Die Entstehung und Rechtfertigung des Eigentums

bei John Locke

Patrick Horvath

Werner Horvath: John Locke, Zeichnung im Stil des neuen bildenden Konstruktivismus

John Locke geht davon aus, daß die Welt - ursprünglich - den Menschen als Gemeinschaftsbesitz gegeben war. Dies erhellt sich für ihn daraus, daß die Menschen, sobald geboren, ein Recht auf eigene Erhaltung haben "und somit auf Speise und Trank und alle anderen Dinge, die die Natur für ihren Unterhalt hervorbringt". Als zusätzlichen Beleg führt er auch eine Bibelstelle an (Die Erde hat er den Menschenkindern gegeben, Ps.115,15).

Wie aber kann es dann so etwas wie Privatbesitz geben? Wie hat er sich im Laufe der Zeit entwickelt? Nach Lockes Ansicht ist dies durch den Begriff der Arbeit erklärbar. Jeder Mensch hat "ein Eigentum an seiner Person". Dieses Recht kann ihm nicht abgesprochen werden. Alles, was nun sein eigener Körper hervorgebracht hat, etwa durch die Kraft seiner Hände, gehört daher auch ihm. Aus dem Recht, das jeder Mensch an seinem Körper hat, folgt das Recht auf die Früchte, den Ertrag seines Körpers; die Arbeit, die dieser hervorbringt, ist auch sein Besitz.

Nun besitzt ein jeder Mensch gleichermaßen ein ursprüngliches Recht, z.B. auf die Eicheln, die im Walde herumliegen. Doch nach Locke gilt auch folgendes: Sobald einer die Eicheln aufgesammelt hat, und sie in seinem Korb liegen, sind sie zu seinem persönlichen Eigentum geworden. Kaum einer wird bestreiten, daß auch das Wasser im Fluß allen gehört, jedoch das Wasser, das einer mit seinem Kruge schöpfte, ihm. Warum ist dem allerdings so?

Den ursprünglichen in der Wildnis herumliegenden Eicheln, dem im Fluß plätschernden Wasser ist anderes hinzugefügt worden, nämlich die Arbeit eines Individuums. "Jene Arbeit ließ einen Unterschied zwischen ihnen und dem gemeinsamen Besitz entstehen. Sie fügten ihnen etwas über das hinaus zu, was die Natur, die gemeinsame Mutter von allem, ihnen gegeben hatte, und so erlangte er ein persönliches Recht auf sie."

Eine Zustimmung aller anderen Menschen zu dieser Besitzergreifung ist nach John Locke nicht nötig, um den Besitz endgültig zu legitimieren. Locke argumentiert an dieser Stelle mit der praktischen Durchführbarkeit. Ist es denn zu irgendeiner Zeit möglich gewesen, ist es denn heute möglich, alle Menschen der Welt nach ihrer Zustimmung zu befragen? In diesem Sinne schriebt Locke auch: "War es Raub, so für sich zu beanspruchen, was allen gemeinsam gehörte? Wäre eine solche Zustimmung notwendig, so wären die Menschen Hungers gestorben, ungeachtet der Fülle, die ihnen von Gott gegeben war. (...) Und wir sind nicht an die ausdrückliche Zustimmung aller Mitbesitzenden gebunden, wenn wir diesen oder jenen Teil nehmen. Das Gras, das mein Pferd gefressen, der Torf, den mein Knecht gestochen, das Erz, das ich an irgendeinem Ort gegraben, an dem ich mit anderen gemeinsam ein Recht dazu habe, werden demnach mein Eigentum, ohne irgend jemandes Zuweisung oder Zustimmung. Meine Arbeit, die sie dem gemeinen Zustand, in dem sie sich befanden, enthoben hat, hat mein Eigentum an ihnen bestimmt."

Diese Einschätzung bestätigt nach Locke auch das allgemeine Rechtsempfinden bei verschiedensten Völkern und Kulturkreisen.

Daraus darf man aber noch nicht schließen, daß es erlaubt war, sich vom Gemeinschaftsbesitz soviel anzuhäufen, wie es einem gefällt. Locke bestreitet dies heftig. Neben vernünftigen Argumenten holt er erneut ein religiöses aus der Mottenkiste - es ist übrigens typisch für John Locke, seine Vernunftsargumente durch Bibelsprüche zu untermauern -: Bei 1.Tim.6,17 heißt es: Gott gibt uns reichlich allerlei zu genießen. Nichts auf der Welt ist hier, damit wir es ungenützt verderben lassen. Ein Mensch durfte sich aus dem Gemeinschaftsbesitz also nur soviel aneignen, soviel er also tatsächlich brauchte - nicht mehr. Der verstieß gegen die aus der Natur ersichtlichen Gesetze, der den Gemeinschaftsbesitz hortete, vielleicht sogar bis dieser verdarb, ohne ihn wirklich zu benötigen.

In diesem Sinne schreibt Locke: "Wer, bevor das Land in Besitz genommen war, so viele wilde Früchte sammelte, so viele Tiere tötete, fing oder zähmte, wie er vermochte, wer dieserart seine Mühe darauf verwandte, jene ursprünglichen Naturgüter mittels seiner Arbeit ihrem natürlichen Zustand auf irgendeiner Weise zu entziehen, erwarb Eigentum an ihm. Gingen sie jedoch in seinem Besitz zugrunde, ohne daß er sie richtig nutzte, verfaulten die Früchte oder verweste das Wild, bevor er sie verbrauchen konnte, so verletzte er das gemeine Gesetz der Natur und machte sich strafbar: Er vergriff sich an dem Anteil seines Nachbarn, denn sein Recht reichte nicht weiter, als sie ihm zu seiner Nutzung notwendig waren und ihm zur Annehmlichkeit seines Lebens dienen konnten."

Dasselbe galt sinngemäß auch für Grund und Boden: Ursprünglich lag die Welt unkultiviert da; die Menschen nahmen rechtmäßig brachliegendes, ungenutztes Land in ihren Privatbesitz; die Arbeit auf dem Land begründete den Rechtsanspruch darauf. Selbstredend darf heute niemand einfach vom gemeinsamen Land etwas wegnehmen, denn es ist durch Übereinkunft und Gesetze beschlossen worden, daß das Land Gemeingut bleiben soll. Ursprünglich, als die Menschen erstmals mit der Kultivierung der Welt begannen, erfolgte aber eine willkürliche Aneignung des brachliegenden Landes; und sie war nach Locke völlig legitim.

Aus diesem Grund - der Verknüpfung des Besitzanspruches mit der Arbeit - war das Ausmaß des Privatbesitzes des Einzelnen ursprünglich begrenzt. "Das Maß des Eigentums hat die Natur sehr wohl mit den Grenzen, die der menschlichen Arbeit gesetzt sind, und mit den Annehmlichkeiten des Lebens festgesetzt. Niemand vermochte sich mit seiner Arbeit alles zu unterwerfen oder anzueignen oder zu seinem Genuß mehr als einen kleinen Teil zu verbrauchen. Es war also niemals möglich, auf diesem Wege in die Rechte eines anderen einzugreifen oder sich irgendwelches Eigentum zum Schaden seines Nächsten zu erwerben. Diesem blieb (nachdem der andere sich sein Land genommen hatte) noch immer Raum für ebenso guten und ebenso großem Besitz wie vordem, bevor sich jener sein Land angeeignet hatte."

John Locke nimmt an, daß zu Urzeiten die Menschen aufgrund von Arbeit das Land Besitz genommen hatten. Das war seiner Meinung nach auch völlig legitim. Damals konnte aber jemand nur soviel Land rechtmäßig behaupten, als er auch tatsächlich beackern konnte - seinem Besitz waren also von Anfang an Grenzen gesetzt. Aufgrund der großen Menge unbewohnten Landes, die sich in Urzeiten auf Erden befanden, konnte jeder genügend Land für sich selbst in Besitz nehmen, ohne seinem Nächsten zu schaden. Es war in früheren Zeiten - vor Erfindung des Geldes, wie sich später herausstellt - nach John Locke auch gar nicht sinnvoll, mehr Besitz anzuhäufen, als man wirklich brauchte - überschüssige Ernte verdarb höchstens.

Und nicht nur daß ursprünglich durch den - damals notwendigerweisen maßvollen - Privatbesitz niemand seinem Nächsten schaden konnte, Locke ist sogar gewiß, daß in einer solcherart organisierten Gesellschaft ein jeder durch die Kultivierung seines Eigentums der Gemeinschaft sogar nützte. "Ja, ohne daß man Arbeit auf ihn verwendet, ist der weite Boden von so geringem Wert, daß man - wie mir versichert wurde - sogar in Spanien auf einem Stück Land ungestört pflügen, säen und ernten darf, auf das man keinen anderen Rechtsanspruch hat, als daß man ihn nutzt. Im Gegenteil, die Einwohner fühlen sich sogar dem gegenüber zum Dank verpflichtet, der durch seinen Fleiß auf vernachlässigtem und daher brachliegendem Land den ihnen notwendigen Getreidevorrat vergrößert hat."

In diesem Sinne hebt Locke hervor, daß jeder, der sich auf die besagte Art Land aneignet, den Gemeinschaftsbesitz sogar vermehrt. Denn die Erträge eines urbar gemachten Stück Landes sind sicherlich zehnmal, wenn nicht hundertmal so groß wie die eines brachliegenden. Jeder, der Land bebaut, vermehrt die auf Erden befindlichen Güter beträchtlich.

Überhaupt erkannte Locke, daß die Arbeit die eigentliche Quelle des menschlichen Wohlstands ist, worauf er auch ausführlich hinweist. Fast alle Güter erhalten nach Locke den größten Teil ihres Wertes aus der Arbeit. Man könnte diese Feststellung eine eigene Werttheorie Lockes nennen.

Locke erläutert dies am Beispiel von Brot, Wein und Kleider. Alle drei sind Gegenstände des täglichen Gebrauches. Gäbe es allerdings keine Arbeit, müßten wir und von Eicheln nähren, Wasser trinken und uns in Felle kleiden: Dies nämlich gibt uns die Natur. Was aber "Brot mehr wert ist als Eicheln, Wein als Wasser und Tuch als Blätter, Felle oder Moos, ist allein der Arbeit und dem menschlichen Fleiß zu verdanken."

Der größte Anteil des Wertes eines Dinges, dies stellt Locke ausdrücklich fest, resultiert also aus der Arbeit. Dasselbe gilt auch für den Boden. "Die Arbeit also verleiht dem Boden den größten Teil seines Wertes, denn ohne sie würde er kaum etwas wert sein. Denn um wieviel höher der Wert des Strohs, der Kleie, des Brotes von einem Morgen Weizen ist als Ertrag von einem Morgen ebenso guten Land, das brachliegt, ist voll und ganz das Ergebnis der Arbeit."

Unbearbeiteter Boden ist nur Ödland, wenig mehr wert als nichts. Die Natur liefert nach Locke nur die fast wertlosen Rohstoffe; der Mensch erst fügt mit seiner Arbeit den überwiegenden Teil des Werts zu den Dingen. Die Arbeit wird bei Locke zur Grundlage des gemeinschaftlichen Wohlstandes.

Wie eng ökonomisches Denken bei Locke mit seinem politischen Denken zusammenhängt zeigt sich auch wieder hier. Aus der Meinung, daß der wahre Wert eines Dinges oder auch des Bodens nur vom Menschen dem fast wertlosen Boden hinzugefügt wird, folgert er sogleich Maximen für das politische Handeln:

"Dies zeigt, wie sehr eine große Bevölkerungszahl der Größe des Herrschaftsgebietes vorzuziehen ist und daß die Erschließung des Landes und seine richtige Nutzung die große Kunst aller Regierungen ist."

Ökonomische und politische Theorie ist fast untrennbar bei John Locke verknüpft. Das wird übrigens ebenfalls ersichtlich aus John Lockes Definition von politischer Gewalt, die er im ersten Kapitel seiner "Second Treatise of Government" gibt:

"Politische Gewalt (...) halte ich für das Recht, zur Regelung und Erhaltung des Eigentums Gesetze zu schaffen..."

Doch zurück zur Entwicklung des Privateigentums. Daß heute dem Besitz des Einzelnen keine Beschränkung mehr aufliegt und eine große Kluft zwischen Besitzenden und Besitzlosen existiert, liegt klar auf der Hand. Wie ist es nach Locke aber dazu gekommen?

Die Eigentumsregel, "daß nämlich ein jeder soviel haben sollte, wie er nutzen kann", würde nach Locke jetzt noch gelten, hätte man nicht mittlerweile das Geld eingeführt. Für Locke ist es klar, daß das Geld nur aufgrund stillschweigender menschlicher Übereinkunft einen Wert besitzt. Erst durch das Geld wurde nach John Locke die Anhäufung großer Besitztümer - auch zum Schaden anderer - möglich.

Der größte Teil der Dinge, die für das Leben der Menschen wirklich nützlich sind, sind gewöhnlich, vergängliche oder verderbliche Güter, wie zum Beispiel Nahrungsmittel. Gold, Silber, Diamanten und ähnliches haben aber keinerlei ursprünglichen Nutzen für die Menschen, sondern erhalten ihren Wert erst durch Übereinkunft der Menschen.

Durch das Geld und allen Besitz kam aber eine neue Dimension in das ökonomische Spiel der Kräfte: Geld ist beständig, es verdirbt und verfault nicht; man kann es aufheben und in einem großen Maße anhäufen. Dies aber gab den Menschen die Gelegenheit ihren Besitz 1.) dauerhafter zu machen und 2.) zu vergrößern.

Locke schreibt in diesem Zusammenhang: "Wir mögen uns nur eine Insel vorstellen - abgeschnitten von jeder Möglichkeit des Handels mit der übrigen Welt, die nur von hundert Familien bewohnt ist, auf der es zwar Schafe, Pferde, Kühe, und andere nützliche Tiere gibt und auch gesunde Früchte und Land genug, um für hunderttausendmal mehr Menschen Getreide zu liefern, nichts aber (weil alles Gemeingut oder verderblich ist), was die Rolle des Geldes spielen könnte -, was wohl könnte auf einer solchen Insel irgendeinen Menschen veranlassen, seinen Besitz an dem, was er mit dem eigenen Fleiß erworben oder was er für ebenfalls verderbliche und nützliche Dinge mit anderen eintauschen könnte, über das hinaus zu vergrößern, was dem Bedarf seiner Familie und ihrer reichlichen Versorgung dient? Wo es nichts gibt, was zugleich dauerhaft, selten und wertvoll genug ist, um gehortet zu werden, werden die Menschen kein Verlangen haben, ihren Besitz an Land zu vergrößern, wäre der Boden noch so reich und stünde es ihnen auch frei, ihn an sich zu nehmen." Größere Produktion wäre nur sinnvoll, wenn man durch Verkauf des Überschusses in den Besitz von Geld gelangen kann.

Erst die Einführung des Geldes ermöglichte also das Horten des Besitzes und die Konzentration von viel Besitz in den Händen eines Einzelnen. Das wiederum führt aber auch zu verschiednen Besitzverhältnissen. Durch die Einführung von Geld und damit dem freien Markt wird nach Locke der Unterschied zwischen armen und reichen Menschen erst möglich. Diesen Unterschied hält Locke für legitim, denn er meint, das Geld hätte seinen Wert durch die Übereinkunft der Menschen erlangt. Durch diese Übereinkunft, die von allen Menschen getragen wird, hätten sich alle auch zu den Folgen der Geldwirtschaft einverstanden erklärt, nämlich der - Marx würde sagen -: Akkumulation des Kapitals.

"Da jedoch Gold und Silber im Verhältnis zu Speise, Kleidung und Transportmitteln für das Leben des Menschen von geringem Nutzen sind und ihren Wert allein auf Grund menschlichen Übereinkommens erhalten (...), liegt es klar auf der Hand, daß sich die Menschen mit unproportionalem und ungleichen Grundbesitz einverstanden erklärt haben. Denn mit ihrer stillschweigenden und freiwilligen Zustimmung haben sie einen Weg gefunden, wie der Mensch auf billige Weise mehr Land besitzen kann, als er selbst zu nutzen vermag, wenn er nämlich als Gegenwert für den Überschuß an Produkten Gold und Silber erhält (...) Diese Verteilung der Dinge zu ungleichem Privatbesitz (...) haben die Menschen allein dadurch ermöglicht, daß sie Gold und Silber einen Wert beimaßen und stillschweigend in den Gebrauch des Geldes einwilligten." So rechtfertigt Locke schließlich die großen Besitzunterschiede.

Zusammenfassung

Die Entstehung und gleichzeitig Rechtfertigung des Privateigentums bei John Locke erfolgt auf drei Stufen:

1.) Ursprünglich war die Welt Gemeinschaftsbesitz
2.) Aus diesem Gemeinschaftsbesitz eigneten sich die Menschen durch Arbeit Teile an. (Arbeit begründet nach John Lockes Meinung naturrechtlich einen Besitzanspruch und ist überhaupt die Grundlage des Wertes der Waren und des Bodens) Dabei durften die Menschen vor der Einführung des Geldes sich aber nicht mehr aneignen, als sie auch selbst nutzen konnten, anderes war auch gar nicht sinnvoll.
3.) Durch die Einführung des Geldes konnten die Menschen ihrem Besitz Dauer verleihen, Überschüsse verkaufen, ein Markt bildete sich und es war ihnen möglich, Besitz anzuhäufen. Weil aber die Menschen den Wert des Geldes nur durch Übereinkunft festlegten, war die stillschweigende Zustimmung aller dazu erforderlich. Mit dieser Zustimmung zur Einführung und Gültigkeit des Geldes erklärten sich die Menschen auch mit den Folgen der Geldwirtschaft einverstanden, also der Scheidung in Arme und Reiche und der Anhäufung von Besitz durch wenige. Und so sind nach John Locke Besitzunterschiede auch gerechtfertigt.

Kritische Bemerkungen

Die Theorien Lockes zur Ökonomie müssen, bei aller Anerkennung, auch kritisch betrachtet werden. John Locke lebte in einer Zeit des Frühkapitalismus, seine Sichtweise ist die des gehobenen und damals aufstrebenden Bürgertums, der besitzenden Klasse, Karl Marx würde sagen, der "Bourgeoisie".

Lockes Argumentation zielt demnach auch ab auf die Rechtfertigung von unterschiedlichen Besitzverhältnissen und auch auf eine Rechtfertigung des Unterschiedes zwischen Armen und Reichen.

Kurz gefaßt argumentiert Locke ja folgendermaßen: Ursprünglich war die Welt Gemeinschaftsbesitz, dann eignete sich jeder durch Arbeit einen Teil dieser Welt an, was völlig legitim war. Zu dieser Zeit war der Privatbesitz noch beschränkt, weil niemand ein Recht und weil es auch keinen Sinn hatte, sich mehr anzueignen als notwendig. Doch dann wurde durch allgemeine Übereinkunft das Geld eingeführt. Jetzt war es möglich und sinnvoll, große Mengen unverderblichen Besitz anzuhäufen, jetzt entstanden die großen Vermögensunterschiede. Lockes Argumentation ist durchaus nachvollziehbar.

Bedenklich scheint aber ein Punkt: Er hält die letztere Wirkung der Einführung des Geldes für legitim; da die Einführung des Geldes seiner Ansicht nach mit allgemeiner Zustimmung erfolgte, und so sind für ihn auch die Folgen des Geldverkehrs, in diesem Fall die Akkumulation des Kapitals, völlig in Ordnung. Er hat die Quelle großen menschlichen Leids also erkannt, kritisiert sie aber nicht, sondern rechtfertigt sie.

Was Marx und Engels später als große, auch heutzutage, nach dem Zusammenbruchs des Ostblocks, gültige Erkenntnis gewannen - nämlich daß das freie Spiel der Wirtschaftskräfte die Anhäufung des Kapitals in den Händen weniger bewirkt, während eine große Masse verarmt, hat Locke eigentlich auf seine Art schon vorweggenommen. Nur findet er diese Folge im Gegensatz zu den kommunistischen Denkern offenbar gut und gerecht. Das ist, meine ich, seine Schwäche: Er redet dem zu seiner Zeit aufstrebenden Kapitalismus nach dem Mund.

Bekanntlich wurde Jefferson, dem Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung sogar der Vorwurf gemacht, von Locke abgeschrieben zu haben; er und die anderen Gründungsväter bewegten sich stark im Denken John Lockes. In den USA, dem Staat, der eigentlich eine Folge von John Lockes politischen Schriften ist, entwickeln sich heute zusehends die traurigen Konsequenzen dieses in sozialer Hinsicht unbedachten und unkritischen ökonomischen Denkens. Dort nämlich ist die Kluft zwischen Besitzenden und Besitzlosen schon so groß, daß für viele weitgehend chancenlosen Armen die vielgerühmte Freiheit des politischen System zur Farce wird. Während dort ein Bill Gates sein ohnehin bereits über hundert Milliarden Dollar großes Vermögen jährlich fast verdoppelt, während dort Gattinnen superreicher Firmenbesitzer zu phantastischen Modepreisen Kleider von Prinzessin Diana erstehen und dabei Millionen verschwenden, mangelt es gleichzeitig einer Masse von Armen am Notwendigsten.

Doch ist dieses System durchaus im Sinne Lockes; denn er hielt auch große Vermögensunterschiede für legitim; er erkannte die Akkumulation des Kapitals, doch er fand sie mitsamt ihren Konsequenzen gerecht.

John Locke, der ansonsten unerschrockene Prediger der Freiheit, der zahllosen Verfolgungen und Widerständen trotzte, vergaß, daß Freiheit nicht nur politischer, sondern auch sozialer Natur ist; und daß Gerechtigkeit in einer Gemeinschaft auch soziale Gerechtigkeit bedeutet; und daß ein Gesellschaftsvertrag daher, neben politischen auch soziale Grundrecht aufweisen sollte, die die Spaltung der Gesellschaft in ein von privaten Sicherheitsdiensten bewachtes Ghetto der Reichen und ein von Hunger und Elend geprägtes Ghetto der Armen verhindern müssen. Denn nur dann kann in einer Gemeinschaft der Wert erreicht werden, der John Locke so am Herzen lag: die immer bedrängte, oft verfolgte, doch immer heiß ersehnte Freiheit.

Literatur

John Locke: Über die Regierung. The Second Treatise of Government. Stuttgart 1983. Alle Zitate, wo nicht anders angegeben, stammen aus dem Kapitel V: ÍDas EigentumÎ.


Werner Horvath: "John Locke", Öl auf Leinwand, 50 x 40 cm, 2010.

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 Patrick Horvath: "Über Philosophie und Politik"
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© 1998 Patrick Horvath

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