somit eine logische Konsequenz veränderter weltpolitischer Rahmenbedingungen".

"Angesichts der veränderten sicherheitspolitischen Herausforderungen werden sich die Bündnispartner langfristig einer weit über Europa hinausgehenden Verantwortung nicht verschließen können. Die steigende Gefahr der Proliferation von Massenvernichtungswaffen sowie die rasch voranschreitende Verbreitung effektiver Raketentechnologie werden künftig immer mehr Staaten in die Lage versetzen, militärische Zerstörungen über weite Distanzen durchzuführen. Geographische Entfernung als Faktor sicherheitspolitischer Risikoanalyse verliert zunehmend an Bedeutung. Folglich können militärische Gefährdungen in Regionen entstehen, die bisher nur unzureichend wahrgenommen wurden".

Das Neue Strategische Konzept vertritt ähnliche Standpunkte wie Solana in seiner Arbeit. Es wird festgestellt, daß sich die weltpolitische Lage massiv veränderte - teilweise sehr positiv für die Atlantische Allianz. Dennoch ist von der Entwicklung von "komplexen neuen Risken für euro-atlantischen Frieden und Stabilität" die Rede. Namentlich sind in Abschnitt 3 genannt: Unterdrückung, ethnische Konflikte, wirtschaftliche Not, Zusammenbruch von politischen Ordnungen sowie die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen.

Im Abschnitt 6 werden die Werte Demokratie, Menschenrechte und Rechtstaatlichkeit beschworen, die die Allianz als seine Grundlage bezeichnet. Diese Werte und vor allem ihre Verwirklichung in Europa können aber "durch Krisen und Konflikte, die die Sicherheit des euro-atlantischen Raums berühren, gefährdet werden". Wahrscheinlich wird hier auf den Kosovo-Krieg angespielt. Die NATO bekennt sich also auch dazu, eine Ordnung in Europa durchsetzen zu wollen, die ihrer Gerechtigkeitsvorstellung entspricht. Auf jeden Fall befürchtet sie auch eine Eskalation in Europa, die von einem regionalen Konflikt in der Nähe des Bündnisses ausgeht. In Abschnitt 20 werden diese Bedenken näher ausgeführt:

"Ungeachtet positiver Entwicklungen im strategischen Umfeld sowie der Tatsache, daß ein großangelegter konventioneller Angriff gegen das Bündnis höchst unwahrscheinlich ist, besteht die Möglichkeit, daß sich eine solche Bedrohung längerfristig entwickelt. Die Sicherheit des Bündnisses bleibt einem breiten Spektrum militärischer und nichtmilitärischer Risiken unterworfen, die aus vielen Richtungen kommen und oft schwer vorherzusagen sind. Zu diesen Risiken gehören Ungewißheit und Instabilität im und um den euro-atlantischen Raum sowie die mögliche Entstehung regionaler Krisen an der Peripherie des Bündnisses, die sich rasch entwickeln könnten. Einige Länder im und um den euro-atlantischen Raum sehen sich ernsten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Schwierigkeiten gegenüber. Ethnische und religiöse Rivalitäten, Gebietsstreitigkeiten, unzureichende oder fehlgeschlagene Reformbemühungen, die Verletzung von Menschenrechten und die Auflösung von Staaten können zu lokaler und selbst regionaler Instabilität führen. Die daraus resultierenden Spannungn könnten zu einer Krise führen, die die euro-atlantische Stabilität berühren, sowie zu menschlichem Leid und bewaffneten Konflikten. Solche Konflikte könnten, indem sie auf benachbarte Staaten einschließlich NATO-Staaten übergreifen oder in anderer Weise, auch die Sicherheit des Bündnisses oder anderer Staaten berühren".

Was in dieser Formulierung auffällt ist die Häufung des Wortes "könnte". Der Kern der doch eher hypothetischen Befürchtung ist aber doch bedenkenswert: Daß nämlich ein regionaler Konflikt auf seine Nachbarstaaten übergreift und diese in einen Krieg zieht. In gewisser Weise bestand diese Gefahr auch beim Zusammenbruch Jugoslawiens.

Des weiteren werden Sorgen geäußert über das Vorhandensein starker Nuklearkräfte außerhalb des Bündnisses. Die NATO verfolgt nicht zuletzt aus diesem Grund eine Politik der Nichtverbreitung von ABC-Waffen. Es wird festgestellt, daß auch nicht-staatliche Akteure solche Waffen in ihren Besitz bringen könnten. Dasselbe gilt sinngemäß aber für andere moderne Waffen, wie z.B. Marschflugkörper. Die NATO sieht auch den "Information Warfare" als eine potentielle Bedrohung an: Staatliche oder nicht-staatliche Akteure könnten Informationssysteme der westlichen Welt sabotieren, von denen diese aber immer abhängiger wird. Wie groß der Schaden durch solche Sabotageakte sein könnten, sieht man gerade jetzt angesichts des per email verschickten "I LOVE YOU"-Virus, das weltweit, aber vor allem in den USA und Europa, 15 Mrd. Schilling Schaden ausgelöst hat. Ich halte die Sorge der NATO für berechtigt, daß ähnliche Anschläge auch professionell im Rahmen einer staatlichen Kriegsführung oder von Terroristen eingesetzt werden könnten.

Als weitere Risken werden im Strategischen Konzept genannt: Terrorismus, Sabotage, organisiertes Verbrechen, Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen und unkontrollierte Bewegungen einer großen Zahl von Menschen. Um diese Probleme zu lösen, bekennt sich die NATO uneingeschränkt zum globalen Handeln. Die NATO entwickelt sich von einer euro-atlantischen zu einer globalen Organisation - was in einer globalisierten Welt, wie oben ausgeführt, auch durchaus vertretbar erscheint.

Ich möchte aber auch ein paar kritische Bemerkungen zu den neuen Bedrohungen anführen: Im Neuen Strategischen Konzept findet man dazu unstreitig viel Wahres. Man kann sich bei den dort skizzierten Bedrohungen allerdings nicht des Eindrucks erwehren, daß die NATO auf die Frage, wer denn der Feind sei, vor dem sie uns in Zukunft zu schützen gedenkt, wenig konkret, sondern sehr allgemein, vielleicht zu allgemein antwortet. Es scheint, als ob die praktisch unbedrohte NATO im Neuen Strategischen Konzept förmlich nach neuen Feinden sucht, die vielleicht und möglicherweise in Zukunft unsere Sicherheit gefährden könnten, ohne aber einen konkreten Akteur beim Namen zu nennen. Ob diese doch eher unpersönlichen und manchmal hypothetisch anmutenden Bedrohungsszenarien ausreichen werden, um der NATO dieselbe Legitimität und denselben Zusammenhalt zu verleihen wie die sehr konkrete und augenfällige sowjetische Bedrohung, wird erst die Zukunft weisen.

Die neuen Aufgaben

Korrespondierend zu den neuen Bedrohungen werden auch die neuen Aufgaben der NATO im Strategischen Bündnis skizziert. Eine Kernaufgabe bleibt - wie zur Zeit des Kalten Kriegs - die "Verteidigung und Abschreckung", also im Prinzip Artikel 5 des Nordatlantikvertrags. Als weitere Aufgabe wird die transatlantisch zu verstehende Konsultation zu vitalen Fragen angegeben. Die NATO ist also auch ein Forum für Kommunikation. Eine Aufgabe der NATO soll es auch sein, ein "stabiles euro-atlantisches Sicherheitsumfeld" zu schaffen, auch außerhalb des Vertragsgebiets. Interessant sind aber nun die beiden Methoden, mit denen die Allianz beides zu erreichen gedenkt:

Die NATO, heißt es, "steht bereit (...), zu wirksamer Konfliktverhütung beizutragen und sich bei der Konfliktverhütung aktiv einzusetzen, einschließlich durch Krisenreaktionseinsätze". U.a. können mit so einer Formulierung Einsätze gemeint sein, die dem Kosovo-Konflikt ähnlich sind.

Die NATO "fördert eine breit angelegte Partnerschaft, Zusammenarbeit und Dialog mit anderen Staaten im euroatlantischen Raum mit dem Ziel, Transparenz, gegenseitiges Vertrauen und die Fähigkeit zu gemeinsamem Handeln mit dem Bündnis zu erhöhen". Diese Partnerschaften versucht die NATO auch institutionell abzusichern, z.B. durch die Partnerschaft für den Frieden und den Mittelmeerdialog, auf die ich hier nicht näher eingehen will. Aber auch das neue Verhältnis mit Rußland kann hier gemeint sein.

In den nächsten zwei Abschnitten möchte ich näher auf einzelne, vielleicht auch problematische Aspekte dieser neuen Aufgaben eingehen.

NATO neu, humanitäre Intervention und Völkerrecht

Kern des gegenwärtigen Völkerrechts ist das allgemeine Gewaltverbot. Es ist u.a. ausformuliert in Art.2, Abs.4 der UNO-Charta, der besagt, daß alle UNO-Mitglieder in ihren internationalen Beziehungen jede mit den Grundsätzen und Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung und Anwendung von Gewalt unterlassen. Welche Gewaltanwendung ist nun mit den Zielen und Grundsätzen der UNO vereinbar? Hier wird vom modernen Völkerrecht ein enger Rahmen gesteckt. Zunächst einmal gibt es nach Art.51 derselben Charta das naturgegebene Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung. Dieses Recht ist nur bei einem militärischen Angriff gegeben; Präventivkriege sind dadurch nicht abgedeckt. Es ist sehr eng auszulegen, um die Möglichkeit auszuschließen, einen Angriffskrieg damit rechtfertigen zu können. Eine weitere Ausnahme liegt vor, wenn der UNO-Sicherheitsrat, dem die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit obliegt, ein Mandat zu einem bewaffneten Einsatz gibt, um einem Aggressor entgegenzutreten. Dies war z.B. im Zuge des 2.Golfkriegs 1990 / 91 gegen den Irak der Fall.

Nach gegenwärtigem Völkerrecht, ist es einem Staat oder einer Staatengruppe nicht gestattet, ohne den Auftrag des Sicherheitsrates eine humanitäre Intervention durchzuführen (Interventionsverbot), wahrscheinlich aufgrund der großen Mißbrauchsanfälligkeit einer gegenteiligen Bestimmung. Diese Regelung wurde von der NATO im Kosovo-Krieg ignoriert.

Von den Befürwortern des Kosovo-Kriegs werden immer wieder Argumente angeführt, die beweisen sollen, daß ihre Militäraktionen doch mit dem Völkerrecht zu vereinbaren seien. Sie verweisen z.B. auf Resolutionen des UN-Sicherheitsrats, die sich bereits mit dem Problem auseinandersetzten, insbesonders die Resolution 1199, in der von den serbischen Sicherheitskräften verlangt wurde, alle Gewalttaten gegen Zivilisten im Kosovo einzustellen. Ferner wurden "further actions" angedroht, wenn dies nicht erfüllt werde. Die NATO bestand später darauf, daß damit ihr militärischer Angriff ohnehin vom Sicherheitsrat abgesegnet wäre, weil dieser unter die "further actions" fiele - eine nicht sehr überzeugende Argumentation. Ich persönlich hoffe nicht, daß in Hinkunft die Phrase "further actions" in einem internationalen Dokument als "bombardieren" interpretiert wird. Wahr ist allerdings, daß der UN-Sicherheitsrat die Taten der Serben verurteilt hat. In Hinkunft wird er allerdings möglicherweise weniger geneigt sein, Menschenrechtsverletzungen in anderen Staaten zu verurteilen, wenn eine solche Verurteilung ohne weiteres als Generalerlaubnis für einen militärischen Angriff verwendet wird - was ein Rückschritt für die Menschenrechtspolitik wäre.

Eine zweite Argumentation bezieht sich darauf, daß zurecht festgestellt wird, daß auch Serbien gegen Völkerrecht verstieß. Völkermord ist in internationalen, auch für Serbien verbindlichen Vertragswerken verboten; das Selbstbestimmungsrecht der Völker, ein allgemeinverbindliches ius cogens, das auch in der UNO-Charta festgehalten wird, wurde ebenfalls mit Füßen getreten. Also mußte doch, heißt es, irgendjemand eingreifen. Dabei wird aber vergessen, daß der Umstand, daß nach internationalen Verträgen gewisse Verhaltensweisen verboten sind, anderen Staaten oder Staatengruppen - juristisch gedacht - nicht automatisch das Recht gibt, sich selbst zum Weltpolizisten zu erklären und den anderen mit Bomben abzustrafen. Nicht nur, daß kein Staat über dem anderen steht, also auch keine Polizeiaktion durchführen oder einen anderen Staat richten kann (dies würde ein Verhältnis der Über- bzw- Unterordnung voraussetzen), die entsprechenden Verträge sehen auch keine Richterfunktion für die NATO vor. Einzig der UNO-Sicherheitsrat könnte eine "humanitäre Intervention" völkerrechtskonform beschließen.

Das einzige Gegenargument der Befürworter der Intervention im Kosovo, daß näher zu bedenken und vielleicht sogar im Kern richtig ist, wäre ein moralisches, daß nämlich gesagt wird: Völkerrechtlich steht die Intervention auf schwachen Beinen, moralisch war sie aber notwendig. Denn man kann ja nicht einfach zusehen, wie eine ethnische Minderheit niedergemetzelt wird, nur weil der Sicherheitsrat blockiert wird. Dieses Argument verlegt die Rechtfertigung für den Krieg (in der offiziellen Diktion der NATO wurde das Wort Krieg übrigens nicht verwendet) von einer völkerrechtlichen auf eine moralische Ebene. Und vieles spricht dafür, daß im Falle des Kosovo-Konflikts die Moral tatsächlich ein Eingreifen erforderlich machte.

Das Problematische beim Argumentieren mit "Moral" ist aber folgendes:

Zunächst ist es möglich, daß andere Staaten der Welt das Verhalten der NATO nachahmen. Wenn die NATO berechtigt ist, einen souveränen Staat zu bombardieren, um die "Menschenrechte" seiner Bevölkerung zu schützen, ist nicht einzusehen, warum eine andere Allianz oder ein anderer mächtiger Staat es nicht auch dürfen. Ein Zukunftsszenario aber, in dem große Staaten oder Staatengruppen kleinere politische Gebilde nach Belieben angreifen dürfen, wenn sie selbst feststellen oder auch nur behaupten, dort würden Menschenrechte verletzt, ist nicht gerade beruhigend. Noch dazu, wo sich die Frage stellt, ob die "Selbstmandatierung" für einen Angriff auf einen anderen Staat nicht mißbrauchsanfällig ist. Es mögen im Kosovo tatsächlich schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen durch serbische Truppen begangen worden sein. Aber wer stellt bei zukünftigen Konflikten fest, ob ein Staat Menschenrechte verletzt oder nicht? Und ob diese Verletzungen ausreichen, ihn militärisch anzugreifen? Ist die NATO "objektiv" genug, um gleichzeitig Konfliktpartei und Schiedsrichter zu sein? Es sei an dieser Stelle nochmals darauf hingewiesen, daß die "humanitäre Intervention" bereits im 19.Jahrhundert von den europäischen Großmächten praktiziert wurde - und schließlich aufgrund offensichtlichen Machtmißbrauchs unter dem Deckmantel des Minderheiten- oder Menschenrechtsschutzes in Verruf geriet. Zeichnet sich in Zukunft eine ähnlich Entwicklung ab? Wäre das nicht ein Rückschritt hinter die Nachkriegsordnung von 1945? Bewegt sich die NATO - auf dem Umweg und unter dem Deckmantel der Menschenrechtsschutzes zurück zu einer Politik der gewaltsamen Durchsetzung ihrer Interessen?

Dann fällt auf, daß die NATO den Grundsatz, die Menschenrechte seien wichtiger als die staatliche Souveränität, nur auf Nicht-Mitglieder anwendet. Das NATO-Mitglied Türkei verletzt ebenfalls Menschenrechte; hier besteht aber ein Konsens innerhalb der NATO, daß die staatliche Souveränität keine Einmischung rechtfertige.

Das Neue Strategische Konzept äußert sich gleich mehrmals zu der Frage nach dem Völkerrecht bzw. der Abstimmung von NATO-Aktionen mit dem UNO-Sicherheitsrat. So wird im Abschnitt 31 im Kapitel "Konfliktverhütung und Krisenbewältigung" festgestellt, daß die NATO in Zukunft in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen darum bemüht sein wird, "Konflikte zu verhüten oder, sollte eine Krise auftreten, in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht zu deren wirksamer Bewältigung beitragen". Die NATO sagt sich also nicht vom Völkerrecht los, sondern unterstellt sich ihm ausdrücklich. Berücksichtigt man allerdings, daß die Bombardierung Serbiens im Kosovo-Krieg ohne Mandat des UNO-Sicherheitsrat nur schwer mit dem Völkerrecht vereinbar ist, stellt sich die Frage nach dem Wert dieser Erklärung. Manche Autoren konstatieren in diesem Zusammenhang übrigens einen "Bedeutungsschwund der UNO", der durch die NATO-Handlungen verursacht wurde.

Auf jeden Fall erklärt sich aber die NATO bereit, "von Fall zu Fall (...) friedenswahrende und andere Operationen unter der Autorität des VN-Sicherheitsrats oder der Verantwortung der OSZE zu unterstützen". Wenn der Sicherheitsrat mit einer Aktion einverstanden ist, unterstützt die NATO ihn also - von Fall zu Fall. Was ist aber in Hinkunft, wenn der Sicherheitsrat mit einer NATO-Operation nicht einverstanden ist? So konkret stellt das Strategische Konzept diese Frage nicht. Es wird aber in Art.15 allgemein festgestellt: "Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen trägt die primäre Verantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit und leistet in dieser Eigenschaft einen entscheidenden Beitrag zur Sicherheit und Stabilität im euro-atlantischen Raum".

Diese Feststellung erscheint genauer betrachtet höchstens als eine höfliche Verbeugung in Richtung UNO-Sicherheitsrat, aber nicht als ein substantielles Zugeständnis an diesen. Liegt doch der Kern der hier zitierten Formulierung in der "primären Verantwortung" - es ist, wohl gemerkt, nicht von "ausschließlicher Verantwortung" die Rede. Im Prinzip, das haben die Ereignisse im Kosovo-Krieg illustriert, läuft es darauf hinaus: Die NATO gesteht dem UNO-Sicherheitsrat also zu, primäre Verantwortung zu tragen, wenn dieser die Verantwortung aber nicht im Sinne der NATO wahrnimmt, handelt diese eigenständig.

Karl-Heinz Kamp beschäftigt sich in einer seiner Arbeiten mit der Frage, ob die Zukunft der NATO nach Kosovo die eines Friedensengels oder die eines imperialistischen Bündnisses sein wird. Beide Szenarien hält er für überzeichnet. Das Konzept einer NATO, die die Welt mit ihrer Friedenspolitik beglückt, überall auf der Welt dafür sorgt, daß die Menschenrechte eingehalten werden und gleichzeitig aus vollkommen selbstlosen Motiven der Gerechtigkeit zum Durchbruch verhilft, ist seiner Meinung nach unrealistisch. Zu hochgegriffene moralische Selbststilisierungen wecken ohnehin schon genug Mißtrauen. Es zeigt sich auch bei näherer Betrachtung, daß die Bereitschaft des Westens, für die Durchsetzung von Menschenrechten zu sorgen, massiv nachläßt, sobald dies eigene Verluste zur Folge hat. Dies kann man schon am Beispiel des Einsatzes in Somalia sehen: Als die ersten toten amerikanischen Soldaten unter dem Triumphgeheul der Einheimischen durch die Straßen von Mogadischu geschleift wurden - noch dazu vor laufenden Fernsehkameras - zogen sich die USA sofort zurück. Bei einer solch geringen Frustrationstoleranz gegenüber eigenen Verlusten erscheint es unwahrscheinlich, daß die NATO in Hinkunft allein für die hehre Idee der Menschenrechte große Verluste in Kauf zu nehmen bereit ist. Wenn man unter diesen Umständen von seinen Soldaten das Riskieren ihres Lebens verlangt, dann ist das doch höchstens für die Wahrnehmung handfester politischer Interessen vorstellbar.

Es erübrigt sich auch ein zweites häufig strapaziertes Szenario, die NATO werde ihre Interessen in Hinkunft mit nackter Gewalt (unter dem Vorwand der Menschenrechte) durchsetzen und als imperialistische Supermacht die Welt verheeren. Das ist insoferne unwahrscheinlich, weil die NATO ein Bündnis von 19 Demokratien ist und letztlich auf den Konsens der Bündnispartner angewiesen ist. Eine solche Organisation eignet sich kaum zur Durchsetzung von Welteroberungsplänen.

In Zukunft wird wahrscheinlich ein Mittelweg zwischen beiden überzeichneten Szenarien gewählt werden: Die NATO wird auf jeden Fall nicht mehr rein defensiv sein, sondern offensiveren Charakter annehmen; sie wird versuchen, Konflikte einzudämmen und bestimmte Weltgegenden im Sinne ihrer Werte zu stabilisieren; sie wird aber auch möglicherweise der Versuchung erliegen, ihre neue Machtposition zur Durchsetzung ihrer politischen Interessen einzusetzen. Verletzte Menschenrechte in anderen Staaten werden in Hinkunft möglicherweise einen willkommenen Anlaß für ihre Bombardierung darstellen.

Rußland: Vom alten Feind zum neuen Freund - oder doch nicht?

Eine bedeutende Veränderung gegenüber den Zeiten des Ost-West-Konflikts ist, daß das Neue Strategische Konzept für die künftigen Beziehungen der NATO zu Rußland warme Worte findet: "Rußland spielt eine einzigartige Rolle in der euro-atlantischen Sicherheit. Im Rahmen der NATO-Rußland-Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit haben sich die NATO und Rußland verpflichtet, ihre Beziehung auf die Grundlage gemeinsamen Interesses, der Gegenseitigkeit und der Transparenz aufzubauen, um einen dauerhaften und alle einschließenden Frieden im euroatlantischen Raum zu erreichen, gestützt auf die Prinzipien der Demokratie und der kooperativen Sicherheit. Die NATO und Rußland haben vereinbart, ihr gemeinsames Bekenntnis zum Aufbau eines stabilen, friedlichen und ungeteilten Europas mit Leben zu erfüllen. Eine starke, stabile und dauerhafte Partnerschaft zwischen der NATO und Rußland ist von wesentlicher Bedeutung für die Schaffung anhaltender Stabilität im euroatlantischen Raum".

Ähnliche blumige Formulierung, die den Rang von allgemeinen Bekenntnissen haben, mögen zwar die Überwindung des Denkens des Kalten Kriegs demonstrieren und somit eine gewisse Wichtigkeit besitzen. Das Strategische Konzept enttäuscht aber, weil es Interessensgegensätze zwischen der NATO und Rußland einfach verschweigt zugunsten einer nicht vorhandenen, oftmals künstlich erscheinenden Harmonie.

Der Kosovo-Krieg z.B. belastete das Verhältnis zwischen NATO und Rußland immens; und es ist doch anzunehmen, daß künftige ähnlich gelagerte Krisenmanagement-Einsätze auch ähnliche Spannungen hervorrufen. Gedenkt die NATO dies zu ignorieren? Oder wird sie versuchen, wie im Kosovo-Konflikt, Rußland auf diplomatischem Wege einzubinden, wenigstens pro forma? Wie starke Spannungen mit Rußland wird die NATO im Zuge ihrer Kriseneinsätze riskieren? Wie gedenkt die NATO dem aufsteigenden Nationalismus in Rußland entgegenzutreten? Mit unermeßlichen Geldzahlungen, die dann in dunklen Kanälen versickern? Mit gutem Zureden in einem der vielen gemeinsam mit Rußland betriebenen Gremien? Ist sich die NATO darüber im klaren, daß sie mit einer offensiveren Politik den Nationalismus in Rußland anheizt? Wie gedenkt die NATO das Problem zu lösen, daß ihre fortschreitende Osterweiterung Rußland unerträglich ist?

Das Neue Strategische Konzept schweigt zu all diesen Themen. Es begnügt sich mit der allgemeinen Feststellung, es sei wichtig, mit Rußland gute Beziehungen zu haben. Gleichzeitig wird ein Bekenntnis zu Krisenmanagement-Einsätzen und Osterweiterung abgelegt. Wie ist beides zu vereinbaren? Was geht im Zweifelsfall vor? Das Neue Strategische Konzept gibt mit seinen oftmals sehr allgemeinen, unverbindlichen und vieldeutigen Formulierungen auf diese brennenden Fragen keine wirklich zufriedenstellende Antwort.

Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität

Im letzten Abschnitt des Strategischen Konzepts bekennt sich die NATO zur "Vision des einen und freien Europas". Entsprechend der vielfältigen, auch sicherheitspolitisch relevanten Entwicklungen im europäischen Integrationsprozeß ist es nicht verwunderlich, wenn die europäische Einigung in vielfältiger Weise im Neuen Strategischen Konzept der NATO berücksichtigt wird.

Im Rahmen des Maastrichter Vertrags von 1992 legten sich die EU-Partner - neben der Schaffung eines einheitlichen Binnenmarkts mit einer gemeinsamen Währung, dem Euro - auf die Schaffung einer "Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik" (GASP) fest, "wozu auf längere Sicht auch die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gehört, die zu gegebener Zeit zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte" (Art. J.4 des EU-Vertrags). Die WEU wurde ersucht, die verteidigungspolitischen Entscheidungen der EU auszuarbeiten und durchzuführen. Dieses Ersuchen hat die WEU in der Petersberger Erklärung angenommen, wo sie sich "als Verteidigungskomponente der Europäischen Union und als Instrument zur Stärkung des europäischen Pfeilers der Atlantischen Allianz" empfiehlt und sich u.a. bereit erklärt, auch Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung durchzuführen. Ungefähr zeitgleich begann die Weiterentwicklung der deutsch-französischen Brigade zum Europäischen Korps, "um die Europäische Union mit Möglichkeiten des eigenen militärischen Handelns auszustatten", wie es in der Erklärung von La Rochelle vom 22.Mai 1992 heißt.

Das Strategische Konzept stellt zur GASP fest: "Die Entwicklung einer Gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitk (GASP) umfaßt die Gestaltung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik. Eine solche Politik, wie sie im Vertrag von Amsterdam gefordert wird, wäre mit der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Rahmen des Washingtoner Vertrags vereinbar". Entsprechend "unterstützt das Bündnis uneingeschränkt die Entwicklung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität innerhalb des Bündnisses". Zudem wird festgestellt, daß die Zunahme der militärischen Handlungsfähigkeit auf europäischer Seite auch das Sicherheitsumfeld des Bündnisses verbessert und die transatlantische Partnerschaft stärkt. Die europäischen Verbündeten sollen in Zukunft eigenständig handeln können ("auf der Grundlage trennbarer, aber nicht getrennter Fähigkeiten"). Die WEU oder eine andere Institution sollen prinzipiell auch die politische und strategische Oberleitung für Operationen zu übernehmen, "in denen das Bündnis nicht militärisch engagiert ist".

Europa schickt sich an, eine stärkere Rolle in der Sicherheitspolitik einzunehmen, die von der NATO im Prinzip unterstützt wird, wobei das Projekt GASP noch in den Kinderschuhen steckt. Man kann nur darüber mutmaßen, wie sich die transatlantische Partnerschaft entwickeln wird, wenn die GASP und eine gemeinsame europäische Armee einmal Wirklichkeit geworden sind. Die USA unter George Bush nannten die GASP einen "Spaltpilz" für die Atlantische Allianz (eine Entwicklung, die heute auch manche Politikwissenschaftler befürchten). Präsident Clinton sah ein starkes Europa allerdings positiver, nämlich als wertvoller Verbündeter, der die USA auch entlasten könnte. Die neue NATO versucht, den Europäern mehr Autonomie und Bewegungsfreiheit innerhalb des Bündnisses zu geben, Europa aber dennoch im nordatlantischen Bündnis zu halten. Jedoch wird erst die Zukunft weisen, ob die NATO die durch den europäischen Einigungsprozeß auftretenden Veränderungen überleben wird, oder ob die ferne Zukunft die traurigen Visionen einer zunehmenden militärischen Rivalität zwischen den USA und Europa Wirklichkeit werden läßt - wirtschaftliche Streitereien gibt es ja bereits (Stichwort: Bananen-Krieg, hormonbehandeltes Rindfleisch etc.) Das Strategische Konzept thematisiert diese Frage nur insoweit, als die Partnerschaft zwischen Nordamerika und Europa betont wird.

Der Erweiterungsprozeß

Im Jahr 1999 wurde, wie oben festgestellt, nicht nur ein Strategisches Konzept unterzeichnet und der 50.Geburtstag der Allianz gefeiert, es wurden auch drei neue Mitglieder (Polen, Ungarn, Tschechien) in die NATO aufgenommen. Dieser erfolgreiche Abschluß der ersten Erweiterungsrunde nach Ende des Kalten Kriegs ist ein historisches Ereignis. Es muß allerdings festgestellt werden, daß die inneren Veränderungen der NATO wahrscheinlich noch wichtiger sind, obwohl die Medienberichterstattung die Osterweiterung in den Mittelpunkt stellte. So meinen auch Nelson und Szayna: "...the main development regarding Euro-Atlantic security in the 1990s has been NATO’s reinvention. (...) Enlargement is symptomatic of, rather than central to, NATO’s deeper transformation".

Die Osterweiterung erfüllt für die NATO mehrere wichtige Interessen. Zunächst trägt sie dazu bei, daß der Raum Mittel- und Osteuropa stabilisiert wird. Die neuen Demokratien im Osten können durch eine Einbindung in die NATO wesentlich gestärkt werden. Ein weiterer in der Literatur immer wieder genannter Grund ist eine gewisse Angst vor Deutschland. Zwar hat sich Deutschland seit 1945 maßgeblich verändert. Aber der Schock des 2.Weltkriegs scheint bei vielen Staaten noch so tief zu sitzen, daß man froh ist, Deutschland mit NATO- und EU-Mitgliedern umringt zu sehen - noch dazu, wo Deutschlands Macht und Einfluß in Europa seit der Wiedervereinigung im Wachsen begriffen sind. So können militärische Alleingänge Deutschlands vermieden und seine Westbindung permanent gesichert werden. Aber die neue Konstellation ist auch nicht zum Nachteil Deutschlands. Vielmehr ist es nur im Interesse Deutschlands, nicht ein NATO-Außenposten, sondern vielmehr von anderen, mit ihm verbündeten Staaten umringt und so besser geschützt zu sein. Stephen Larrabee meint in diesem Zusammenhang über die Erweiterung: "It will also resolve Germany’s historical security dilemma. Rather than being the most exposed edge of the Western security community, Germany will now be surrounded by a group of democratic, peaceful allies".

Für die zur NATO beigetretenen Staaten ist die NATO vor allem als Garant der Sicherheit gegenüber dem (v.a. in Polen) mißtrauisch beäugten Rußland. Im Falle Polens ist der NATO-Beitritt zur gleichen Zeit Sicherheit vor und Versöhnung mit Deutschland. Was aber noch wichtiger erscheint: Viele osteuropäische Staaten drängen in die NATO, weil sie damit ihre Chancen auf einen EU-Beitritt zu erhöhen glauben. Für viele ist die NATO eine erste Zwischenstation auf dem Weg in die EU.

Die größte Schwierigkeit nicht nur für die erste, sondern auch für alle zukünftigen Erweiterungsrunden der NATO ist die Beziehung zu Rußland. Moskau definiert die früheren Staaten der Sowjetunion und des Warschauer Pakts noch immer als seine "sphere of influence" und lehnt jede NATO-Erweiterung massiv ab. Das russische Großmachtgehabe in diesem Zusammenhang entspricht nicht mehr der politischen Realität. Auch sollte, wie Stephen Larrabee feststellt, Rußland kein Veto über die Sicherheitsoptionen von souveränen, unabhängigen Staaten zugestanden werden, nur weil diese einmal Teil der Sowjetunion gewesen sind. Dennoch würde man gut daran tun, Rußlands Proteste ernst zu nehmen. Immerhin verfügt Rußland noch immer über Atomwaffen. Ein weiteres "Vordringen" der NATO in den Osten könnte nationalistische, antidemokratische Bewegungen in Rußland noch stärker machen, als sie ohnehin schon sind. Larrabee meint in diesem Zusammenhang über die Osterweiterung: "This could spark a dangerous backlash in Russia". Das Verhältnis zwischen der NATO und Rußland würde an einer weiteren Runde auf jeden Fall massiv leiden. Und wenn man die Versicherungen der NATO in ihrem Strategischen Konzept, ein gutes Verhältnis mit Rußland aufrechterhalten zu wollen, nicht als bloß deklaratorisch nimmt, kann dies keinesfalls im Interesse der NATO liegen. Über eine mögliche Trübung dieses Verhältnisses durch eine zweite Runde der Osterweiterung schweigt das Strategische Konzept allerdings beharrlich, wie auch über viele andere oben skizzierten Probleme des Erweiterungsprozesses.

Die wichtigste im Neuen Strategischen Konzept gemachte Aussage zur Erweiterung ist das Bekenntnis zu einer "open door"-Politik. Im Abschnitt 39 heißt es dazu: "Das Bündnis bleibt nach Artikel 10 des Washingtoner Vertrags für neue Mitglieder offen. Es wird erwartet, daß es in den nächsten Jahren weitere Einladungen an Staaten aussprechen wird, die willens und fähig sind, die Verantwortlichkeiten und Pflichten der Mitgliedschaft zu übernehmen (...) Kein europäischer Staat, dessen Aufnahme die Ziele des Vertrags erfüllen würde, wird von dieser Erwägung ausgeschlossen".

Im Kommuniqué der Staats- und Regierungschefs zum Washingtoner Gipfel heißt es noch deutlicher: "Wir versichern, daß die NATO auch in Zukunft neue Mitglieder willkommen heißen wird, die in der Lage sind, die Prinzipien des Vertrags zu fördern und zu Frieden und Sicherheit im euro-atlantischen Raum beizutragen. (...) Die drei neuen Bündnispartner werden nicht die letzten sein".

Am Gipfel von Washington wurde kein Zeitrahmen für die Entwicklung beschlossen. Klar ist nur, daß zu langes Warten die Hoffnung der potentiellen Beitrittskandidaten enttäuschen und eine Abwendung vom Westen bewirken könnte. Andererseits wird oftmals betont, daß man Rußland nicht zuviel auf einmal zumuten sollte.

Darüber, wer die nächsten Beitrittskandidaten sein werden, gibt das Strategische Konzept keine Auskunft. Im Gipfelkommuniqué werden nur allgemein die Bemühungen von Rumänien, der Slowakei, Slowenien, Estland, Lettland, Litauen, Bulgarien, Makedonien und Albanien als lobenswert erwähnt. Dies beinhaltet aber weder eine Aufnahmegarantie, noch eine Aussage darüber, wer von den Genannten zuerst aufgenommen wird.

Nuklearstreitkräfte

Ein kurzer, aber heftiger Streit in den Gesprächen zum Neuen Strategischen Konzept entzündete sich an der Frage des Ersteinsatzes von Kernwaffen nach einem Vorstoß des deutschen Außenministers Joschka Fischer. Dieser forderte, den Verzicht auf den nuklearen Ersteinsatz im Neuen Strategischen Konzept festzuschreiben. Da der Warschauer Pakt mit seiner großen konventionellen Streitmacht nicht mehr existiere, argumentierte der grüne Minister, könne die NATO auch von ihrer Drohung abrücken, im Falle eines gegnerischen Angriffs Atomwaffen als erste einzusetzen. Dieses Ansinnen stieß nicht nur in der Allianz auf breite Ablehnung innerhalb der NATO, auch der deutsche Verteidigungsminister Scharping von den Sozialdemokraten stellte sich gegen den Vorschlag. Die überwiegende Mehrheit in der Allianz vertrat die Meinung, daß die atomare Abschreckung auch in der Zeit nach dem Kalten Krieg die Sicherheit des Bündnisses erhöhen kann.

So heißt es dann auch im Strategischen Konzept: "Der grundlegende Zweck der nuklearen Streikräfte der Bündnispartner ist politischer Art: Wahrung des Friedens und Verhinderung von Zwang und jeder Art von Krieg. Nukleare Streitkräfte werden weiterhin eine wesentliche Rolle spielen, indem sie dafür sorgen, daß ein Angreifer im Ungewissen darüber bleibt, wie die Bündnispartner auf einen militärischen Angriff reagieren würden. Sie machen deutlich, daß ein Angriff jeglicher Art keine vernünftige Option ist". In diesem Sinne werden auch die Nuklearstreitkräfte als "oberste Garantie für die Sicherheit der Verbündeten" bezeichnet. Damit verbindet sich auch ein Bekenntnis zur weiteren Stationierung von Nuklearwaffen in Europa, allerdings auf Mindestniveau. Es wird im Neuen Strategischen Konzept allerdings festgestellt, daß die momentane Sicherheitslage den Einsatz von Nuklarwaffen unwahrscheinlich macht. Daher wird ein Bekenntnis zur Abrüstung ausgesprochen, das u.a. eine "Beseitigung aller nuklearen Artillerie und bodengestützten nuklearen Kurzstreckenflugkörper" beinhaltet. Es wird auch festgestellt, daß Nuklearwaffen der NATO nicht mehr länger auf irgendein Land zielen. Was nicht im Strategischen Konzept steht, ist, daß sich eine Zielprogrammierung mit einigen Knopfdrücken ändern läßt.

Zusammenfassung und Schlußfolgerungen

Im theoretischen Teil der Arbeit wurde unter Zuhilfenahme des Konzepts des amerikanischen Politologen Stephen Walt herausgearbeitet, aus welchen Gründen Allianzen bei geänderten Bedingungen andauern oder kollabieren. Eines der zahlreichen Ergebnisse war, daß Allianzen oft als "balancing", also als Zusammenschluß kleinerer Staaten gegen eine große Bedrohung entstehen, wie dies auch bei der NATO historisch der Fall war. Die veränderte Bedrohungslage, also insbesonders das Abhandenkommen eines alten Feindes kann zur Auflösung der betreffenden Allianz führen - es sei denn, sie ändert sich, findet neue Bedrohungen, neue Aufgaben. Da sich die NATO in einer ähnlichen Situation wie im theoretischen Teil beschrieben befindet, liegt es nahe, die Änderungen herauszuarbeiten, denen sich die NATO unterzog, um dem nach Ende des Kalten Kriegs vielen als unausweichlich scheinenden Schicksal ihrer Auflösung zu entgehen. Entsprechend lautet auch die Forschungsfrage: Welche strategischen Weichenstellungen und Umorientierungen unternahm die NATO nach Ende des Kalten Kriegs, um der neuen weltpolitischen Situation gerecht zu werden? Zum Zwecke der Beantwortung wurde im Anschluß eine Analyse des am Washingtoner Gipfel beschlossenen Neuen Strategischen Konzepts der NATO unternommen - unter Berücksichtigung der Sekundärliteratur, des historischen Umfelds (Untergang der Sowjetunion, Kosovo-Krieg etc.) sowie anderer Dokumente des Gipfels von Washington (Kommuniqué der Staats- und Regierungschefs etc.).

Angesichts der vom Neuen Strategischen Konzept skizzierten Bedrohungsszenarien und der während des Kosovo-Kriegs geschaffenen Fakten scheint sich die NATO von einer rein defensiven Organisation zu einem offensiver agierenden, globalen und flexibleren Instrument der militärischen Krisenbewältigung zu entwickeln, das in regionale Konflikte eingreift und versucht, politische Gebilde zu stabilisieren und Menschenrechte gegen technisch weit unterlegene "Schurkenstaaten" auch mit Waffengewalt durchzusetzen. In der vorliegenden Arbeit werden aber auch die möglichen Gefahren und Probleme diskutiert, die sich aus einer "Selbstmandatierung" der NATO zum humanitären Einsatz und der möglichen Mißbrauchsanfälligkeit der "humanitären Intervention" ergeben. Globales Handeln erscheint in einer globalisierten Welt aber unausweichlich.

Das Neue Strategische Konzept gibt zum neuen Verhältnis mit Rußland nur ungenügende Antworten, die sich im Bereich, allgemeiner, blumiger Formulierungen bewegen, die eine Harmonie betonen, die in Wirklichkeit nicht vorhanden ist. Dies zeigt zwar die Überwindung des Denkens des Kalten Kriegs, in dem Rußland als Hauptfeind galt, bleibt aber unbefriedigend für jeden, der die Spannungen zwischen dem Westen und Rußland verfolgte, die sich NATO-Osterweiterung, Kosovo-Krieg und zuletzt dem Tschetschenien-Krieg ergaben. Europa, das an einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) arbeitet, wird im Rahmen des Neuen Strategischen Konzepts mit einer "Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität" bedacht. Diese demonstriert die größere Rolle, die die europäischen Verbündeten aller Voraussicht nach in Zukunft spielen werden. Bedenkt man die im theoretischen Teil gewonnene Erkenntnis, daß Allianzen wahrscheinlicher auseinanderbrechen, wenn einer der Bündnispartner erstarkt, so stellt sich die Frage, ob Nordamerika und Europa langfristig gemeinsame Wege in der Sciherheitspolitik gehen werden, erneut. Das Neue Strategische Konzept thematisiert diese Frage nicht wirklich, sondern ist im Geiste des Dogmas der Untrennbarkeit zwischen den Sicherheitsinteressen Nordamerikas und Europas verfaßt und begrüßt ferner alle Einigungsbestrebungen Europas, auch im sicherheitspolitischen Bereich. Unbefriedigend, weil zu vage, bleiben auch die Feststellungen zum Erweiterungsprozeß. Die Politik der "offenen Tür" wird fortgesetzt, neue Mitglieder werden auch in Zukunft aufgenommen. Das Strategische Konzept gibt aber weder darüber Auskunft, wer dies sei, noch wann die nächste Erweiterung stattfinden wird. Auch darüber, wie man bei fortschreitender Erweiterung ein partnerschaftlicher Verhältnis zu Rußland aufrechterhalten will, wird geschwiegen. Das Neue Strategische Konzept ist vielfach eine Ansammlung von allgemeinen Formulierungen von einiger Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit; und man hat den Eindruck, daß manche kontroversiellen Themen ausgespart wurden. Dennoch kann eine genauere Betrachtung dieses Konzepts darüber Aufschluß geben, was die zukünftigen Weichenstellungen der NATO nach Ende des Kalten Krieges sind.

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