Patrick Horvath

Werner Horvaths Manifeste

Ausschnitt aus einem Kommentar, verfaßt anläßlich des 47.Geburtstags des Künstlers - und noch immer gültig

Charakteristisch an der Horvath’schen Darstellung der Physiognomien ist ihre Codierung in isodense Flächen. Isodense Flächen sind Flächen gleicher Dichte beziehungsweise im konkreten Fall der bildlichen Darstellung: Flächen gleicher Helligkeit. Mit solchen Darstellungsmethoden arbeitet der Radiologe; dies nützt auch der Maler Horvath für einen besonderen Effekt aus, dessen Vorraussetzung kurz erläutert sei. Der Mensch verfügt über zwei Arten der visuellen Wahrnehmung: Das Stäbchen- und das Zapfen- Sehen. Stäbchen und Zapfen sind Photorezeptoren in unserer Netzhaut. Trifft Licht von gewisser Intensität auf sie, werden Nervenimpulse ausgelöst und an das Gehirn weitergeleitet; Sehen wird so überhaupt erst möglich. Nun gehört es zu den wahrnehmungsphysiologischen Besonderheiten des Sehens, daß die Stäbchen, welche für das Schwarz-Weiß-Sehen verantwortlich sind, bei geringerer Lichtintensität aktiviert werden als die Zapfen. Bei geringer Intensität des Lichts, etwa in der Dämmerung, sehen wir daher nur Schwarz-Weiß und entsprechende Helligkeitsabstufungen; erst, wenn die Lichtmenge größer wird, sind wir in der Lage, Farben zu erkennen und das Helligkeitssehen tritt immer mehr in den Hintergrund. Horvath malt nun Flächen der Gesichter, als deren Vorlage er ein Schwarz-Weiß-Foto benutzt, zwar bunt und farbenprächtig, jedoch in der dem Grauton der Fotographie entsprechenden Helligkeit. Der Bart Marxens etwa ist sehr hell auf der Skala der Grautöne zwischen Schwarz und Weiß, die Augen Mao Tse-tungs dunkel. Für erstere Fläche verwendet Horvath nun z.B. ein genauso helles Gelb, für zweitere z.B., ein genauso dunkles Rot wie auf seiner Vorlage. Entsprechend verfährt er nach anderen graduellen Abstufungen. Bei hellem Tageslicht entsteht so ein Gewirr bunter Pflanzen, die meist erst bei genauerem Hinsehen ein Gesicht bilden. Betrachtet man dasselbe Bild aber in der Dämmerung, wirkt es aufgrund der stärkeren Aktivierung der Stäbchen wie ein realistisches Schwarz-Weiß-Foto, denn neben Farben tritt dann auch die Landschaft in den Hintergrund. Die Bilder ändern also dynamisch ihren Charakter, sie sehen zu verschiedenen Tageszeiten auch verschieden aus. M.C.Eschers Einfluß, die Abhängigkeit des Sehens vom Denken für die Kunst fruchtbar zu machen, zeigt sich hier deutlich.

Die bisherige Darstellung war notwendig, um zu einem Verständnis von Horvaths eigentümlichen Manifesten hinzuführen; sie entspringen seiner Erkenntnis der Notwendigkeit einer philosophischen Reflexion seiner Kunst. In den letzten Jahren begann er eine intensive Beschäftigung mit philosophischer Lektüre zur Kunst. Seine künstlerischen Manifeste sind die Frucht dieser Beschäftigung; in ihnen wird das breite Spektrum von den dadaistischen und surrealistischen “Traktaten”, Heideggers Fundamentalontologie bis hin zu Platons Kunsttheorien und den Ausrufen der Futuristen berücksichtigt. Die vorliegenden Manifeste sind also Zeugen einer fruchtbaren theoretischen Auseinandersetzung mit dem Wesen der Kunst.

Die Manifeste sind in Dialogform gehalten; im Zentrum der Dialoge steht - wie könnte es anders sein - die Kunst. Die einzelnen Personen, meist Akteure in grotesker Umgebung (die Palette reicht von der Irrenanstalt bis zur U-Bahn-Station), jeder einzelne steht für eine unterschiedliche Ansicht, äußern sich, durch die jeweilige Situation veranlaßt über Kunst. Ihre Äußerungen sind die von verschiedenen Philosophen dargelegten Weltanschauungen, die meist wörtlich übernommen, wie Bruchstücke eines fremden Kontextes, eingefügt werden. Die Arbeiten sind also Textcollagen; Variationen auf Bestehendes.

Warum entschied sich der Künstler zu einer solchen Form der Darstellung? Dies hängt mit den Voraussetzungen und Problemen postmodernen Denkens sowie mit dem gegenwärtigen wissenschaftstheoretischen Ansatz des “Konstruktivismus” zusammen; beides soll in Grundzügen erläutert werden.

Die europäische Philosophie, Tummelplatz des maßgeblichen Denkens, wird als historisches Phänomen aufgefaßt, das um 600 v.Chr. im alten Griechenland einsetzte. Ihre erste Voraussetzung, ihre Grundlage gleichsam, war der Logos, der sich gegen den Mythos wandte. Das logische, rationale Denken sollte Vorrang haben in der Erklärung der Welt. Die europäische Philosophie ist seit jeher eine Reflexion über die ersten Gründe des Seins unter Verwendung der Vernunft. Europa beschritt somit, so lehrt uns die Philosophiegeschichte, den “Sonderweg der Rationalität”; keine andere Kultur entwickelte eine auf der Rationalität basierende Philosophie, welche die Voraussetzung der auf der Vernunft aufbauenden Wissenschaft wurde. Das Vertrauen in den Logos beruhte allerdings auf einer Grundannahme, einem Dogma eigentlich, das erstmals vom Philosophen Parmenides formuliert wurde: Der Satz von der Logizität der Wirklichkeit beziehungsweise von der Selbigkeit von Denken und Sein. Diese Grundannahme besagt, daß sich die Wirklichkeit, die Welt, die wir nicht sind, prinzipiell vernünftig verhält; die Vernunft, ein Prinzip unseres Denkens, ist auch Prinzip der Welt. Oder nochmals anders formuliert: Zufällig verhält sich das gesamte Universum genau nach den Regeln des menschlichen Denkens.

Vom heutigen Standpunkt ist dies eine ungeheure Annahme; ungeheuer in ihrer Tragweite: Ohne wesentliche Beweise nimmt man eine vernünftige Basis des Kosmos an. Der Satz “Denken und Sein ist dasselbe” (Parmenides) stammt genau genommen aus einem tiefen, aber eigentlich irrationalen Urvertrauen in das rationale Denken. Wer kann beweisen, daß die letzten Gründe des Universums nicht unvernünftig sind?

Trotzdem ist diese Voraussetzung wesentlich für den Anspruch der Vernunft auf absoluten Vorrang im Denken. Gerade dieser Satz von der Logizität der Wirklichkeit wurde im 19.Jahrhundert heftigst bezweifelt; und die Zweifel, an einer solchen blauäugigen Annahme festzuhalten, waren durchaus berechtigt. Am nachhaltigsten wirkte sich in diesem Zusammenhang die Kritik Nietzsches aus. Statt einer vollständigen Darstellung seiner Kritik “aus zweiter Hand” soll eine Zitat angeführt werden, das seine Haltung zusammenfaßt: “Parmendides hat gesagt 'man denkt nicht, was nicht ist' - wir sind am andern Ende und sagen 'was gedacht werden kann, muß sicherlich eine Fiktion sein'.” (1)

Die Ablehnung der Selbigkeit von Denken und Sein, so begründet, so unausweichlich diese Konsequenz auch sein mag, birgt ein beachtliches Problem: Das Kriterium für die Verbindlichkeit des Denkens fällt. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte man sagen: Nundenn, dieser Gedanke ist unlogisch und daher zu verwerfen. Auch gab es bis zu diesem Zeitpunkt eine Art Zwang, gewisse Argumente nachvollziehen zu müssen, und was noch viel wesentlicher ist: Mit einer einheitlichen Methode des Denkens kann ein einheitlicher Diskurs geführt werden; es gab Kriterien für wahre und falsche Welterklärungen ebenso wie die Verpflichtung zu begrifflicher Strenge und argumentativer Stringenz.

Mit der Einheitlichkeit der Grundannahmen von der Welt ging jedoch auch die Einheitlichkeit des Diskurses vorloren, in der Philosophie wie in der Gesellschaft. Charakteristisch dafür ist die gegenwärtige weitgehende Auflösung des philosophischen Diskussionszusammenhangs. “Mit der Kritik der metaphysischen Grundvoraussetzung der Selbigkeit von Denken und Sein fällt auch die Grundlage für den Anspruch auf eine allgemein gültige - wahre - Welterklärung und Lebensdeutung weg. Die verschiedenen Prinzipien, von denen nun diese Aufgabe der Philosophie angegangen wird, lassen auch unterschiedliche Lösungen zu. Diese haben nun gegenüber den anderen konkurrierenden 'Meinungen' nur mehr die Auszeichnung möglicher Akzeptanz, möglicher Breitenwirkung. Sie können ihren Wahrheitsanspruch nicht mehr theoretisch rechtfertigen.” (2)

Diese “Meinungen” existieren nebeneinander, keine kann ein Kriterium der Wahrheit erfüllen. Die Einheit der philosophischen Reflexion wurde gebrochen, es setzte ein Prozeß der “gegenseitigen Entfernung und zunehmender Kommunikationslosigkeit zwischen den Philosophen verschiedener Richtungen ein” (3). Jedoch handelt es sich nicht bloß um Meinungsverschiedenheiten, sondern um den weitgehenden Verlust des Diskussionszusammenhangs. Die einzelnen philosophischen “Standpunkte” haben nun nichts mehr miteinander zu tun, man kann sie nicht mehr mit anderen Standpunkten verknüpfen. Man kann sich bloß noch “die Meinung sagen”, eine wirkliche Diskussion, die auf gegenseitiges Verständnis, Akzeptanz, Kommunikation beruht, ist nicht mehr möglich. Der Verlust der Kommunikation bedeutet eine wahrhaft babylonische Sprachverwirrung unserer Zeit. Sie beschränkt sich nicht nur auf die Kreise der Fachphilosophie, sondern ist zu einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen geworden. Die Menschen können sich nur mehr ihre Meinung sagen, ohne aber den Wahrheits- oder allgemeinen Gültigkeitsanspruch dieser erweisen zu können und ohne wirklich zum anderen “vorzudringen”, also einen echten Diskussionszusammenhang mit diesem aufzubauen.

Genau diese Situation gilt es Horvath in seinen “Manifesten” darzustellen. Er bedient sich dabei des Mittels der Textcollage; in den Dialog, den der Künstler entworfen hat, werden Zitate von Philosophen, teils bewußt vom ursprünglichen Kontext entfremdet, gegenübergestellt, als seien sie in einem Gespräch verwendet. Die Antworten, die auf Fragen gegeben werden, sind hier also keine wirklichen Antworten, die Entgegnungen keine wirklichen Entgegnungen, welche auf Verständnis des anderen Standpunkt beruhen. Die Kommunikationslosigkeit - Verständigung ist nach Jürgen Habermas eine Grundvoraussetzung der Kommunikation (4) - wird somit symbolisiert.

Die zweite zu erläuternde philosophische Voraussetzung sind die Ansichten des momentan aktuellen wissenschaftstheoretischen Diskurses des “Konstruktivismus” (es handelt sich hierbei nicht um die Strömung der Kunstgeschichte des 20.Jahrhunderts in Rußland!). Diese Ansicht beruht auf der Erkenntnis, daß all jenes, was der “naive Realist” unter dem Begriff “Wirklichkeit” zusammenfassen würde, “nicht mehr nur davon abhängt, was außerhalb von uns der Fall ist, sondern unvermeidlich auch davon, wie wir das Was erfassen” (5). Oder anders ausgedrückt: “Das vermeintlich Gefundene ist ein Erfundenes, dessen Erfinder sich des Aktes seiner Erfindung nicht bewußt ist, sondern sie als etwas von ihm Unabhängiges zu entdecken vermeint” (5) - seine Konstruktion also nicht erkennt.

Der für den Maler so wichtige Gedanke, daß das Bild Träger einer Aussage ist, es gleichsam als Ver-mittelndes (Medium) auftritt, ist evident. Dementsprechend wird bei Horvath die Kunst als Kommunikation, zumindest als Kommunikationsversuch, aufgefaßt. Der Umstand, daß jeder von uns in seiner eigenen “konstruierten” Welt lebt, die nur sehr wenig mit der der anderen zu tun hat, gemeinsam mit der zunehmenden Entfernung der philosophischen Diskurse voneinander nach Aufgabe des gemeinsamen Grundsatzes der Logizität der Wirklichkeit, wirft viele Fragen auf und diese werden auch in den Manifesten angesprochen: Wie ist Kommunikation überhaupt möglich? Was kann die Kunst dazu beitragen? Wie können die Konstruktionsmechanismen unserer subjektiven Wirklichkeit transparent gemacht werden? Wie bewältigt man das Leben in einer Welt der als fragwürdig erkannten Werte? Was kann die Kunst in unserer Zeit überhaupt noch leisten?

(1) Friedrich Nietzsche: Der Wille zur Macht, Aph.539.
(2) Johann Mader: Von der Romantik zur Post-Moderne. Einführung in die Philosophie II, Wien 1992.
(3) Wolfgang Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Stuttgart 1978.
(4) Roland Burkart: Kommunikationswissenschaft, Wien - Köln - Weimar 1995.
(5) Paul Watzlawick: Die erfundene Wirklichkeit, München - Zürich 1995.

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