Charakteristisch an
der Horvath’schen Darstellung der Physiognomien ist ihre Codierung in isodense
Flächen. Isodense Flächen sind Flächen gleicher Dichte beziehungsweise im
konkreten Fall der bildlichen Darstellung: Flächen gleicher Helligkeit. Mit
solchen Darstellungsmethoden arbeitet der Radiologe; dies nützt auch der Maler
Horvath für einen besonderen Effekt aus, dessen Vorraussetzung kurz erläutert
sei. Der Mensch verfügt über zwei Arten der visuellen Wahrnehmung: Das
Stäbchen- und das Zapfen- Sehen. Stäbchen und Zapfen sind Photorezeptoren in
unserer Netzhaut. Trifft Licht von gewisser Intensität auf sie, werden
Nervenimpulse ausgelöst und an das Gehirn weitergeleitet; Sehen wird so
überhaupt erst möglich. Nun gehört es zu den wahrnehmungsphysiologischen
Besonderheiten des Sehens, daß die Stäbchen, welche für das Schwarz-Weiß-Sehen
verantwortlich sind, bei geringerer Lichtintensität aktiviert werden als die
Zapfen. Bei geringer Intensität des Lichts, etwa in der Dämmerung, sehen wir
daher nur Schwarz-Weiß und entsprechende Helligkeitsabstufungen; erst, wenn die
Lichtmenge größer wird, sind wir in der Lage, Farben zu erkennen und das
Helligkeitssehen tritt immer mehr in den Hintergrund. Horvath malt nun Flächen
der Gesichter, als deren Vorlage er ein Schwarz-Weiß-Foto benutzt, zwar bunt
und farbenprächtig, jedoch in der dem Grauton der Fotographie entsprechenden
Helligkeit. Der Bart Marxens etwa ist sehr hell auf der Skala der Grautöne
zwischen Schwarz und Weiß, die Augen Mao Tse-tungs dunkel. Für erstere Fläche
verwendet Horvath nun z.B. ein genauso helles Gelb, für zweitere z.B., ein
genauso dunkles Rot wie auf seiner Vorlage. Entsprechend verfährt er nach
anderen graduellen Abstufungen. Bei hellem Tageslicht entsteht so ein Gewirr
bunter Pflanzen, die meist erst bei genauerem Hinsehen ein Gesicht bilden.
Betrachtet man dasselbe Bild aber in der Dämmerung, wirkt es aufgrund der
stärkeren Aktivierung der Stäbchen wie ein realistisches Schwarz-Weiß-Foto,
denn neben Farben tritt dann auch die Landschaft in den Hintergrund. Die Bilder
ändern also dynamisch ihren Charakter, sie sehen zu verschiedenen Tageszeiten
auch verschieden aus. M.C.Eschers Einfluß, die Abhängigkeit des Sehens vom
Denken für die Kunst fruchtbar zu machen, zeigt sich hier deutlich.
Die bisherige Darstellung war
notwendig, um zu einem Verständnis von Horvaths eigentümlichen Manifesten
hinzuführen; sie entspringen seiner Erkenntnis der Notwendigkeit einer
philosophischen Reflexion seiner Kunst. In den letzten Jahren begann er eine
intensive Beschäftigung mit philosophischer Lektüre zur Kunst. Seine
künstlerischen Manifeste sind die Frucht dieser Beschäftigung; in ihnen wird
das breite Spektrum von den dadaistischen und surrealistischen “Traktaten”,
Heideggers Fundamentalontologie bis hin zu Platons Kunsttheorien und den
Ausrufen der Futuristen berücksichtigt. Die vorliegenden Manifeste sind also
Zeugen einer fruchtbaren theoretischen Auseinandersetzung mit dem Wesen der
Kunst.
Die Manifeste sind in Dialogform
gehalten; im Zentrum der Dialoge steht - wie könnte es anders sein - die Kunst.
Die einzelnen Personen, meist Akteure in grotesker Umgebung (die Palette reicht
von der Irrenanstalt bis zur U-Bahn-Station), jeder einzelne steht für eine
unterschiedliche Ansicht, äußern sich, durch die jeweilige Situation veranlaßt
über Kunst. Ihre Äußerungen sind die von verschiedenen Philosophen dargelegten
Weltanschauungen, die meist wörtlich übernommen, wie Bruchstücke eines fremden
Kontextes, eingefügt werden. Die Arbeiten sind also Textcollagen; Variationen
auf Bestehendes.
Warum entschied sich der Künstler
zu einer solchen Form der Darstellung? Dies hängt mit den Voraussetzungen und
Problemen postmodernen Denkens sowie mit dem gegenwärtigen
wissenschaftstheoretischen Ansatz des “Konstruktivismus” zusammen; beides soll
in Grundzügen erläutert werden.
Die europäische Philosophie, Tummelplatz
des maßgeblichen Denkens, wird als historisches Phänomen aufgefaßt, das um 600
v.Chr. im alten Griechenland einsetzte. Ihre erste Voraussetzung, ihre
Grundlage gleichsam, war der Logos, der sich gegen den Mythos wandte. Das
logische, rationale Denken sollte Vorrang haben in der Erklärung der Welt. Die
europäische Philosophie ist seit jeher eine Reflexion über die ersten Gründe
des Seins unter Verwendung der Vernunft. Europa beschritt somit, so lehrt uns
die Philosophiegeschichte, den “Sonderweg der Rationalität”; keine andere
Kultur entwickelte eine auf der Rationalität basierende Philosophie, welche die
Voraussetzung der auf der Vernunft aufbauenden Wissenschaft wurde. Das
Vertrauen in den Logos beruhte allerdings auf einer Grundannahme, einem Dogma
eigentlich, das erstmals vom Philosophen Parmenides formuliert wurde: Der Satz
von der Logizität der Wirklichkeit beziehungsweise von der Selbigkeit von
Denken und Sein. Diese Grundannahme besagt, daß sich die Wirklichkeit, die
Welt, die wir nicht sind, prinzipiell vernünftig verhält; die Vernunft, ein
Prinzip unseres Denkens, ist auch Prinzip der Welt. Oder nochmals anders
formuliert: Zufällig verhält sich das gesamte Universum genau nach den Regeln
des menschlichen Denkens.
Vom heutigen Standpunkt ist dies
eine ungeheure Annahme; ungeheuer in ihrer Tragweite: Ohne wesentliche Beweise
nimmt man eine vernünftige Basis des Kosmos an. Der Satz “Denken und Sein ist
dasselbe” (Parmenides) stammt genau genommen aus einem tiefen, aber eigentlich
irrationalen Urvertrauen in das rationale Denken. Wer kann beweisen, daß die
letzten Gründe des Universums nicht unvernünftig sind?
Trotzdem ist diese Voraussetzung
wesentlich für den Anspruch der Vernunft auf absoluten Vorrang im Denken.
Gerade dieser Satz von der Logizität der Wirklichkeit wurde im 19.Jahrhundert
heftigst bezweifelt; und die Zweifel, an einer solchen blauäugigen Annahme
festzuhalten, waren durchaus berechtigt. Am nachhaltigsten wirkte sich in
diesem Zusammenhang die Kritik Nietzsches aus. Statt einer vollständigen
Darstellung seiner Kritik “aus zweiter Hand” soll eine Zitat angeführt werden,
das seine Haltung zusammenfaßt: “Parmendides hat gesagt 'man denkt nicht, was
nicht ist' - wir sind am andern Ende und sagen 'was gedacht werden kann, muß
sicherlich eine Fiktion sein'.” (1)
Die Ablehnung der Selbigkeit von
Denken und Sein, so begründet, so unausweichlich diese Konsequenz auch sein
mag, birgt ein beachtliches Problem: Das Kriterium für die Verbindlichkeit des
Denkens fällt. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte man sagen: Nundenn, dieser
Gedanke ist unlogisch und daher zu verwerfen. Auch gab es bis zu diesem
Zeitpunkt eine Art Zwang, gewisse Argumente nachvollziehen zu müssen, und was
noch viel wesentlicher ist: Mit einer einheitlichen Methode des Denkens kann ein
einheitlicher Diskurs geführt werden; es gab Kriterien für wahre und falsche
Welterklärungen ebenso wie die Verpflichtung zu begrifflicher Strenge und
argumentativer Stringenz.
Mit der Einheitlichkeit der
Grundannahmen von der Welt ging jedoch auch die Einheitlichkeit des Diskurses
vorloren, in der Philosophie wie in der Gesellschaft. Charakteristisch dafür
ist die gegenwärtige weitgehende Auflösung des philosophischen
Diskussionszusammenhangs. “Mit der Kritik der metaphysischen Grundvoraussetzung
der Selbigkeit von Denken und Sein fällt auch die Grundlage für den Anspruch
auf eine allgemein gültige - wahre - Welterklärung und Lebensdeutung weg. Die
verschiedenen Prinzipien, von denen nun diese Aufgabe der Philosophie
angegangen wird, lassen auch unterschiedliche Lösungen zu. Diese haben nun
gegenüber den anderen konkurrierenden 'Meinungen' nur mehr die Auszeichnung
möglicher Akzeptanz, möglicher Breitenwirkung. Sie können ihren
Wahrheitsanspruch nicht mehr theoretisch rechtfertigen.” (2)
Diese “Meinungen” existieren
nebeneinander, keine kann ein Kriterium der Wahrheit erfüllen. Die Einheit der
philosophischen Reflexion wurde gebrochen, es setzte ein Prozeß der
“gegenseitigen Entfernung und zunehmender Kommunikationslosigkeit zwischen den
Philosophen verschiedener Richtungen ein” (3). Jedoch handelt es sich nicht
bloß um Meinungsverschiedenheiten, sondern um den weitgehenden Verlust des
Diskussionszusammenhangs. Die einzelnen philosophischen “Standpunkte” haben nun
nichts mehr miteinander zu tun, man kann sie nicht mehr mit anderen
Standpunkten verknüpfen. Man kann sich bloß noch “die Meinung sagen”, eine
wirkliche Diskussion, die auf gegenseitiges Verständnis, Akzeptanz,
Kommunikation beruht, ist nicht mehr möglich. Der Verlust der Kommunikation
bedeutet eine wahrhaft babylonische Sprachverwirrung unserer Zeit. Sie
beschränkt sich nicht nur auf die Kreise der Fachphilosophie, sondern ist zu
einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen geworden. Die Menschen können sich nur
mehr ihre Meinung sagen, ohne aber den Wahrheits- oder allgemeinen
Gültigkeitsanspruch dieser erweisen zu können und ohne wirklich zum anderen
“vorzudringen”, also einen echten Diskussionszusammenhang mit diesem
aufzubauen.
Genau diese Situation gilt es
Horvath in seinen “Manifesten” darzustellen. Er bedient sich dabei des Mittels
der Textcollage; in den Dialog, den der Künstler entworfen hat, werden Zitate
von Philosophen, teils bewußt vom ursprünglichen Kontext entfremdet,
gegenübergestellt, als seien sie in einem Gespräch verwendet. Die Antworten,
die auf Fragen gegeben werden, sind hier also keine wirklichen Antworten, die
Entgegnungen keine wirklichen Entgegnungen, welche auf Verständnis des anderen
Standpunkt beruhen. Die Kommunikationslosigkeit - Verständigung ist nach Jürgen
Habermas eine Grundvoraussetzung der Kommunikation (4) - wird somit
symbolisiert.
Die zweite zu erläuternde
philosophische Voraussetzung sind die Ansichten des momentan aktuellen
wissenschaftstheoretischen Diskurses des “Konstruktivismus” (es handelt sich
hierbei nicht um die Strömung der Kunstgeschichte des 20.Jahrhunderts in
Rußland!). Diese Ansicht beruht auf der Erkenntnis, daß all jenes, was der
“naive Realist” unter dem Begriff “Wirklichkeit” zusammenfassen würde, “nicht
mehr nur davon abhängt, was außerhalb von uns der Fall ist, sondern
unvermeidlich auch davon, wie wir das Was erfassen” (5). Oder anders
ausgedrückt: “Das vermeintlich Gefundene ist ein Erfundenes, dessen Erfinder
sich des Aktes seiner Erfindung nicht bewußt ist, sondern sie als etwas von ihm
Unabhängiges zu entdecken vermeint” (5) - seine Konstruktion also nicht
erkennt.
Der für den Maler so wichtige
Gedanke, daß das Bild Träger einer Aussage ist, es gleichsam als Ver-mittelndes
(Medium) auftritt, ist evident. Dementsprechend wird bei Horvath die Kunst als
Kommunikation, zumindest als Kommunikationsversuch, aufgefaßt. Der Umstand, daß
jeder von uns in seiner eigenen “konstruierten” Welt lebt, die nur sehr wenig
mit der der anderen zu tun hat, gemeinsam mit der zunehmenden Entfernung der
philosophischen Diskurse voneinander nach Aufgabe des gemeinsamen Grundsatzes
der Logizität der Wirklichkeit, wirft viele Fragen auf und diese werden auch in
den Manifesten angesprochen: Wie ist Kommunikation überhaupt möglich? Was kann
die Kunst dazu beitragen? Wie können die Konstruktionsmechanismen unserer
subjektiven Wirklichkeit transparent gemacht werden? Wie bewältigt man das
Leben in einer Welt der als fragwürdig erkannten Werte? Was kann die Kunst in
unserer Zeit überhaupt noch leisten?
(1) Friedrich Nietzsche: Der
Wille zur Macht, Aph.539.
(2) Johann Mader: Von der Romantik zur Post-Moderne. Einführung in die
Philosophie II, Wien 1992.
(3) Wolfgang Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Stuttgart
1978.
(4) Roland Burkart: Kommunikationswissenschaft, Wien - Köln - Weimar 1995.
(5) Paul Watzlawick: Die erfundene Wirklichkeit, München - Zürich 1995.
Patrick
Horvath: "Über Philosophie und Politik"
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© 1996 Patrick Horvath