Zur Identitätsbildung
Jugendlicher durch die neuen Medien
1.)
Welche Medien nutzen Jugendliche? In welcher Medienumwelt lebt die Jugend?
Man
kann davon ausgehen, dass Medien im Alltag Jugendlicher eine dominante Rolle
spielen.1 Dabei zeigt sich, dass die Medienumwelten, in denen
die Jugendlichen leben, immer komplexer werden. Verschiedene Print- und
audiovisuelle Medien gehören im privaten Bereich mittlerweile zur
selbstverständlichen Alltagsausstattung und haben auch große Bedeutung für ihre
Identitätsbildung. Die Allgegenwart der Medien und die Mediatisierung der
Gesellschaft haben also auch nicht vor den Türen der Kinder- und Jugendzimmer
haltgemacht.2
Viele
Jugendliche besitzen eine medienparkähnliche Ausstattung und konsumieren im
Rahmen eines reichhaltigen Medienspektrums. Wie in allen Bevölkerungsgruppen
erfreut sich das Fernsehen auch unter ihnen einer besonderen Beliebtheit und
Bedeutung. Dabei sind v.a. zwei Entwicklungen zu beobachten: Einerseits die
Veränderung des Fernsehens zum „Nebenbei-Medium“, andererseits die immer
größere Beliebtheit kommerzieller, aber insbesondere Musiksender (v.a. MTV und
VIVA).3
Während
Tageszeitungen, Zeitschriften und Illustrierte über eine hohe Reichweite unter
Jugendlichen verfügen, ist doch die Bedeutung auf Grund des für sie verwendeten
geringen Zeitbudgets niedrig. Wesentlich wichtiger sind auditive Medien aller
Art, z.B. Radio, CD etc. Musik spielt eine zentrale Rolle und v.a. das Radio
wird hauptsächlich zum Musikhören genutzt.4 Die Nutzung auditiver
Medien übertrifft auch die Fernsehnutzung.
Eine
wichtige Entwicklung ist ferner die steigende Bedeutung der Computermedien (PC,
Spielkonsolen etc.). Der Computer wird hauptsächlich zum Spielen verwendet.
Internet-Surfen ist ganz besonders „in“.5
Wichtig
für die Jugendlichen ist auch die Verwendung des Walkman. Dieses Medium scheint
besonders die Individualität des Menschen zu fördern; vermag man mit seiner
Hilfe doch prinzipiell jeden Ort zum individuellen, ich-bezogenen Medienort zu
verwandeln. Weitere häufig genutzte Medienorte sind das Kino bzw. Kinocenter
und die Diskothek.6 Im Gegensatz zu vielen
Älteren haben Jugendliche meist keine Berührungsängste mit neuen Techniken und
Medien.
Jugendliche
leben also in pluralen Medienwelten, sind also nicht auf Fernsehen allein
fixiert. Jugendliche nutzen diese vielen Medien oft auch gleichzeitig; gesucht
werden Reizintensität, Nervenkitzel, Glücks- und Genussmomente, entstehend aus
dem schrillen Wechsel des „Switchens“.7 Ein solches
Rezeptionsverhalten erscheint freilich als das blanke Gegenprogramm zum
traditionellen Wert des geduldig Abwarten-Könnens und der geduldigen,
gelassenen Lebensplanung. Die Lebenstugenden haben sich eben verändert. Das
Lebensgefühl des „live fast, die young“ wird immer wichtiger. Angesichts des
allgegenwärtigen Todes durch Drogen oder AIDS wird der erlebnisintensive
„Kick“, die ekstasenhafte Feier des Augenblicks gesucht.8
Jugend
ist zunehmend auch Werbejugend. Die Werbung ist ein wesentlicher Teil der
jugendlichen Medienumwelt – nicht zuletzt wird die Jugend von der Wirtschaft
auch mit Werbung überflutet, stellt sie doch eine interessante und immer
kaufkräftigere Zielgruppe dar. Werbung ist in der Regel auch nicht unbeliebt.
Man kann davon ausgehen, dass Jugendliche in der Regel äußerst
„werbekompetent“, also durchaus in der Lage sind, individuell und souverän mit
der Fülle der Angebote umzugehen und eine aktive Auseinandersetzung zu führen.9
Freilich
interessiert Jugendliche an der Werbung nicht so sehr das beworbene Produkt.
Eine große Wirkung auf die Identitätsbildung jugendlicher Rezipienten hat
vielmehr der mit dem Produkt verknüpfte Lebensstil. Dies ist ja auch ein Ziel
der Wirtschaft: nämlich das Produkt mit einem bestimmten Lebensgefühl
„aufzuladen“.
2.)
Musik als heimliches „Leitmedium“ der Jugend
Man
kann davon ausgehen, dass moderne Musik das heimliche „Leitmedium“ der Jugend
ist. Nicht nur werden die auditiven Medien von allen am meisten genutzt und
dabei meistens zum Hören von Musik verwendet, sondern auch im Rahmen der
visuellen Medien (wie Fernsehen) sind es Musiksender wie VIVA und MTV, die sich
steigender Beliebtheit erfreuen. Musik, Musikvideos, Konzerte etc. dienen heute
als identitätsstiftende Instanzen für weite Kreise Jugendlicher.
Jugendliche
Musik ist oft eine Art „Gegenkultur“. Provokation und Selbstausdruck spielen
eine Rolle.10 Musik, die oftmals in
Gleichaltrigengruppen rezipiert wird, bekommt die Bedeutung eines neuen Sozialisationsfaktors,
der Erziehungsfunktionen übernimmt und hinter dem das Elternhaus zunehmend
zurücktritt. Die Frage nach der eigenen Identität oder nach der Weltanschauung
wird heute oftmals nicht mehr im Rahmen der Kernfamilie oder der Schule
gestellt, sondern unter Einbeziehung anderer Instanzen.
Jochen
Hörisch bezeichnet die Rockmusik als „unwiderstehliche Glaubenspropaganda der
westlichen Zivilisation“ an der Schwelle zwischen Kult und Markt. Er nennt
Elvis eine moderne religiöse Ikone, Hendrix und Cobain zeitgemäße Märtyrer und
Graceland oder Neverland Weihe- und Pilgerstätten des 21.Jahrhunderts.11 Musik schafft Mythen in der
sonst so durchrationalisierten Welt. Wird Musik so Ersatzreligion der Jugend?
Nicht
nur die Musik, auch der Text der Rock- und Poplieder kann die jugendliche
Situation thematisieren. Dabei geht es weniger um kritisch-argumentative
Reflexion, sondern eher um emotionale Auseinandersetzungen, um Verständigung
über den eigenen Lebensinhalt. Die kurzen Sätze, die wie zusammenhanglose
Gedanken wirken, sind respektlos, provozierend und frech. Mit Musik kann
Konsens über jugendliche Stimmungen und Erfahrungen hergestellt werden.
Wichtig
für die Identitätsbildung ist oft auch die Person des Pop- und Rockstars; er
hat es in den Augen der Jugendlichen durch Genie, Arbeit und Glück geschafft,
eine Position zu erreichen, in der er sich vollkommen selbst verwirklichen
kann. Die Stars sind Identifikationsobjekte und damit Hilfen bei der Suche nach
der eigenen Identität.12
3.)
Das „Verschwinden der Kindheit“ (Postman)
Der
amerikanische Medientheoretiker Neil Postman meint in unserer Gesellschaft ein
„Verschwinden der Kindheit“ diagnostizieren zu können. Er beobachtet z.B., dass
die Unterscheidung zwischen Kind und Erwachsenem hinsichtlich der Kriminalität
– sowohl hinsichtlich der Täter als auch der Opfer – immer mehr verschwindet.
Es gibt heute kaum mehr ein Verbrechen, das man früher den Erwachsenen
vorbehalten glaubte, das nicht auch von immer mehr Kindern begangen wird
(entsprechend wird in den USA das Jugendstrafrecht zunehmend ausgehöhlt).13
Auch
das Sexualverhalten Jugendlicher gleicht sich nach Postman dem der Erwachsenen
an. So ist nach Postman die sexuelle Aktivität unter Frauen ab dreizehn in den
letzten Jahrzehnten massiv gestiegen. Beim Konsum von Alkohol und Drogen gibt
es zwischen Jugendlichen und Erwachsenen ohnehin kaum mehr nennenswerte
Unterschiede.14 Dazu kommt: Die Modebranche
setzt Kinder (etwa dreizehnjährige Mädchen) als attraktive Models ein und
leistet damit auch der sexuellen Ausbeutung der Kinder Vorschub.15 Auch in den Bereich des
Spitzensports dringen Kinder immer häufiger vor – dort werden von ihnen
zunehmend „erwachsene“ Leistungen und erwachsenes Benehmen verlangt (Disziplin,
starre Regeln, eisernes Training etc.).16
Das
Verschwinden der Generationengrenze bedeutet nach Postman nicht nur, dass die
Kinder den Erwachsenen ähnlicher werden, sondern auch diese den Kindern. So
taucht nach Postman überall in der Gesellschaft (v.a. im Fernsehprogramm) neben
dem Erwachsenen-Kind auch der Kind-Erwachsene auf, z.B. in Quizsendungen.
Solche Sendungen sind für Postman eine Parodie auf das Klassenzimmer - kindliche Bewerber werden für Altklugheit
belohnt und sind ansonsten den Demütigungen des Schulkindes ausgesetzt.17 Die übrigen Erwachsenen,
die in den Fernsehsendungen gezeigt werden, ähneln auch in vielfacher Weise
Kindern. Sie gehen keiner geregelten Arbeit nach, kümmern sich nicht um
Politik, praktizieren keine Religion und repräsentieren keine Tradition. Sie
planen nicht vorausschauend und bewegen sich auf dem intellektuellen Niveau
eines Achtjährigen.18
Wodurch
erklärt sich nach Postman dieses „Verschwinden der Kindheit“? Seiner Meinung
nach ist „Kindheit“ und „kindliches Verhalten“ keine biologische Notwendigkeit,
sondern ein Produkt von Kultur und Gesellschaft.19 Er bemüht sich um den
aufwändigen historischen Nachweis, dass die Vorstellung von einem qualitativen
Unterschied zwischen Kind und Erwachsenem dem Mittelalter vollkommen fremd war.20 Man betrachtete Kinder als
kleine Erwachsene. Die Idee, dass Kinder eines besonderen Schutzes bedürften,
war dem Mittelalter ebenfalls fremd. Erst die Neuzeit brachte hier nach Postman
Veränderungen. Vor allem die Verbreitung der Fähigkeiten des Lesens und
Schreibens schuf ein Bewusstsein, dass Kindheit und Erwachsenenalter sich
qualitativ voneinander unterscheiden. Das hat vor allem mit eben dieser
Fähigkeit zu tun, die man erst mühsam auf dem Weg zum Erwachsenenalter erwerben
musste. Außerdem entstanden Tabus (etwa um die Sexualität) zum „Schutz“ der
Kinder.
Nun werden diese beiden Punkte durch die neuen Medien immer mehr relativiert. Die Kulturtechnik des Lesens und Schreibens verliert, sagt Postman, auf Grund des Fernsehens an Bedeutung – und um intellektuell an die Welt des Fernsehens Anschluss zu finden, bedarf es nicht viel. Während Lesen und Schreiben als Kulturtechnik einen Unterschied zwischen Kind und Erwachsenem schafft, heben neue Informationsmedien diesen auf. Und: Das Fernsehen bewahrt auch keine Tabus und Geheimnisse, sondern konfrontiert Kinder und Jugendliche tagtäglich mit Homosexualität, Sadomasochismus, Inzest etc., die in keiner Talkshow fehlen dürfen. Ohne Geheimnisse gibt es aber keine Kindheit mehr. So ist das Fernsehen nach Postman also ein Zerstörer der Kindheit.
Meine
Kritik an Postman ist folgende: Seine Ansätze sind bewahrpädagogisch
ausgerichtet und laufen auf eine Dämonisierung des Fernsehens hinaus. In der
Geschichte tritt diese Tendenz immer wieder auf; kaum ist ein neues Medium
entwickelt, ist jemand zur Stelle, der es verteufelt (Platon polemisiert in
„Phaidros“ z.B. gegen den angeblich zerstörerischen Einfluss der Schrift). Was
Postman auf jeden Fall übersieht, ist: Kinder und Jugendliche müssen nicht nur
mit dem „primitiven“ Fernsehen umgehen lernen, sondern auch mit anderen Medien
(wie z.B. Internet), die ihnen sehr wohl Kompetenz abverlangen. Dennoch
erscheint es mir plausibel, davon auszugehen, dass die neuen Medien ein
„Verschwimmen der traditionellen Generationsgrenzen“21 bewirken, was wiederum
Auswirkungen auf die Identitätsbildung von Kindern und Jugendlichen haben kann.
4.)
Die „Patchwork-Identität“ (Ferchhoff)
Nach
Ferchhoff wird der Begriff der Identität zunehmend problematisch, zumal das,
was Identität ist, sich längst nicht mehr eindeutig bestimmen lässt und keinen
konsistenten Wesenskern im Sinne eines stabilen Sinn-Mittelpunktes hat.22 Man beobachtet, dass
Jugendliche mit ihrer Identität experimentieren; sie nehmen Stilelemente aus
Filmen, Werbesendungen, Video-Clips, Computerspielen in ihre Persönlichkeit
auf. Es entsteht eine Form von „Identitätspluralität“ – die einzelnen
übernommenen, nicht selten völlig heterogenen „Identitätsteile“, die nur
begrenzt verbindlich sind, werden lose miteinander verknüpft wie ein
„Fleckerlteppich“; diese neue Form von Identität nennt Ferchhoff entsprechend
„Patchwork-Identität“.
Der
Begriff der „Heimat“ löst sich überhaupt auch immer mehr auf; traditionelle
Heimat hört auf, ein Teil der Identität zu sein. Denn immer mehr übernehmen
medial vermittelte Gemeinschaften (von der Fangemeinde eines Popstars bis zur
Newsgroup im Internet) sinnstiftenden Charakter für die Menschen. Der Prozess
der Identitätsbildung dauert länger (er ist keinesfalls mit der Großjährigkeit
abgeschlossen), wird komplizierter, Identität ist zunehmend unklar, alte
Traditionen gehen verloren. Aber in Ablehnung einer einseitigen
Medien-Apokalyptik sollte man auch die Chancen dieser Entwicklung sehen: In
alten Zeiten wurde uns ganz klar vorgegeben, was unsere Identität zu sein hat,
heute wählen wir. Der Verlust von Sicherheit wird so betrachtet zu einem Mehr
an individueller Freiheit.
Literatur:
Wilfried
Ferchhoff: Identitätsbildung im Umgang mit neuen Medien. Referat
bei der Fachtagung zu Praxis und Theorie der Computermedienpädagogik im
Studienzentrum Josefstal 1999. Im Internet: http://www.josefstal.de/mac/texte/ferchhoff.htm
(Stand Juni 2000).
Jochen Hörisch
(Hg.): Mediengenerationen. Frankfurt am Main 1997.
Jürgen Hüther,
Bernd Schorb, Christine Brehm-Klotz (Hg.):
Grundbegriffe Medienpädagogik. München 1997.
Neil Postman:
Das Verschwinden der Kindheit. Frankfurt am Main, 1997.
Christa Zöller:
Jugend zwischen Traumwelt und Protest. In: Hermann-Josef Beckers,
Hubert Kohle: Kulte, Sekten, Religionen. Frankfurt 1994.
Der Autor:
Patrick Horvath, geboren 1977 in Linz. Magister der Philosophie und
Politikwissenschaft, Universität Wien. Diplomand am Institut für Publizistik
und Kommunikationswissenschaft ebenda.
Adresse: Dr.Patrick
Horvath, Florianigasse 46, 1080 Wien, patrick.horvath@telering.at
1 Vgl. auch Hüther u.a., Grundbegriffe, S.163.
2 Ferchhoff, Identitätsbildung im Umgang mit neuen Medien, S.3.
3 Hüther u.a., Grundbegriffe, S.164.
4 Ebd., S.165.
5 Ebd.
6 Ferchhoff, Identitätsbildung im Umgang mit neuen Medien, S.4.
7 Ebd., S.5.
8 Ebd., S.7.
9 Ebs., S.8.
10 Hüther, Grundbegriffe, S.289.
11 Hörisch, Mediengenerationen, S.73f.
12 Zöller, Jugend zwischen Traumwelt und Protest, S.154.
13 Postman, Das Verschwinden der Kindheit, S.152f.
14 Ebd., S.155.
15 Ebd., S.141.
16 Ebd., S.148.
17 Ebd., S.145.
18 Ebd., S.144.
19 Ebd., S.7 und S.161.
20 Ebd., S.24f.
21 Ferchhoff, Identitätsbildung im Umgang mit neuen Medien, S.5.
22 Ebd., S.8.