Humanitäre Intervention
-
ein “gerechter Krieg”?
Dissertation
zur Erlangung des Doktorgrades der
Philosophie
an der Human- und Sozialwissenschaftlichen
Fakultät der Universität Wien
eingereicht von
Patrick Horvath
Wien, Mai 2004
Vorwort und Danksagungen
In seiner Aufsatzsammlung “Auf der Suche nach einer besseren Welt” meint
Karl Popper, dass hochwertige wissenschaftliche und philosophische
Auseinandersetzungen immer ihre Wurzeln in Problemen der realen Welt finden.
Wenn dies stimmt, dann gibt es für die vorliegende Arbeit Hoffnung. Die neuen
Kriege und die mit ihnen verbundenen Menschenrechtsverletzungen sind Probleme
der realen Welt; eine Auseinandersetzung mit ihnen ist im höchsten Maßen
relevant. Von der Betrachtung aktueller und tagespolitischer Ereignisse - die
vorliegende Arbeit ist vom Kosovo-Krieg 1999, vom Afghanistanfeldzug 2002 und
dem Irakkrieg 2003 inspiriert (wobei letztere beiden nicht unbedingt als
Humanitäre Interventionen zu qualifizieren sind) - führt uns eine politisch-philosophische
Reflexion schnell zu grundsätzlicheren Fragen rund um Krieg und Frieden, die an
das Wesen des Menschen rühren. Die uns von Kant hinterlassene Hauptfrage der
Philosophie “Was ist der Mensch?” wird ohne einen Blick auf die Kriege, die der
Mensch führt und die nun einmal zu den Abgründen seines Wesen zu gehören
scheinen, nicht zu lösen sein.
* * *
Die Qualität der vorliegenden Arbeit konnte wesentlich gehoben werden
durch einen Forschungsaufenthalt an der Humboldt-Universität zu Berlin im Laufe
des Wintersemesters 2002 / 3. Den erfolgreichen Abschluss desselben verdanke
ich v.a. folgenden Personen:
*
Herrn Prof.Dr. Herfried Münkler, der mir in Berlin als
hauptsächlicher wissenschaftlicher Anprechpartner zur Verfügung stand, sich
Zeit für ausführliche und tiefgehende Gespräche nahm und mich für
politisch-philosophische Probleme rund um seine hervorragende Studie über die
“neuen Kriege” sensibilisierte.
*
Herrn Vizerektor
Prof.Dr. Arthur Mettinger sowie den
Mitarbeitern des Büros für Internationale Beziehungen der Universität Wien für
die Gewährung eines großzügigen Stipendiums für einen wissenschaftlichen
Auslandsaufenthalt.
*
Herrn Prof.DDr. Ingfrid Schütz-Müller, der mir als
Auslandsbeauftragter des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Wien
mit Rat und Tat zur Seite stand.
Ich konnte zudem von meiner Teilnahme an zwei Symposien am Zentrum für
Interdisziplinäre Forschung (ZIF) der Universität Bielefeld profitieren:
“Humanitarian Intervention and Ethics” sowie “Ethics of Terrorism and
Counter-Terrorism”, im Jänner bzw. Oktober des Jahres 2002.
Bei diesen Veranstaltungen, in
denen für jeweils einige Tage die führenden Forscher der internationalen
“science community” zu den besagten Themen versammelt werden konnten, erfolgte
ein fruchtbarer Gedankenaustausch, ohne den die vorliegenden Dissertation nicht
möglich gewesen wäre. Ich konnte in ihrem Verlaufe z.B. in persönliche
Gespräche mit politischen Philosophen wie Michael Walzer (USA),
Friedensforschern wie Johan Galtung (Norwegen) oder Terrorismusspezialisten wie
Tony Coady (Australien) treten, die sich alle durch maßgeblich Publikationen
hervorgetan haben. Auch die übrigen Referenten gaben Anregungen von
erstaunlicher wissenschaftlicher Qualität, die für die vorliegende Arbeit unverzichtbar
waren. Ich bedanke mich besonders bei:
*
Herrn Prof.Dr. Georg Meggle für die umsichtige und
vorbildliche Organisation beider Symposien und die souveräne Führung des
Kongressvorsitzes. Er hat sich mit seiner Arbeit meiner Ansicht nach bleibende
Verdienste um die Forschung nicht nur im deutschsprachigen Raum erworben.
*
Frau Marina Hoffmann sowie Frau Anja-Marleen Krause für ihre Umsicht bei
der guten und freundlichen Betreuung der Kongressteilnehmer.
*
Dem Zentrum für Interdisziplinäre
Forschung (ZIF) für die großzügige Gewährung von Kost und Logis für meine
Person. Meine Teilnahme wurde dadurch wesentlich erleichtert.
*
Kongressteilnehmer Herrn
Dr. Thomas Schramme für wertvolle
Anregungen, die ich aus seinen Arbeiten beziehen konnte.
Nicht unerwähnt bleiben dürfen ferner die Erkenntnisse, die ich aus dem
politikwissenschaftlichen Symposium “Krieg im Irak!” des Österreichischen
Instituts für Internationale Politik (OIIP) am 24.März 2003 bezog.
Im Zuge des neuen Lehrplanes zum Doktoratsstudium hatte ich mehrere
“Forschungsseminare” zu absolvieren. Diese Lehrveranstaltungen neuen Typs
erwiesen sich als besonders sinnvoll und für meine Arbeit im höchsten Maße
förderlich. Ich bedanke mich insbesonders bei folgenden Lehrveranstaltungsleitern:
*
Frau Prof.Dr. Eva Kreisky und Herrn Prof.Dr. Helmut Kramer, die mir in ihrem Seminar
“Terrorismus als politikwissenschaftliches Forschungsfeld” den Freiraum ließen,
mich besonders intensiv mit dem Thema meiner Dissertation zu beschäftigen und
die ihre Lehrveranstaltung mit besonderem Engagement und auf außergewöhnlich
hohem akademischem Niveau umsetzten. Ich konnte in dem von ihnen organisierten
Rahmen auch von den Ausführungen der Gastredner Herrn General Dr. Edwin Micewski (Leiter der Abteilung für
Geistes- und Sozialwissenschaft an der österreichischen
Landesverteidigungsakademie), Frau Dr. Karin
Kneissl (politische Journalistin und Libanon-Expertin) und Herrn Prof.Dr. Hans-Georg Heinrich (Professor für
Politikwissenschaft und OSZE-Beauftragter im Kaukasus) profitieren.
*
Herrn Prof.Dr. Peter Gerlich, der mir in seinem
“Forschungsseminar für Dissertanten” im Anschluss an meine Referate ebenfalls
wertvolle Rückmeldungen und Hinweise zur wissenschaftlichen Bearbeitung meines
Themas geben konnte.
An der Diplomatischen Akademie Wien konnte ich von Gesprächen mit Herrn
Prof. Adam Roberts (Universität
Oxford) profitieren, der mich zu seinem Spezialgebiet “Liberal International
Order” beriet.
Ich bedanke mich ferner bei folgenden Kolleginnen und Kollegen, die mir
mit Rat und Tat zur Seite standen und von deren konstruktiver Kritik und
hervorragenden Literaturhinweisen ich profitieren konnte: Herrn Mag. Christoph Hanisch, Herrn Mag. Harald-Gerhard Kratochvila, Herrn Michael Turinsky sowie Frau DDr. Esther Ramharter.
Mein ganz besonderer Dank gilt
allerdings der Betreuerin meiner Dissertation, Frau Prof.Dr. Herlinde Pauer-Studer. Ich fand in ihr
eine ganz besonders kompetente Ansprechpartnerin zum vorliegenden Thema, zu dem
sie auch selbst wissenschaftlich publiziert hat. Ihr Aufsatz “Ethik des
gerechten Krieges”[1] diente in vielerlei Hinsicht als
Ausgangspunkt meiner eigenen Überlegungen - ihre Arbeit brachte mir zahlreiche
Gedankenanstöße, die ich dann selbständig weiterverfolgte. Neben der wissenschaftlichen
Anregung profitierte ich aber auch von ihren zahlreichen menschlichen
Qualitäten, zu denen nach meinem Eindruck ein tiefes Gefühl von
Verantwortlichkeit für ihre akademische Forschungsarbeit und Lehrtätigkeit
gehört, aber auch aufrichtige Anteilnahme am individuellen Schicksal ihrer
Studenten. Ihre Privatissima lieferten mir zudem einen sinnvollen, meine
Forschung begleitenden Rahmen, in dem nicht nur die Arbeiten aller Studierenden
individuell und dennoch ausführlich besprochen werden konnten, sondern in denen
auch Praxisbezug spürbar war - was ich spätestens nach meiner zu dieser Zeit
erfolgten erfolgreichen Absolvierung der Aufnahmsprüfung in die Diplomatische
Akademie Wien erkannte, auf die mich unsere gemeinsamen Projekte und Gespräche
hervorragend vorbereitet hatten.
Wien, Berlin,
Bielefeld, Kástellos (Kreta) 2003
Patrick Horvath
Inhalt
Vorwort und Danksagungen (S.2)
Inhalt (S.5)
Einleitung: Humanitäre Intervention-
ein “gerechter Krieg”? (S.12)
TEIL I
Humanitäre
Intervention: Zu Definition und Praxis
1. Die neuen Kriege (S.16)
1.1. Typische Strukturmerkmale: innerstaatliche Krieg in
Entwicklungsländern, lange Dauer, billige Waffen (S.16)
1.2. Ursachen: Aufstände, ethnische
Spannungen, failed states (S.18)
1.3. Entstaatlichung und Privatisierung der Gewalt (S.18)
1.4. Die menschliche Tragödie (S.19)
1.5. Globalisierung als wirkungsmächtiger Hintergrund (S.23)
2. Definition der Humanitären Intervention (S.25)
3. Humanitäre Intervention und Völkerrecht (S.31)
3.1. Vom Mittelalter zum klassischen Völkerrecht (S.31)
3.2. Das klassische Völkerrecht (S.31)
3.3. Paradigmenwechsel im modernen Völkerrecht (S.33)
3.3.1.
Zunehmende Ächtung des Krieges (S.33)
3.3.2.
Allgemeines Gewaltverbot (S.34)
3.3.3.
Interventionsverbot (S.35)
3.4. Bewertung der Humanitären Intervention im Rahmen des gegenwärtigen
Völkerrechts - Problematiken rund um bestehende Regelungen (S.36)
3.5. Völkerrecht im Umbruch (S.37)
4. Fallbeispiel: Der Kosovo-Krieg (S.39)
4.1. Eine Humanitäre Intervention? (S.39)
4.2. Kriegsziele (S.40)
4.3. Fehlen einer Resolution des UN-Sicherheitsrates (S.41)
4.4. Luftschläge - Pro und Contra (S.42)
4.5. Massaker und Vertreibungen (S.43)
4.6. Ergebnisse (S.45)
5. "Zwischenergebnis" von Teil I: Konkretisierung der
Forschungsfrage (S.46)
TEIL II
Zur Tradition -
Die Theorie des gerechten Krieges
6. Die Theorie des “gerechten Krieges”: Entwicklung von der Antike bis
zur Gegenwart (S.50)
6.1. Grundidee dieses Kapitels (S.50)
6.2. Heidnische Vorläufer: Platon, Aristoteles, Cicero (S.51)
6.2.1.
Allgemeines (S.51)
6.2.2.
Platon (S.51)
6.2.3.
Aristoteles (S.54)
6.2.4.
Cicero (S.54)
6.3. Der unbedingte Pazifismus der frühen Christen: Athenagoras,
Tertullian, Origenes (S.58)
6.3.1.
Allgemeines (S.58)
6.3.2.
Athenagoras (S.58)
6.3.3.
Tertullian (S.58)
6.3.4.
Origines (S.60)
6.4. Christianisierung der Theorie des “gerechten Krieges”: Augustinus
(S.61)
6.4.1.
Ein paradigmatischer Wechsel: Historischer Hintergrund (S.61)
6.4.2.
Moralische Überlegenheit des Friedens über den Krieg (S.64)
6.4.3.
Natürliche Hinordnung des Menschen auf den Frieden (S.65)
6.4.4.
Friede und Christentum: Himmlischer und irdischer Frieden, augustinische Bibelinterpretation, Kritik an
der Bindung des Friedensbegriffes an
eine bestimmte Konfession (S.67)
6.4.5.
Der Friede als “Ruhe der Ordnung” (S.70)
6.4.6.
Das Böse im Krieg - eine gesinnungsethische Perspektive (S.74)
6.4.7.
Das Dilemma des armen Folterers (S.77)
6.4.8.
Der “gerechte Krieg” (S.81)
6.4.9. Das Pendant des "gerechten Krieges" im Inneren:
Religionsverfolgung
(S.84)
6.5. Der Klassiker des “gerechten Krieges: Thomas von Aquin (S.85)
6.5.1.
Die klassische Trias (S.85)
6.1.1.
Legitime Autorität (S.86)
6.5.1.2.
Rechte Absicht (S.89)
6.5.1.3.
Gerechter Grund (S.90)
6.5.2.
Andere “ius ad bellum”-Kritierien (S.93)
6.5.2.1.
Letztes Mittel (S.93)
6.5.2.2.
Chance auf Erfolg (S.94)
6.5.3.
Zum “ius in bello” (S.94)
6.5.3.1.
Verbot der Lüge im Dienste eines Hinterhaltes (S.94)
6.5.3.2.
Verbot der Tötung Unschuldiger (S.95)
6.5.3.3.
Proportionalität (S.96)
6.5.3.4.
Zwei Effekte (S.97)
6.5.4.Legitime
Gewaltanwendung außerhalb des “gerechten Krieges” (S.98)
6.6. Weiterentwicklungen in der Spätscholastik: Francisco de Vitoria
(S.99)
6.6.1.
Gegen absoluten Pazifismus (S:99)
6.6.2.
Der gerechte Krieg als Strafrecht (S.99)
6.6.3.
Legitime Autorität (S.100)
6.6.4.
Gerechter Grund (S.102)
6.6.5.
Rechte Absicht - zur “Doktrin der Doppelwirkung” (S.104)
6.6.6.
Zwei bedenkliche Konzepte: “Recht auf Plünderung” und “Ewiger Krieg gegen den Islam” (S.106)
6.7. Das emanzipatorische Potenzial der “Gerechten-Kriegs”-Lehre:
Bartolomé de Las Casas (S.108)
6.7.1.
Hintergrund des Werkes (S.108)
6.7.2.
Die Conquista in der Rechtfertigung von Sepúlveda (S.109)
6.7.2.1.
Letztes Mittel (S.109)
6.7.2.2.
Legitime Autorität (S.109)
6.7.2.3.
Rechte Absicht (S.110)
6.7.2.4.
Gebotene Durchführung (S.110)
6.7.2.5.
Gerechter Grund (S.110)
6.7.3.
Las Casas’ Kritik an der spanischen Conquista (S.110)
6.7.3.1.
Letztes Mittel (S.110)
6.7.3.2.
Legitime Autorität (S.112)
6.7.3.3.
Rechte Absicht (S.112)
6.7.3.4.
Gebotene Durchführung (S.113)
6.7.3.5.
Gerechter Grund (S.115)
6.8. Vom Recht des Krieges und des Friedens: Hugo Grotius (S.117)
6.8.1.
Leben und Werk (S.117)
6.8.2.
Motivation: Eindämmung und Hegung des Krieges (S.119)
6.8.3.
Allgemeines zum gerechten Krieg (S.120)
6.8.4.
Zum “ius ad bellum” (S.123)
6.8.4.1.
Rechtsverletzung als gerechter Grund (S.123)
6.8.4.2.
Rechte Absicht (S.124)
6.8.4.3.
Chance auf Erfolg - Proportionalität (S.125)
6.8.4.4.
Letztes Mittel (S.125)
6.8.4.5.
Gerechte und ungerechte Gründe: Beispiele (S.126)
6.8.5.
Zur Kriegserklärung (S.128)
6.8.6.
Was ist im Krieg nicht erlaubt? Zum “ius in bello” (S.130)
6.9. Die Entwicklung von Hugo Grotius bis zur Gegenwart im Überblick
(S.132)
7. John Rawls: Ein Liberaler auf Kriegskurs (S.135)
7.1. Das “Recht der Völker”: Grundidee des Werkes (S.135)
7.2. Urzustand als fiktiver Ausgangspunkt (S.136)
7.3. Klassifizierung politischer Einheiten (S.138)
7.4. Demokratischer Friede (S.139)
7.5. Kritik der Souveränität (S.142)
7.6. Die gerechte Kriegsführung (S.142)
7.7. Der ideale Staatsmann (S.145)
7.8. Kritik des Realismus (S.147)
8. Carl Schmitt versus Michael Walzer (S.150)
8.1. Warum ein Vergleich? (S.150)
8.2. Die Lehre Carl Schmitts (S.150)
8.2.1.
Politik als Feindschaft (S.150)
8.2.2.
Gegen Pazifismus und “diskriminierenden Kriegsbegriff” (S.152)
8.2.3.
Ablehnung der Weltstaatsidee (S.159)
8.2.4.
Die Idee der Menschenrechte als Vehikel des Imperialismus (S.159)
8.2.5.
Pluralismus: ja und nein (S.160)
8.2.6.
Der rational unrechtfertigbare Krieg (S.161)
8.2.7.
Politische Theologie (S.162)
8.2.8.
Schmitts Kritik an Hobbes (S.164)
8.2.9.
Schmitts Antisemitismus (S.166)
8.3. Die Lehre Michael Walzers (S.167)
8.3.1.
Motivation des Werkes (S.167)
8.3.2.
Methode (S.167)
8.3.3.
Gegen Realismus? (S.168)
8.3.4.
Die gerechte Intervention (S.169)
8.3.5.
Zur Neutralität (S.172)
8.3.6. Supreme Emergency (S.173)
8.4. Ein Vergleich (S.177)
9. Die Theorie des “gerechten Krieges” im Vergleich mit ihren “Rivalen”:
Militarismus, Realismus, Pazifismus (S.178)
9.1. Militarismus (S.178)
9.2. Realismus (S.179)
9.3. Pazifismus (S.184)
10. "Zwischenergebnis" von Teil II: Gedanken zur Aktualisierbarkeit
der Gerechten-Kriegs-Theorie (S.188)
10.1. Reaktionärer Ballast (S.188)
10.2. Missbrauchsgefahr, aber kritisches Potenzial (S.189)
10.3. Moralische Problematiken der “liberal international order” (S.190)
10.4. Die “wahre” Politikbetrachtung? (S.191)
10.5. Zu den Kriterien (S.193)
Teil III
Zur aktuellen
Debatte: Pro- und Contra-Argumente zur Humanitären Intervention
11. Humanitäre Intervention: Nothilfe gegen Völkermord (S.200)
12. Universalismus versus Partikularismus der Menschenrechte
(S.203)
13. Zur Relativität der staatlichen Souveränität (S.205)
14. Das Problem der selektiven Gerechtigkeit bzw. der
Mißbrauchsanfälligkeit (S.208)
15.Das Problem des Kollateralschadens und die Doktrin der Doppelwirkung
(S.211)
15.1. Menschenrechte - aufrechenbar? (S.211)
15.2. Die Doktrin der Doppelwirkung (S.212)
15.3. Die Bedingungen der Realität (S.214)
16.Das Problem der Risikoabwälzung (S.218)
TEIL IV
Zwei zusätzliche
Aspekte: "Demokratie und Militärgesetzgebung" / "Krieg gegen den
Terror"
17. Gerechter Krieg und individuelle Freiheit: Gedanken zur Ethik der
Militärgesetzgebung in einer demokratischen Grundordnung (S.222)
17.1. Gerechter Krieg und individuelles Gewissen (S.222)
17.2. Wehrpflicht oder Berufsarmee? (S.226)
18. Terrorismus und Gerechte-Kriegs-Theorie (S.234)
18.1. Terrorismus - Probleme einer Defintion (S.234)
18.2. Rückgriff auf die Gerechte-Kriegs-Theorie (S.236)
18.2.1. "ius
in bello"-Bestimmungen (S.236)
18.2.2. Legitime
Autorität (S.237)
18.3. Die Debatte der "dirty hands" (S.239)
18.4. Der Krieg gegen den Terror - ein "gerechter Krieg"?
(S.240)
18.4.1. Ein Brief
aus Amerika (S.240)
18.4.2. Kritische
Stimmen (S.243)
18.4.3.
Alternativen zum "gerechten Krieg" (S.245)
CONCLUSIO DER DISSERTATION
Zusammenfassung,
Ergebnisse
19. Versuch einer Beantwortung der Forschungsfrage: Humanitäre
Intervention - ein “gerechter Krieg”? (S.248)
Einleitung:
Humanitäre Intervention - ein “gerechter Krieg”?
Kann ein Krieg gerecht sein? Oder anders formuliert, ohne den Pathos von
Ehre, Ruhm und männlicher Tapferkeit, der mit dem hehren Wort “Gerechtigkeit”
vielleicht nach wie vor einhergeht: Kann es Fälle geben, in denen es zulässig
ist, Kriege zu führen; in denen man es in Kauf nehmen darf zu töten; in denen
man es bewusst erlaubt, dass Menschen in den Tod geschickt werden? Welcher
Wert, für den es einzustehen gilt, könnte dies rechtfertigen? In der heutigen
Zeit, in der die Begeisterung für nationale Größe diskreditiert, die
kommunistische Ideologie untergegangen und der christliche Glaube fragwürdiger
ist denn je, gibt es nur mehr einen Wert, der sich einer solch allgemeinen
Anerkennung erfreut, dass er in “westlichen” Ländern fast schon den Status
einer “Zivilreligion”[2] genießt: die Rede ist von den
Menschenrechten.
Nun versuchte der Kosovo-Krieg der NATO genau daraus seine moralische
Rechtfertigung zu beziehen: er nahm in Anspruch, die Menschenrechte einer
bedrohten Minderheit zu verteidigen, die ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu
gelten hatten. Dabei wurde im Gebiet eines souveränen Staates interveniert und
zwar ohne in diesem Fall durch das Völkerrecht vorgesehene Mandat des
UN-Sicherheitsrates. Der erste Krieg, den die NATO überhaupt und die Bundesrepublik
Deutschland seit 1945 führte, wurde dadurch legitimiert, kein Krieg in
klassischer Hinsicht, sondern eine “Humanitäre Intervention” zu sein.
Es war neben anderen v.a. der deutsche Philosoph Jürgen Habermas, der in
seinem vielbeachteten Artikel “Bestialität und Humanität. Ein Krieg an der
Grenze zwischen Recht und Moral” den Kosovo-Einsatz mit deutlichen Worten
befürwortete. Er sieht im Krieg einen ersten Schritt der Weiterentwicklung des
Völkerrechtes der Staaten zum “kosmopolitischen Recht einer Weltbürgergesellschaft”[3], in dem nicht Staaten, sondern
Einzelmenschen im Mittelpunkt stehen. Der Krieg scheint so eine Art “Vorgriff”
auf einen - zukünftig vielleicht existierenden - Zustand, in dem Menschenrechte
weltweit für jedermann gelten und auch effizient geschützt werden können;
zugleich will der Krieg diesen Zustand auch “befördern”. Dieses prinzipiell
positive, ja fast heilsgeschichtliche Urteil über die Humanitäre Intervention,
die sich ihre Rechtfertigung aus einer idealisierten Zukunft quasi “borgt” -
Habermas’ Kritiker sprechen von einer “Legitimität auf Pump” - wird höchstens
dadurch eingeschränkt, dass Habermas eine grundlegende Reform der UNO fordert.
Seiner Meinung nach ist folgendes nötig: “...ein funktionierender
Sicherheitsrat, die bindende Rechtsprechung eines internationalen
Strafgerichtshofes und die Ergänzung der Generalversammlung von
Regierungsvertretern durch die ‘zweite Ebene’ einer Repräsentation der
Weltbürger.”[4] Dies alles braucht man, um die Humanitäre
Intervention wieder auf den Boden des Völkerrechtes zurückzuführen, den sie
durch Umgehung des blockierten UN-Sicherheitsrates kurzfristig im Namen der
Moral verlassen musste. Die Selbstermächtigung der NATO, im Sinne der bedrohten
Minderheit zu intervenieren, so Habermas’ Resümee, war notwendig, sollte aber
ein Einzelfall bleiben.
Die Urteile der einen Seite, die in der Humanitären Intervention fast
schon so etwas wie eine Erlösung der Menschheit vor obrigkeitlicher Verfolgung
und Vertreibung sehen, werden konterkariert durch warnende Rufe, die in ihr
eher ein apokalyptisches Aufziehen böser Mächte erkennen wollen. Der
norwegische Friedensforscher Johan Galtung übt in seinen Vorträgen[5] massive Kritik an der Humanitären
Intervention. Sie sei kein Instrument zur Durchsetzung der Humanität, sondern
ein Verrat an derselben. Gewalt, so Galtung, ist überhaupt kein geeignetes
Mittel um eine gerechte Friedensordnung herzustellen. Die vom militärischen
Eingriff produzierten “Kollateralschäden” schaffen unvertretbares menschliches
Leid und Elend, auch bei den angeblich zu Beschützenden. Galtung spricht den
deutlichen Verdacht aus, dass es bei Anwendung von militärischer Gewalt unter
dem Deckmantel der Menschenrechtsidee um wenig anderes geht als um die
Durchsetzung machtpolitischer Interessen großer Staaten und insbesonders der
USA. Im Kosovo-Krieg hätte sie der Züchtigung des widerspenstigen Serbien
gedient; auch die Errichtung von angeblich strategisch bedeutsamen Militärbasen
in der (nach Meinung sicherheitspolitischer Experten) strategisch nicht
sonderlich bedeutsamen Region hätte eine Rolle gespielt. Zusätzlich artikuliert
Galtung auch Zweifel über die Verhandlungsführung in Rambouillet, in der noch
manche Möglichkeiten zur friedlichen Konfliktlösung bestanden hätten, was nicht
unmöglich, aber als Außenstehender natürlich schwer zu beurteilen ist; auch
viele Beweise von serbischen Verbrechen an der albanischen Minderheit hält er
für unzureichend. Man verlässt Galtungs Vorträge mit dem Gefühl, teilweise
richtige Analysen vernommen zu haben, die mit wüsten Weltverschwörungstheorien
vermischt sind, in deren Mittelpunkt die üblen Machenschaften einer
machtbesessenen U.S.-amerikanischen Außenpolitik stehen. Aber eine Frage
bleibt: Die Humanitäre Intervention - ist sie das Vehikel eines neuen Imperialismus?
Die beiden oben genannten Forscher stecken mit ihren extrem
gegensätzlichen Meinungen das Spannungsfeld ab, in dem die oft höchst
polemische Diskussion rund um die Zulässigkeit der Humanitären Intervention
geführt wird. Diese Diskussion findet nicht unbemerkt und unkommentiert von
Politikern und Medien statt; entsprechend verläuft der Diskurs selbst im
seriösen Umfeld eines wissenschaftlichen Kongresses nicht frei von politischen
Interessen, überhitzten emotionalen Impulsen und frei schwebenden Annahmen und
Unterstellungen, die kaum Rückbindung an den rationalen Diskurs oder die
empirische Realität besitzen. Eine wissenschaftliche Bearbeitung der Frage wird
dadurch erschwert, ist aber umso notwendiger. Es ist die ureigenste Aufgabe der
Wissenschaft, Informationen zu sammeln, Argumente strukturiert darzulegen und
Lösungsansätze aufzuzeigen - gerade für Probleme mit hohem Aktualitäts- und
Emotionalitätsgehalt.
Im Zusammenhang mit der Besprechung solcher Kriege neuen Types erlebt ein
längst tot geglaubtes philosophisches Konzept eine ungeahnte Renaissance: Die
Theorie des “gerechten Krieges”. Mit heidnischen Vorläufer v.a. im Kontext der
christlichen Philosophie entstanden, markiert sie eine Wendung des ursprünglich
pazifistischen “mainstreams” des Christentums hin zu seiner konditionalen
Befürwortung des Krieges. Im Laufe einer langen Tradition wurden
Kriterienkataloge entwickelt, die an Kriege anzulegen sind; auf Basis der
Erfüllung oder Nichterfüllung der Kriterien sollte die Frage beantwortet werden,
ob ein bestimmter Krieg gerecht ist oder ungerecht. Die Theorie unterscheidet
traditionell zwischen “ius ad bellum”-Bestimmungen (Wann hat man das Recht, in
einen Krieg einzutreten?) und “ius in bello”-Regeln (Wie ist ein Krieg
moralisch zu führen?). Kann dieses Konzept einen sinnvollen Rahmen für die
Beurteilung der Humanitären Intervention liefern? Oder ist die Wiederbelebung
der schon für die Rechtfertigung zahlloser Gräuel und Unmenschlichkeiten
(inklusive der Kreuzzüge) strapazierten Gerechten-Kriegs-Theorie wenig
erstrebenswert? Die Frage nach der Humanitären Intervention scheint im
philosophischen Diskurs gar nicht zu trennen zu sein von der Theorie des
“gerechten Krieges”, auf deren Fragestellungen und provisorische Antworten
implizit und explizit immer in der einen oder anderen Form Bezug genommen wird.
Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht die Frage nach der
moralischen Bewertung der Humanitären Intervention im Lichte der politischen
Philosophie. Ist sie zulässig oder nicht? Insbesonders soll dabei auf die
Gerechte-Kriegs-Theorie Bezug genommen werden. Kann sie als Referenzrahmen für
die Humanitäre Intervention quasi “aktualisiert” werden? Und wenn ja, wie? Zur
Beantwortung dieser und verwandter Themen sind aus meiner Sicht zahlreiche
Exkurse notwendig. Letztlich interessiert hier aber folgende Frage: Die
Humanitäre Intervention - ist sie ein “gerechter Krieg”?
TEIL I
Humanitäre
Intervention: Zu Definition und Praxis
Humanitäre
Intervention: Zu Definition und Praxis
1. Die neuen Kriege
1.1. Typische Strukturmerkmale: innerstaatliche Kriege in
Entwicklungsländern, lange Dauer, billige Waffen
Wenn im Alltag von “Kriegen” die Rede ist, denken wir teilweise noch
immer in veralteten Kategorien, z.B. an Konstellationen, wie sie in Europa zur
Zeit des 1.Weltkrieges an der Tagesordnung waren. Gegenüber diesen “klassischen
Staatenkriegen” der Vergangenheit hat sich nunmehr an der Schwelle des
21.Jahrhunderts sehr vieles verändert; und auch die Grundfragen, welche die
Intellektuellen und politisch Interessierten zur Zeit des Ost-West-Konfliktes
prägten (z.B. Angst vor einem globalen Atomkrieg zwischen den Supermächten und
aus dieser Angst resultierende Abrüstungsbemühungen) sind nach dem
Zusammenbruch des Sowjetimperiums in ihrer damaligen Form passé.[6]
Angesichts verschiedenster fundamentaler Änderungen des Wesens der Kriege
an der Schwelle des 21.Jahrhunderts wird vom Auftreten “neuer Kriege”
gesprochen. Was sind nun solche “neuen Kriege” und wie unterscheiden sie sich
von den bisherigen, den herkömmlichen Kriegen? Die auf diese Frage
vorweggenommene Antwort lautet: Die Hauptunterschiede liegen v.a. in den
anderen Akteuren und anderen wesentlichen Strukturmerkmalen (betreffend Dauer,
Kriegsziele, Opfer etc.)
Die Akteure z.B. des 1.Weltkrieges (1914-1918) waren hauptsächlich
Staaten - das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich auf der
einen, England, Frankreich, bis 1917 Russland und ab diesem Jahr die USA auf
der anderen Seite. Dazu kamen noch kleinere Staaten wie z.B. Bulgarien,
Rumänien, Italien und Serbien, die alle als Verbündete oder Gegner des einen
oder anderen Bündnisses eine gewisse begrenzte Rolle spielten. Krieg war zu
jener Zeit, wie an diesem Beispiel illustriert werden kann, Krieg zwischen
Staaten, internationaler Krieg.
Politikwissenschaftliche Statistiken legen einen massiven Rückgang dieser
Konfliktform seit 1945 nahe.[7] Man kann sogar sagen, dass internationale
Kriege in der heutigen Welt kaum bis gar nicht mehr vorhanden sind. Dieser an sich
guten Nachricht steht eine sehr schlechte gegenüber: die Zahl der innerstaatlichen Kriege ist massiv
angestiegen.
Die Orte, an denen neue Kriege geführt werden, liegen fast ausschließlich
im verarmten Süden, also den Ländern der Dritten Welt. Während sich Nordamerika
und Westeuropa zu Zonen des Friedens und Wohlstandes entwickelt haben, toben in
Asien und v.a. in Afrika grausamste Kämpfe. Es ist besonders auffällig, dass es
sich dabei fast immer um ehemalige Kolonialgebiete handelt sowie auch zumeist um
Grenzgebiete, die zwischen den dort mit ihren Einflusssphären
aufeinanderprallenden Imperien umkämpft waren - wie etwa einst der Balkan
zwischen Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich oder Afghanistan zwischen
dem Britischen Empire und Russland.[8]
Neue Kriege zeichnen sich durch ihre extrem lange Dauer aus. Autoren wie
z.B. der israelische Militärhistoriker Martin van Creveld sprechen vom “Low
Intensity War”[9], um ein typisches Konfliktmuster zu
charakterisieren: Die Kriege kulminieren nicht mehr in der im Clausewitz’schen
Denken so wichtigen Entscheidungsschlacht, sondern schwelen auf niedrigem
Niveau und dafür umso dauerhafter vor sich hin. Die Länge der heutigen Kriege
ist tatsächlich erstaunlich: In Angola wird seit bald dreißig Jahren gekämpft,
im Sudan seit mindestens zwanzig Jahren, in Somalia seit über fünfzehn Jahren.[10] Dabei muss man noch berücksichtigen, dass
es bei vielen dieser Konflikte schwer ist, einen genau datierten Anfang oder
ein genau datiertes Ende anzugeben - man beachte wieder den Unterschied zu den
hauptsächlich von Staaten geführten beiden Weltkriegen; hier ist die Angabe von
Anfangs- und Enddaten durchaus möglich. Aber nunmehr ist die strenge
Unterscheidung zwischen Kriegs- und Friedenszustand, die etwa im
völkerrechtlichen Entwurf des Hugo Grotius eine so große Rolle spielt, durch
die politische Realität der Gegenwart zunehmend ausgehöhlt: In vielen
Krisengebieten findet man eine Art Schwebezustand, in dem friedliches Leben und
Gewalt nebeneinander und ineinander verwoben existieren.
In Hinblick auf die Waffentechnik eröffnet sich gegenwärtig ein riesiges
Gefälle zwischen Ländern des “Nordens” und des “Südens”: Während das
militärische Arsenal der Industrienationen und v.a. der USA von immer teureren
High-Tech-Waffen geprägt ist, werden die meisten der heutigen Kriege in den
Entwicklungsländern mit sehr billigen, leichten Waffen geführt[11], d.h. es werden zum Teil Maschinengewehre
verwendet, aber auch Macheten, Äxte, Eisenstangen, Messer. Neben
Neuanschaffungen gibt es auch eine Art “Resteverwertung” von uralten Beständen
aus dem Kalten Krieg. Neue Kriege sind zumeist sehr primitive Kriege.
1.2. Ursachen: Aufstände, ethnische Spannungen, failed states
Als Ursachen heutiger innerstaatlicher Kriege können v.a. folgende drei
angenommen werden, die oftmals ineinander greifen:[12]
Zunächst gibt es in Entwicklungsländern (1.) Aufstände verschiedenster Art. Dies können Unruhen sein, die ihre
Ursachen in wirtschaftlichen Faktoren haben - so z.B. Widerstand gegen große
Vermögensunterschiede innerhalb einer Gesellschaft -, es kann sich aber auch um
Unabhängigkeits- und Sezessionsbewegungen handeln. Diese werden nicht zuletzt
oftmals durch neue nationalistische Bewegungen und daraus resultierende (2.) ethnische Spannungen ausgelöst oder
zumindest verstärkt. Man kann davon ausgehen, dass es fast keinen gegenwärtigen
Konflikt mehr gibt, in dem nicht militanter ethnischer Nationalismus eine
gewisse Rolle spielt. Dazu kommt das Phänomen der sogenannen (3.) failed states - typische Beispiele dafür
sind Somalia oder Liberia. Es handelt sich dabei um Staaten, die aus internen
Gründen zusammenbrechen, wobei diese Gründe von Misswirtschaft zumeist
diktatorischer Systeme bis hin zu Überbevölkerung gewisser Regionen oder eben
inneren Revolten reichen. Gerade Zusammenbrüche von Staaten im verarmten Süden
werden im 21.Jahrhundert ein Hauptproblem der Weltpolitik sein.
1.3. Entstaatlichung und Privatisierung der Gewalt
Die Hauptthese des deutschen Politikwissenschaftlers Herfried Münkler zum
Verständnis “neuer Kriege” kann kurz folgendermaßen zusammengefasst werden:[13] Ein zentrales Element neuer Kriege ist die
“Entstaatlichung” und damit Privatisierung von Gewalt. Im frühneuzeitlichen
Europa ist es gelungen - auch nach schrecklichen Erfahrungen wie dem halb Deutschland
entvölkernden Dreißigjährigen Krieg - Staaten aufzubauen, die ein Gewaltmonopol
innehaben. Der Umstand, dass Staaten zu alleinigen Akteuren des Krieges wurden,
führte in vielfacher Hinsicht zu Möglichkeiten der Disziplinierung der Soldaten
und der “Hegung” des Krieges durch innerstaatliche und völkerrechtliche Regeln.
In den Entwicklungsländern des Südens sind ähnliche Voraussetzungen wie
im frühneuzeitlichen Europa nicht gegeben. Hier kam es nicht zur Ausbildung
einer ähnlich robusten Staatlichkeit. Dies liegt an vielen verschiedenen
Umständen, z.B. an Folgen des Kolonialismus, anderen kulturellen Traditionen
oder dem Fehlen korruptionsresistenter Eliten, die in politischer Betätigung
eine höhere Aufgabe und Berufung sehen als bloß schamlose persönliche
Bereicherung. Die nur schwer zu kontrollierenden Kräfte der Globalisierung tun
ein übriges, um die doch noch bestehenden Ansätze von Staatlichkeit zu
untergraben. Die Folge ist ein Ausbruch von Anarchie, der am ehesten durch
Eingriffe von außen und einem bedauerlichen Aufleben neokolonialer Strukturen,
aber wahrscheinlich gar nicht mehr eingedämmt werden kann. Die neuen Kriege
wirken rein desaströs und zerstörerisch auf die Gesellschaften, in denen sie
toben - im Gegensatz zu früheren Kriegen, die bei all ihren negativen Folgen,
glaubt man manchen Historikern, möglicherweise Fortschritt oder sozialen
Zusammenhalt förderten. Doch diese Zeiten sind, so sie jemals existierten, lang
vorbei. Die neuen Kriege verewigen sich vielmehr, wuchern wie Krebsgeschwüre
vor sich hin und hinterlassen wenig mehr als verbrannte Erde, Ruinen und eine
zerrüttete und zur Aufrechterhaltung einer Friedenswirtschaft weitgehend
unfähige Bevölkerung.
Die Akteure der neuen Kriege sind private Gruppen. Besonders
erwähnenswert sind dabei Widerstandsbewegungen, also Rebellen aller Art;
interessant ist aber auch die immer häufiger auftretende Figur des “Warlords” -
des Kommandanten einer bewaffneten Truppe oder Bande, der einen bestimmten Teil
des Gebietes eines “failed state” unter seine Kontrolle gebracht hat und dort
Schutzgelder erpresst, militärische Aktivität entfaltet, illegale Geschäfte
organisiert etc. Aber auch in den modernen Industrienationen wurde auf diesen
Trend reagiert: Es gibt mittlerweile zahlreiche Söldnerfirmen, die rund um den
Globus Truppen einsetzen können - zum Schutz von Diktatoren genauso wie zu
Interventionen in Bürgerkriegen. Ein besonders hervorzuhebendes Beispiel für
die Privatisierung der Kriegsführung ist zudem die weltweite Zunahme
terroristischer Aktivitäten.
1.4.. Die menschliche Tragödie
Die “neuen Kriege” zeichnen sich durch die Verursachung von menschlichem
Leid und Elend aus, dessen wahres und kaum fassbares Ausmaß nur unzureichend in
Worten oder Zahlen ausgedrückt werden kann.
Gewalt in den neuen Kriegen richtet sich immer weniger gegen einen
bewaffneten und gut organisierten Feind, sondern zunehmend gegen die
Zivilbevölkerung eines Landes[14]; entweder geht die Kriegsstrategie in
Richtung eines Genozides, verübt an bestimmten Ethnien - ein prominentes
Beispiel dafür ist der Bürgerkrieg in Ruanda, wo im Konflikt der beiden Stämme
der Hutus und Tutsis binnen eines Monats 500.000 Menschen niedergemetzelt
wurden[15] -, oder die Zivilbevölkerung wird durch
Einschüchterung durch bewaffnete Marodeure zur Ernährung und Versorgung der
Truppen gezwungen.
Die “Privatisierung” der Gewalt führt zu ihrer mangelnden Kontrolle. Noch
zu Zeiten des 1.Weltkrieges, als reguläre und von Staaten kontrollierte Armeen
in internationalen Kriegen gegeneinander kämpften, waren 90% der Opfer
Soldaten, nur 10% Zivilisten; in den neuen Kriegen zu Beginn des
21.Jahrhunderts haben sich diese Zahlen umgekehrt.[16]
Den höchsten Preis der neuen Kriege bezahlen regelmäßig die Kinder. Nach Schätzungen
des Kinderhilfswerkes der Vereinten Nationen (UNICEF) sind allein während der
80er Jahre 1,5 Millionen Kinder im Zuge von Kriegen getötet worden, weitere 4
Millionen wurden in irgendeiner Form verstümmelt - z.B. erfolgte bei ihnen ein
Verlust von Gliedmaßen, Erbildung, Gehirnschäden etc. durch Landminen,
Bombardements, Feuerwaffen oder Folter. 12 Mio. Kinder verloren ihre Heimat und
wurden zu Flüchtlingen.[17]
Doch Kinder und Jugendliche sind nicht nur Opfer, sondern werden von
kriegsführenden Gruppierungen zunehmend auch als Täter instrumentalisiert. Die
Vereinten Nationen schätzen die Zahl der aktiven Kindersoldaten weltweit auf
ca.300.000. Der Umstand, dass automatische Waffen immer weniger Gewicht haben
und auch immer leichter zu bedienen sind, hat auch ganz junge Menschen, von
denen viele sogar unter 14 Jahre sind, kriegstauglich gemacht. Ihr geringes
Risikobewusstsein, ihre billige Verfügbarkeit, ihre Sorglosigkeit im Umgang mit
Gewalt und ihr oft blinder Gehorsam macht Kinder und Jugendliche zu besonders
geeigneten Werkzeugen der Kriegsparteien. Entsprechend haben auch z.B. die
Roten Khmer in Kambodscha[18] oder jüngst die Taliban in Afghanistan[19] massenhaft auf Kindersoldaten
zurückgegriffen. Für die Halbwüchsigen wiederum bietet in Ländern des unterentwickelten
Südens das Soldatenhandwerk oftmals bessere Überlebenschancen als ein ziviles
Dasein in einer verarmten und kaputten Gesellschaft - es bietet z.B.
regelmäßige Versorgung, aber auch die Möglichkeit einer ungeahnten sozialen
Anerkennung.[20] Mit der Waffe in der Hand können sich
Teenager durch die Verbreitung von nackter Angst so etwas wie “Respekt”
verschaffen, dazu materielle Vorteile aller Art und unter Umständen sogar das
Ausleben grausamer Allmachtsphantasien. “Was kann denn”, so gibt der deutsche
Nahost-Experte Peter Scholl-Latour die Meinung eines seiner afrikanischen
Gesprächspartner wieder, “einem zwölf- bis vierzehnjährigen Kindersoldaten, der
sonst als Straßenjunge oder Gelegenheitsarbeiter vegetiert, Besseres passieren,
als mit seiner Kalaschnikow die Erwachsenen zu terrorisieren und durch
Blutvergießen seine Allmacht zu beweisen?”[21] Und natürlich ist die Anwendung von Gewalt
gerade für heranwachsende Männer auch eine Möglichkeit zur Erlangung von sonst unerreichbaren
sexuellen Vorteilen aller Art.
Die massive Zunahme von Vergewaltigungen gehört zu den traurigsten und
schrecklichsten Aspekten der neuen Kriegsführung. Nach Schätzungen von
internationalen Organisationen wurden in den Balkankriegen der letzten zehn
Jahre zwischen 20.000 und 50.000 Frauen vergewaltigt; nach Angaben von Human
Right’s Watch wurden in Ruanda ca. 250.000 Frauen zu Vergewaltigungsopfern.[22] Freilich gab es bereits in früheren Kriegen
- und zwar seit Menschengedenken - Fälle von Vergewaltigungen, die das
Kriegsgeschehen begleiteten. Doch z.B. in Zeiten, da die Staaten die Herren des
Geschehens im Krieg waren, wurden Versuche unternommen, genau solche Übergriffe
zu unterbinden. Teils geschah dies aus moralischen und völkerrechtlichen Überlegungen
- so wird etwa in der Genfer Konvention den Kriegsparteien die Pflicht
auferlegt, dass die Frauen “vor jedem Angriff auf ihre Ehre und namentlich vor
Vergewaltigung, Nötigung zur Prostitution und jeder unzüchtigen Handlung”
geschützt werden müssen -, teils waren es aber auch ganz zweckrationale
Überlegungen, die zu Versuchen der Unterbindung von Vergewaltigungen führten,
so z.B. die Angst vor Verbreitung von Geschlechtskrankheiten in der Truppe und
die daraus resultierende Verringerung ihrer Kampffähigkeit.[23] In den neuen Kriegen weist die
Zweckrationalität in eine andere Richtung: Die Massenvergewaltigungen z.B. in
Bosnien oder Ost-Timor zeigen deutlich, dass systematisch ausgeübte sexuelle
Gewalt mittlerweile mehr ist als eine unerwünschte Nebenerscheinung eines
Krieges; vielmehr wird sexuelle Gewalt Teil einer Kriegsstrategie, die auf
“ethnische Säuberung” abzielt. Frauen werden so nicht nur zur “Beute”, sondern
v.a. zu einem wichtigen Angriffsziel.[24]
Dabei spielen für die Kriegsparteien folgende Überlegungen eine Rolle:
Durch Massenvergewaltigung kann “ethnische Säuberung” effizienter und billiger
erreicht werden als durch Bomben. Durch Massenvergewaltigungen wird eine
Demoralisierung weiter Teile der Bevölkerung erreicht, die dann “freiwillig” einen
bestimmten Landstrich verlassen. Von feministischer Seite werden
Vergewaltigungen im Zuge der neuen Kriege oft als Kommunikation zwischen
Männern angesehen:[25] Die Vergewaltigung von Frauen findet nicht
selten im Beisein naher männlicher Angehöriger statt, die dadurch ein Gefühl
von absoluter Ohnmacht erleben sollen - das Unvermögen nämlich, ihre Frauen
“beschützen” zu können. Zudem wirkt sich Vergewaltigung in traditionellen
Gesellschaften besonders desaströs aus:[26] In diesem sozialen Umfeld gelten vergewaltigte
Frauen als stigmatisiert (was von einem “aufgeklärten” Standpunkt moderner
Gesellschaften selbstredend unverständlich ist, tragen doch die Frauen als
Opfer keine Schuld an den von ihnen verübten Gewalthandlungen) und fallen als
künftige Ehefrauen und Mütter aus. Die traditionellen Gesellschaften verlieren
so ihre Reproduktionsfähigkeit. Und gerade in solchen traditionellen
Gesellschaften ist die Aussicht auf die Durchführung von Vergewaltigungen für
manche Männer besonders verlockend, können so doch sexuelle Phantasien
befriedigt werden, welche die rigide Sexualmoral ansonsten nicht zuließe. Dazu
kommt, dass aufgrund moderner Entwicklungen (von der die Emanzipationsbewegung
ein Ausdruck ist) Männer in vielfacher Hinsicht an gesellschaftlicher Vormachtstellung
gegenüber Frauen eingebüßt haben. Gar mancher Mann, der, traditionell erzogen,
mit diesen Entwicklungen nicht umgehen kann und zudem in seinem Einzelschicksal
mit Arbeits- und Perspektivenlosigkeit konfrontiert ist, möchte sich durch die
brutale Erzwingung von Machterlebnissen schadlos halten, was unsägliches Leid
produziert.[27]
Auch andere unfassbare Gräueltaten werden in den neuen Kriegen ausgeübt,
die so den traditionellen Kriegsbegriff sprengen und so zu Massakern und
Schlächtereien, ja regelrechten riesenhaften “Foltermaschinen” werden. Zur
Illustration das Beispiel Sierra Leone: Dort leben gegenwärtig quasi als
“Hinterlassenschaft” des langen Bürgerkrieges zehntausende Verstümmelte, die
das Opfer aufständischer Truppen wurden. Die revolutionären Soldaten hatten es
sich in ihrem häufigen Drogen- und Alkoholrausch zum Spaß gemacht,
unbeteiligten Zivilisten willkürlich Gliedmaßen mit Buschmesser oder Beil
abzutrennen, wobei über den zu verstümmelden Körperteil oft zur Belustigung der
Täter durch das Los entschieden wurde.[28] Die Bezeichnung “neue” Kriege soll nicht
darüber hinwegtäuschen, dass in ihnen sehr “Altes” wiederkehrt, nämlich der
Blutrausch eines archaischen Tribalismus.[29]
Es ist wenig verwunderlich, dass solche und ähnliche Schrecken Flüchtlingsströme
produzieren, welche die neuen Kriege regelmäßig begleiten und die geeignet
sind, Nachbarstaaten zu destabilisieren und zur Ausweitung und
Internationalisierung von Bürgerkriegen beizutragen.[30]
1.5. Globalisierung als wirkungsmächtiger Hintergrund
Die sogenannte “Globalisierung” wirkt als allgemeiner Hintergrund der
Internationalen Politik und ist in praktisch all ihren Bereichen spürbar. Es
gibt kaum ein Grundproblem dieses Feldes, das nicht in irgendeiner Form mit
dieser zusammenhängt - dies gilt insbesonders auch für Fragen rund um Krieg und
Frieden.
Als Globalisierung bezeichnet man die zunehmende Verschmelzung der
verschiedenen Gesellschaften in ein globales System von gegenseitiger
Abhängigkeit (Interdependez).[31] Staaten sind nicht länger nach außen
abgeschlossene Monaden, die nur für sich selbst existieren. Vielmehr wächst das
Ausmaß von internationalem Geld- und Gütertransfer und damit Abhängigkeit von
der Außenwelt ständig; der Staat ist ohne internationaler Kooperation immer
weniger in der Lage, seine Wirtschaft zu regeln oder zu kontrollieren. Moderne
Transport- und Kommunikationsmittel machen zudem den raschen Austausch von
Personen und Informationen über nationale Grenzen hinweg möglich. Im Anschluss
an den Kommunikationswissenschaftler Marshal McLuhan spricht man in diesem
Zusammenhang zunehmend von der Entstehung eines “globalen Dorfes”, einer
Weltgemeinschaft also, die den Nationalstaat ersetzen wird.
Eine detaillierte Untersuchung der genauen Auswirkungen der
Globalisierung auf die “neuen Kriege” wäre zu umfangreich, um im Rahmen dieser
Arbeit durchgeführt zu werden. Viele ihrer Aspekte sind aber für die
gegenwärtigen Probleme relevant: Kritiker der Globalisierung werfen diesem
weltwirtschaftlichen Trend die Verschärfung sozialer Ungleichheiten innerhalb
von Gesellschaften und zwischen “Nord” und “Süd” vor, was gewaltsam
ausgetragene Konflikte schürt. Zudem hebelt sie in fast allen Gebieten
staatliche Souveränität aus, sei es durch Fernsehbilder aus Krisenregionen, die
in allen Wohnzimmern flimmern oder sei es durch die Unterminierung staatlicher
Strukturen in Entwicklungsländern. Aber auch Industrienationen sind
sicherheitspolitisch von ihr betroffen: Ihre zahlreichen komplizierten
Vernetzungen machen sie verwundbar für terroristische Angriffe; moderne
Technologie erzeugt grenzüberschreitende Umweltprobleme, Flüchtlingsströme und
international organisierte Kriminalität. Es ist darauf hingewiesen worden, dass
gerade neue Kriege durch ihre Vernetzung mit Drogen-, Waffen- und Mädchenhandel
Anschluss an die unerschöpflichen Ressourcen eines globalen Marktes finden und
gerade dadurch so lange am Leben erhalten werden.[32] Es wird eine Aufgabe des 21.Jahrhunderts
sein, das völkerverbindende Potenzial der Globalisierung durch die Überwindung von
Distanzen zu nützen, ihre negativen Folgen in verschiedenen Teilen dieses
Planeten hingegen in den Griff zu bekommen.
2. Definition der Humanitären Intervention
Eine Lösung für die im vorigen Kapitel angerissenen Probleme, die von
politischen Entscheidungsträgern wie von Teilen der verfügbar Fachliteratur
angeboten wird, soll das Instrument der “Humanitären Intervention” bieten.
V.a. den massiven Menschenrechtsverletzungen, die im Zuge der neuen,
innerstaatlichen Kriege auftreten, soll durch sie entgegengetreten werden. Ihre
ethische und politische Zulässigkeit wird in der vorliegenden Arbeit unter
verschiedenen Gesichtspunkten thematisiert.
Es ist wohl nötig, an dieser Stelle eine Definition bzw. einen
Definitionsversuch der Humanitären Intervention voranzuschicken, um eine klare
Begrifflichkeit zu schaffen. Dabei kann u.a. auf Otfried Höffe zurückgegriffen
werden, der vier Kritierien der “Humanitären Intervention” aufzählt:[33]
*
Es handelt sich um einen
Eingriff in die inneren Angelegenheiten
eines souveränen Staates,...
*
..., der mit
Zwangsmitteln, insbesondere militärischer
Gewalt...
*
...und ohne Zustimmung der Regierung besagten
Staates erfolgt,...
*
..., sofern die
Einmischung sich gegen massive
Menschenrechtsverletzungen richtet.
Ich denke, dass man in eine sinnvolle Definition den wesentlichen Inhalt
dieser vier Kriterien als Minimalbestand übernehmen muss. Die ersten drei
beziehen sich auf die Mittel (Einmischung, Gewalt, keine Zustimmung), das
letzte auf den Zweck der Humanitären Intervention (Ziel bzw. Absicht: Beendung
massiver Menschenrechtsverletzungen). In Auseinandersetzung mit der Humanitären
Intervention wird man, wie man bereits jetzt unschwer erkennen kann, immer
wieder auf die “ewige” (und vielleicht unlösbare?) Grundfrage der Ethik
zurückkommen müssen, ob und unter welchen Bedingungen der gute Zweck die Mittel
heiligt oder umgekehrt, die bösen Mittel den höheren Zweck moralisch
diskreditieren. Die Art, wie man sich einer Beantwortung dieser Frage nähert,
wird weitgehend bestimmen, ob man die Humanitäre Intervention als
wünschenswerten (oder zumindest zur Vermeidung schlimmerer Übel in Kauf zu
nehmenden) Beitrag zur Schaffung einer friedlichen Weltordnung oder als bloßen
“Widerspruch in sich” auffasst.
Das erste und das dritte Kriterium Höffes (Einmischung, keine Zustimmung)
hängen eng miteinander zusammen; ja, sie sind eigentlich eines. Denn eine
Einmischung in innere Angelegenheiten eines souveränen Staates mit dessen Zustimmung wäre eher
unproblematisch. Auch der Völkerrechtler Otto Kimminich betont, dass man z.B.
gar nicht von einer “Intervention” sprechen kann, wenn z.B. ein Staat einen
anderen um äußere Hilfe bei der Erfüllung seiner inneren Ordnungsfunktionen
oder humanitären Hilfeleistungen bittet und dem diesbezüglichen Ansuchen
nachgekommen wird.[34]
In Höffes zweitem Kriterium wird von Zwangsmitteln im Allgemeinen und
militärischer Gewalt im Speziellen gesprochen. In der vorliegenden Arbeit soll
der Begriff der “Intervention” (und damit automatisch auch der “Humanitären
Intervention”) allein auf militärische
Eingriffe angewandt werden.
Diese Sichtweise wird nicht von allen geteilt. Der UN-Generalsekretär
Kofi Annan schlägt z.B. eine viel weitere Definition des Begriffes der
“Intervention” vor. Er versteht darunter ein Kontinuum von vielfältigen
Eingriffsmöglichkeiten, das sich von einer diplomatischen Mission bis zum
Einsatz militärischer Mittel erstreckt. Er spricht sinngemäß u.a. von allen nur
denkbaren Aktionen, die Gewalt stoppen, das Los der Menschen verbessern oder
einen Konflikt eindämmen können.[35] Auch Wirtschaftssanktionen oder rein zivile
humanitäre Maßnahmen ohne militärische Absicherung (wie Lebensmittellieferungen
oder die Betreuung von Flüchtlingslagern), ja selbst in der Öffentlichkeit
geäußerte Kritiken, könnten also - wenn ihr Einsatz in einer bestimmten
Situation angebracht erscheint - unter seine Definition fallen.
Kofi Annans Definition hat den unbestreitbaren Vorteil, auch andere d.h.
gewaltlose Mittel des Menschenrechtsschutzes ins Blickfeld der zu ergreifenden
Optionen zu rücken. Gleichzeitig ist es eine so weite und damit automatisch
unbestimmte Begrifflichkeit und damit in einer wissenschaftlichen Arbeit kaum
sinnvoll.[36] Die ethischen Problematiken, die im Zuge
der Auseinandersetzung mit der Humanitären Intervention entstehen, werden
nämlich zum größten Teil durch den Einsatz von Gewalt verursacht. Öffentlich
geäußerte Kritik, moralischer Druck oder zivile humanitäre Hilfe zur Abwehr
massiver Menschenrechtsverletzungen in anderen Staaten erscheinen - obwohl sie
auch von einigen Seiten Kritik erfahren[37] - ethisch relativ unproblematisch.
Ähnliches gilt sogar von wirtschaftlichem Druck. Es kann doch nicht unzulässig
sein, wenn ein Staat z.B. von einem Handelspartner verlangt, gewisse
grundlegende moralische Normen (wie z.B. die Respektierung des Rechtes auf
Leben) zu befolgen und er sich bei Nicht-Befolgung dieser Normen durch die
andere Seite außerstande sieht, ein sinnvolle Wirtschaftsbeziehungen erst
ermöglichendes Vertrauensverhältnis zum Gegenüber aufzubauen. (Dass der Westen
de facto aus Prinzipien heraus zwar auf das Recht zur militärischen
Intervention besteht, aber nur ungern auf Vorteile von wirtschaftlichen
Aufträgen aus menschenrechtsverletzenden Diktaturen verzichtet - wie man in
seinem Verhältnis zu China ersehen kann -, steht dabei übrigens auf einem
anderen Blatt Papier). Allenfalls, wenn wirtschaftliche Sanktionen so hart
ausfallen, dass sie die Existenzgrundlage eines ganzen Volkes bedrohen, im
Gefolge von Hungersnöten v.a. Zivilisten treffen, aber selbst über längere
Zeiträume nicht die erwünschte Wirkung zeigen, kann man aus meiner Sicht
legitimerweise über die ethische Zulässigkeit derselben diskutieren (eine
ähnliche Charakterisierung trifft auf die seit 1991 bis vor kurzem in Kraft
befindlichen UN-Sanktionen gegen den Irak zu; sie führten zu Hunger und Not in
der Bevölkerung ohne das Regime nennenswert zu erschüttern oder zu einer
grundsätzlichen politischen Umorientierung zu bewegen).
Aber die wichtigsten ethischen Probleme der Humanitären Intervention
resultieren wie gesagt aus dem Einsatz militärischer Gewalt. Ohne sie könnte
die Zulässigkeit einer Humanitären Intervention (mit einigen Einschränkungen)
schnell und leicht bejaht werden und die vorliegende Dissertation hätte wenig
Sinn. Mit dem Vorliegen dieser Problemen wird die Frage philosophisch komplexer
und rechtfertigt eine längere Untersuchung mit - unmittelbar - ungewissem
Ausgang und der Diskutierung überlegenswerter Argumenten sowohl auf der Seite
der Befürworter, als auch auf jener der Skeptiker.
Noch eine Bemerkung zu Höffes viertem Kriterium (Ziel: Beendung massiver
Menschenrechtsverletzungen) ist nötig. Das Kriterium ist eine “ius ad
bellum”-Bestimmung; es beantwortet also die Frage, wann Krieg nach Ansicht
eines Befürworters der Humanitären Intervention legitimerweise begonnen werden
kann: Wenn massive Menschenrechtsverletzungen vorliegen und diese unbedingt
gestoppt werden müssen. Was unter “massiv” zu verstehen ist, wird im Laufe der
vorliegenden Arbeit noch thematisiert (auch Befürworter der Humanitären
Intervention meinen: nicht jede vereinzelte oder weniger schwerwiegende
Menschenrechtsverletzung rechtfertigt den Einsatz so radikaler Mittel, sondern
es muss ein gewisser Schweregrad vorliegen[38]).
In einem NATO
Seminar in Schevingen wurde die Humanitäre Intervention ähnlich definiert,
nämlich als "an armed intervention in another state, without the agreement
of that state to address (the threat of) a humanitarian disaster, in particular
caused by grave and large-scale violations of fundamental human rights."[39] Der Kern des Arguments steht in Relation zu
den beiden Begriffen "Souveränität" und "Menschenrechten".
Damit eine Intervention vorliegt, muss die Souveränität gebrochen werden, d.h.
ohne Zustimmung des betreffenden Staates erfolgen. Und es muss ein
systematischer Bruch von Menschenrechten vorliegen, der von der Intervention
beseitigt werden soll.
Die Charta der Vereinten Nationen gibt dem Sicherheitsrat unter Artikel
24 (1) die Autorität, alle notwendigen Maßnahmen zu treffen, um internationalen
Frieden und Sicherheit wiederherzustellen. Da die Menschenrechte in modernen
Interpretationen eine Voraussetzung für Frieden und Sicherheit sind, kann dies
als Ermächtigung des Sicherheitsrates angesehen werden, humanitäre Interventionen
durchzuführen. Umstritten bleibt ob eine Humanitäre Intervention ohne
Zustimmung des Sicherheitsrates erfolgen darf oder nicht (ein Problematik, die
im nächsten Kapitel genauer ausgeführt werden soll).
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die in der UN-Charta aufgebaute
Spannung zwischen Menschenrechtsschutz und Souveränität. Dem
Menschenrechtsschutz wird in verschiedensten Teilen der Charta und auch in der
Präambel große Bedeutung eingeräumt. Im Artikel 55 wird auf die Bedeutung eines
Ausgleichs zwischen Souveränitätsansprüchen und Menschenrechtsschutz
hingewiesen.
Andererseits wird die Souveränität als wesentliches Prinzip der
Internationalen Beziehungen anerkannt, was besonders in Artikel 2 (7)
ausdrücklich festgestellt wird. Sie darf prinzipiell nicht durch Gewalt
verletzt werden (Art. 2(4)). Ausnahmen davon sind nur beschränkt zulässig und
hängen eng mit dem Gedanken der kollektiven Sicherheit und damit einem Mandat
des Sicherheitsrates zusammen. Die Interpretation der Stellung der Charta zur Humanitären
Intervention ist somit schwierig bis umstritten.
Zusätzlich zu all den angeführten Aspekten hat sich, wovon auch später
noch ausführlicher die Rede sein wird, die Meinung etabliert, dass neben den Zielen eines Krieges auch die Art relevant ist, wie er geführt wird.
Ein Krieg, der gute Ziele verfolgt - Schutz der Menschenrechte etwa -, aber
dies z.B. mit unverhältnismäßig grausamen Mitteln tut - etwa
Massenvernichtungswaffen oder Folter einsetzt -, ist (besonders unter
Zugrundelegung der Gerechten-Kriegs-Theorie) ungerecht.[40]
Der Streit zwischen Befürworter und Gegnern der Humanitären Intervention
dreht sich also u.a. um die Frage, ob der gute Zweck die schlechten Mittel heiligt;
die einen bejahen mit Vorbehalten, die anderen verneinen prinzipiell. Aber
beide, Befürworter und Gegner sind sich darüber einig, dass wenn die angewandten Mittel ein bestimmtes Maß an Schlechtigkeit
überschreiten, der gute Zweck nicht
mehr zur Rechtfertigung des Krieges herangezogen werden kann.
Diese Ansicht wird auch in der Literatur vielfältig ausgedrückt:
“Die Intervention muss selbst humanitären Maßstäben genügen, um als
Humanitäre Intervention zu gelten. Dieser Zusatz erscheint mir unverzichtbar.
Oft werden ausschließlich der humanitäre Anlass (‘humanitäre Katastrophe’) und
das entsprechende Motive der intervenierenden Partei audrücklich erwähnt. Dies
ist in meinen Augen verkürzt, denn genau die genannte zusätzliche Bedingung
einer Humanitären Intervention führt dazu, dass ein möglicher Selbstwiderspruch
auftaucht. Kann es überhaupt eine militärische Intervention geben, die
humanitär ist - und zwar nicht in ihrer Zielsetzung, sondern auch in ihrer
Duchführung?”[41]
“Moralisch gerechtfertigt ist eine Humanitäre Intervention nur dann, wenn
sie nicht selbst genau das mit sich bringt, wogegen sie sich wendet - und woher
Humanitäre Interventionen ihre ganze raison d’être beziehen. Humanitäre
Interventionen, die im Vergleich zu den Verbrechen, die durch sie verhindert
werden sollen, selber massive Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen,
können nicht moralisch erlaubt sein. Humanitäre Interventionen dürfen nicht
ihrerseits den Grund für moralisch gerechtfertigte Humanitäre
Gegen-Interventionen abgeben.”[42]
“Die Ebenen von ius ad bellum
und ius in bello sind nicht strikt
getrennt. Die Art der Kriegsführung, also welche militärischen Operationen mit
welchen Mitteln militärische Befehlshaber gestatten oder nicht, können die
Rechtfertigung des Schritts zum Krieg aushöhlen. Wenn die Art der Kriegsführung
extremes Unrecht verkörpert - etwa Massaker an der Zivilbevölkerung, die
Folterung und Ermordung von Kriegsgefangenen, massive Bombardements der
Zivilbevölkerung - dann ist auch ein anfänglich legitim scheinender Krieg
nichts als ein moralisches Desaster.”[43]
Es ist daher wohl sinnvoll, eine Humanitäre Intervention nur als solche
zu bezeichnen, wenn sie neben der humanitären Absicht auch auf “relativ”
humanitäre Art d.h. unter Respektierung des Kriegsrechtes (das heißt unter
Respektierung des “ius in bello”, also den Humanitären Kriegsrecht) geführt
wird. Dies wäre dann ein hinzuzufügendes fünftes Kriterium für eine
entsprechende Definition. Das heißt, einer Intervention, die - ganz abgesehen
von ihren öffentlich proklamierten Zielen - mit extremer Unmenschlichkeit
durchgeführt wird, ist das Prädikat “humanitär” auf jeden Fall abzusprechen.
Ist die Humanitäre Intervention nun völkerrechtlich zulässig? Ist
militärisches Eingreifen in der gegenwärtigen Völkerrechtsordnung ein
juristisch erlaubtes Mittel, um Menschenrechte zu schützen? Was sagt zunächst
das Völkerrecht zu diesem Themenkomplex? Dies soll im nächsten Kapitel näher
beleuchtet werden.
3. Humanitäre Intervention und Völkerrecht
3.1. Vom Mittelalter zum klassischen Völkerrecht
Das völkerrechtliche Denken (bzw. seine Vorform) des Mittelalters war
geprägt von der Dominanz der Theorie des “gerechten Krieges”. Diese u.a. von
Augustinus maßgeblich entworfene und v.a. von Thomas von Aquin systematisch
weiterentwickelte Lehre sollte einen moralischen Referenzrahmen für die
Beurteilung der Zulässigkeit von Kriegen bieten. Ein “gerechter Grund”, eine
“rechte Absicht”, eine “legitime Autorität” und eine ganze Reihe anderer
Bedingungen müsse erfüllt sein, so meinten die meist christlich motivierten
Denker, wenn ein Krieg moralisch verantwortbar sein soll. So sah das
Mittelalter Kriegsführung: Der für die gerechte Sache Streitende kämpft gegen
jemanden, der im Unrecht ist bzw. Unrecht getan hat.
Bereits bei Francisco de Vitoria, einem spanischen Spätscholastiker, von
dem später noch ausführlicher die Rede sein soll, zeichnete sich eine langsame
Überwindung dieses schwarz-weißen Dualismus ab: In seiner Philosophie steht ein
Fürst, der einen gerechten Krieg führt, zwar auch einem Schuldigen gegenüber;
auch für ihn kämpf objektives Recht gegen objektives Unrecht. Allerdings
unterscheidet er bereits zwischen “objektivem” und “subjektivem” Unrecht, will
heißen: Ein sich objektiv im Unrecht befindender Kämpfer kann durchaus glauben, er sei im Recht und insoferne
aus Überzeugung handeln, Gutes zu tun. In dieser Konstellation ist es möglich,
dass Krieg - wenngleich nicht objektiv, aber immerhin subjektiv - auf beiden
Seiten gerecht ist.
Hugo Grotius entwarf an der Schwelle der Neuzeit die Grundzüge eines
völkerrechtlichen Systems, das später als “klassisches Völkerrecht”
jahrhundertelange Geltung besitzen sollte und dessen Entwicklung er maßgeblich
beeinflusste. Dennoch meinte er noch zwischen einem “gerechten” und einem
“ungerechten” Krieg deutlich unterscheiden zu können.[44] Aber unter seinen Nachfolgern und
Interpreten setzte sich schließlich eine andere Ansicht durch: die Idee des
“gerechten Krieges auf beiden Seiten” (bellum iustum ex utraque parte).
3.2. Das klassische Völkerrecht
Die Beschäftigung mit der Situation des gutgläubig handelnden, aber
objektiv im Unrecht befindlichen Kriegsführenden, warf eine völlig neue Frage
auf: kann der Krieg auf beiden Seiten gerecht sein? Es war Alberto Gentili, der
diese Frage letztlich bejahte.[45] Diese Entscheidung markiert einen
Epochenabschluss - es war die Überleitung von mittelalterlichen Abschauungen zu
dem die ganze Neuzeit bis zum 1.Weltkrieg dominierenden System des “klassischen
Völkerrechts”. Was war geschehen?
Staatengeschichte und Völkerrechtsgeschichte beeinflussen einander
gegenseitig.[46] Das Völkerrecht folgt politischen
Entwicklungen auf dem Fuß, die es widerspiegeln muss, um sinnvoll anwendbar zu
sein. Politische Entwicklungen wiederum werden oft von völkerrechtlichen
Rahmenbedingungen beeinflusst. Zu Beginn der Neuzeit entwickelte sich das, was
heute als moderne Staatlichkeit gilt. “Staat” im heutigen Sinne war in Ansätzen
(möglicherweise) in der Antike vorhanden, dem europäischen Mittelalter aber
fremd.
Sehr vereinfacht könnte man folgende Beschreibung geben: Im Mittelalter
gab es politische Gebilde, die auf persönlichen Treuebeziehungen zwischen
Lehensherren und Lehensträgern beruhten. In der Neuzeit wurden Beziehungen
zwischen Obrigkeit und Herrschaftsunterworfenen entpersonalisiert und
institutionalisiert. Große Bürokratien wurden geschaffen, die dem Mittelalter
fremd waren. Herrschaft wurde auf Zentralgewalten vereint, kleinere Einheiten
entmachtet. Und die “Nationalität” begann eine Rolle zu spielen. Mittelalterliche
Herrschaftsgebilde waren Imperien, die viele Volksgruppen vereinten, die
Organisation von Macht erfolgte lediglich auf einer territorialen Basis. In der
Neuzeit versuchte man hingegen, Staaten auf einer nationalen Basis zu
etablieren - die Zugehörigkeit zu einer bestimmten “Mehrheitsgruppe” wurde
politisch relevant. Auf religiösem Gebiet zeigte sich folgende Entwicklung: Die
Glaubensspaltung stellte die - zumindest theoretisch vorhandene - Einheit der
mittelalterlichen Welt in Frage. Um das friedliche Zusammenleben von
Protestanten und Katholiken gewährleisten zu können, musste man langfristig
andere politische Organisationsformen als rein religiös orientierte finden. Die
“universalen” Obrigkeiten, die zumindest in der Theorie allen anderen Machthabern
übergeordnet waren, wurden zunehmend in Frage gestellt: Der Papst wurde von den
Protestanten nicht anerkannt, der Kaiser wurde immer mehr von
Territorialfürsten und aufkommenden Nationalstaaten herausgefordert.
Es ist kein Zufall, dass in einer solchen Situation der Begriff der
“Souveränität” aufkam. Um ihn herum ist das System des klassischen
Völkerrechtes aufgebaut.[47] Der Begriff wird erstmals im Vertragswerk
des Westfälischen Friedens (1648) ausdrücklich bestätigt, die Sache selbst bzw.
Bestrebungen dazu findet man aber schon im Spätmittelalter. Souveränität ist
Unabhängigkeit nach außen und innen. Es bedeutet, dass ein Fürst bzw. - als die
Zeiten spätestens nach der Französischen Revolution immer republikanischer
wurden - ein vom Volk getragener Staat keinen höheren Machthaber über sich hat.
Souveräne Staaten stehen einander gleichberechtigt gegenüber, keiner darf über
den anderen richten. Die inneren Angelegenheiten werden von jedem Staat selbst
geregelt, kein anderer ist zur Einmischung befugt. In den äußeren
Angelegenheiten besitzt jeder Staat das Recht, Kriege zu führen. Die Debatte
rund um den “gerechten Krieg”, die das Mittelalter so bewegt hatte, wurde
abgebrochen. Jeder von einem souveränen Staat geführte Krieg wurde als rechtens
betrachtet.[48] Krieg wurde von einem wertneutralen
Standpunkt betrachtet, rein als Mittel der Interessensdurchsetzung. Vom
heutigen Standpunkt, der das Elend des Krieges für alle Menschen in den
Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt, ist eine solche Sichtweise nur mehr
schwer verständlich. Das klassische Völkerrecht trug aber durchaus den
politischen Realität der auseinanderfallenden politischen Welt des Mittelalters
Rechnung. Es wurden auch zahlreiche Versuche unternommen, den Krieg “zu hegen”,
d.h. die Kriegsführung durch Rechtsbestimmungen menschlicher zu machen. Diese
bleibende Leistung des humanitären Kriegsrechtes, welche das moderne
Völkerrecht vom klassischen übernommen hat, ist sehr wichtig. Auch den
Gerechten-Kriegs-Theoretikern des Mittelalters und der Spätscholastik war die
Hegung des Krieges durch ein “ius in bello” ein Anliegen. Das klassische
Völkerrecht konnte dieses aber schon alleine deshalb besser entwerfen, eben
weil es den Krieg nicht moralisierte und den Feind zum Übeltäter erklärte.
Krieg wurde, wenn man es sehr idealtypisch ausdrückt und von zahlreichen
Einzelfällen absieht, eher als eine Art Duell zwischen Gleichberechtigten
aufgefasst, weniger als richterlicher Akt der Bestrafung oder als heiliger
Kreuzzug - eine Sichtweise, die “ehrenhaftes”, “faires” Verhalten begünstigt.
Unter diesem Gesichtspunkt kann ein zeitgenössisches Urteil über das klassische
Völkerrecht milder ausfallen.
3.3. Paradigmenwechsel im modernen Völkerrecht
3.3.1. Zunehmende Ächtung des
Krieges
Spätestens nach der zerstörerischen Kraft, die der 1.Weltkrieg in Europa
entfesselte, wurde klar, dass ein Verständnis von Souveränität und “Recht zum
Krieg” wie oben skizziert eine tödliche Gefahr für die ganze Internationale
Gemeinschaft darstellen musste. Moderne Massenvernichtungswaffen hatten das
Antlitz des Krieges dermaßen verändert, dass seine Unrechtmäßigkeit und
Schädlichkeit offenkundig wurde. Es brach konsequenterweise ein sich über viele
Jahrzehnte hinziehender Prozess an, der eine Weiterentwicklung des Völkerrechts
im Sinne einer Kriegsvermeidung und -ächtung mit sich brachte. Wichtige
völkerrechtliche Dokumente auf diesem Weg[49] waren v.a. die Satzung des damaligen
Völkerbundes (der Vorläuferorganisation der UNO), die Regelung zur
Kriegsverhütung beinhalteten - erwähnenswert ist v.a. eine Verpflichtung zur
vorherigen friedlichen Beilegung des Konfliktes durch geregelte Verfahren - und
der sogenannte Briand-Kellogg-Pakt, der am 24.Juli 1929 in Kraft trat und dem
insgesamt 63 Staaten beitraten - damals ein überwiegender Teil der
Völkerrechtsgemeinschaft. Der Pakt ächtet den Krieg und verbietet ihn als
Mittel der internationalen Konfliktaustragung. Leider konnte der 2.Weltkrieg
durch diese lobenswerten Regelungen nicht vermieden werden. Ein neues Zeitalter
war jedoch angebrochen: Dasjenige des modernen Völkerrechts.
3.3.2. Allgemeines Gewaltverbot[50]
Im Zentrum des modernen Völkerrechts steht das allgemeine Gewaltverbot.
Es ist in der Charta der Vereinten Nationen, dem als multilateraler Vertrag
praktisch alle Nationen der Welt beigetreten sind, explizit in Artikel 2,
Absatz 4 formuliert. Diesem Artikel gemäß haben alle Mitglieder die Anwendung,
aber auch bereits die Androhung von Gewalt in ihren internationalen Beziehungen
zu unterlassen. Es besteht Einigkeit in der völkerrechtlichen Literatur, dass
in der Formulierung der Charta in erster Linie militärische Gewalt gemeint ist.
Es sei aber darauf hingewiesen, dass ein Gewaltverbot allgemeiner ist als ein
Kriegsverbot. Gewaltanwendung ist also auch verboten, wenn sie nicht zum Krieg
in großem Maßstab eskaliert; und sie ist auch verboten unabhängig davon, ob
eine Kriegserklärung vorliegt.
Es gibt vom allgemeinen Gewaltverbot drei Ausnahmen[51], die von der Charta vorgesehen werden. Kurz
und bündig zusammengefasst sind das folgende: Zunächst gibt es die sogenannte
“Feindstaatklausel” - eine Ausnahmebestimmung, die besagt, dass
Kriegshandlungen gegen die Verlierermächte des 2.Weltkrieges begangen werden
dürfen. Im Gründungsjahr der UNO 1945 befürchtete man noch ein Wiederaufflammen
des Nationalsozialismus und seine Rückkehr an die Macht in Deutschland. Auf dem
Papier existiert die Klausel immer noch, man ist sich aber einig, dass es sich
bei ihr mittlerweile um “totes Recht” handelt. Diese Ausnahme ist also in der
Praxis eigentlich keine. Die zweite Ausnahme besteht in der individuellen und
kollektiven Selbstverteidigung. Ein Staat darf den Angriff eines anderen mit
militärischer Gewalt abwehren. Staaten dürfen sich auch zu
Verteidigungsbündnissen zusammenschließen. Die NATO ist unter spezifischer
Berufung auf die Erlaubnis der “kollektiven Selbstverteidigung” in der
UN-Charta gegründet wurden und in ihrem Gründungsvertrag auch als
Defensivbündnis angelegt - mittlerweile stellt sich die Frage, ob sie nicht
schon längst einen weitaus offensiveren Charakter angenommen hat, als das
internationale Recht im allgemeinen und ihre Gründungsdokumente im besonderen
es vorsehen. Präventivkriege sind vom Selbstverteidigungsrecht nicht abgedeckt,
sie sind völkerrechtlich unzulässig, d.h. Selbstverteidigung ist eng zu ziehen.
Eine dritte Ausnahme liegt vor, wenn der UN-Sicherheitsrat im Sinne der
kollektiven Sicherheit und in Wahrnehmung seiner Verantwortung für den
Weltfrieden den Angriff auf einen friedensbrechenden Staat legalisiert. Nach
der irakischen Invasion in Kuwait 1991 ist dies z.B. geschehen.
3.3.3. Interventionsverbot
Nach herrschender Völkerrechtslehre ist die Intervention in einen anderen
Staat prinzipiell verboten.[52] Wird sie mit militärischen Mitteln
ausgeführt - und von solchen Interventionen ist hier die Rede - verstößt sie
zudem gegen das allgemeine Gewaltverbot. Die Souveränität der einzelnen Staaten
ist im Zeitalter des modernen Völkerrecht relativiert worden - das ursprünglich
darin enthaltene Recht, nach Belieben Kriege zu führen, wurde abgeschafft. Die
Souveränität der Staaten ist aber dennoch vorhanden; noch immer ist jeder
einzelne Staat selbst für seine Innen- und Außenpolitik zuständig.
Was ist keine Intervention nach dem geltenden Völkerrecht? Wenn ein Staat
freiwillig einer Einmischung von außen zustimmt (etwa fremde Hilfe in einem
Bürgerkrieg oder bei einer Naturkatastrophe anfordert) oder etwa durch einen
Vertrag bestimmte Hoheitsrechte abtritt (etwa die Erlaubnis zur Errichtung von
Militärstützpunkten gibt), liegt keine Intervention vor. Humanitäre Hilfe (die
nicht-militärisch ist, also z.B. in der Lieferung von Lebensmittel für die
hungernde Bevölkerung besteht), kann wahrscheinlich sogar schon als
Rechtspflicht betrachtet werden und ist auch keine Intervention. Ebensowenig
kann sich ein Staat auf das Interventionsverbot, wenn er in Bezug auf seine
inneren Angelegenheiten wegen Menschenrechtsverletzungen öffentlich kritisiert wird. Menschenrechte sind - spätestens seit
der Schaffung großer internationaler Vertragswerke, die sie schützen und von
praktisch allen Staaten in irgendeiner Form unterzeichnet und ratifiziert sind
- keine inneren Angelegenheiten mehr. Man kann sie als “erga omnes”-Pflichten
betrachten, die alle etwas angehen.[53] Wenn ein Staat mit dutzenden anderen Staaten
ein Vertragswerk unterzeichnet hat, das ihn zur Einhaltung der Menschenrechte
in seinem Inneren verpflichtet und er verstößt dagegen, sind die anderen zur
Kritik befugt. Kein Menschenrechtspakt ermächtigt die anderen Signatarstaaten
aber zur militärischen Intervention, womöglich noch nach eigenem Gutdünken.
3.4. Bewertung der Humanitären Intervention im Rahmen des gegenwärtigen
Völkerrechts - Problematiken rund um bestehende Regelungen
Wenn der UN-Sicherheitsrat seine Kompetenzen zur Wahrung des Weltfriedens
offensiver auslegen würde - etwa im Sinne eines umfassenden
Menschenrechtsschutzes im Inneren jedes Staates, der erst den Weltfrieden
ermöglicht -, ist er durchaus berechtigt, eine humanitäre Intervention zu
genehmigen.[54] Im Fall Somalia nahm er die “menschliche
Tragödie” der Bevölkerung zum Anlass, um eben genau dies zu tun. Humanitäre
Intervention, die vom UN-Sicherheitsrat genehmigt ist, kann also als erlaubt
betrachtet werden.
Ohne Genehmigungen des UN-Sicherheitsrates, etwa von einzelnen Staaten
oder Staatengruppen durchgeführte Interventionen sind aber nach gegenwärtigem
Völkerrecht problematisch. Darf - ohne Mandat der Weltorganisation - Gewalt
gegen andere Staaten ausgeübt werden, wenn dadurch humanitäre Ziele verfolgt
werden?
Der deutsche Völkerrechtler und Friedensforscher Otto Kimminich antwortet
darauf: “Diese Frage wird von der gesamten Völkerrechtslehre verneint...Eine
Berufung auf das Selbstverteidigungsrecht gemäß Art.51 (Anm. der UN-Charta,
P.H.) kommt für die humanitäre Intervention nicht in Frage; denn das Recht auf
individuelle und kollektive Selbstverteidigung ist nur ‘im Falle eines
bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen’ gegeben. (...)
In der Völkerrechtslehre ist die Meinung vertreten worden, dass in dieser
Extremsituation (Anm. massiver Menschenrechtsverletzungen, P.H.) entgegen dem
Wortlaut (Anm. des Allgemeinen Gewaltverbotes, P.H.) Gewalt angewendet werden
dürfe. Diese Auffassung hat sich nicht durchgesetzt.[55]”
Damit hinterlässt das Völkerrecht allerdings ein allgemeines Dilemma, das
wie folgt umschrieben werden kann: Es sind - zunächst einmal rein theoretisch
betrachtet - Fälle denkbar, in denen massive Menschenrechtsverletzungen
vorliegen, Genozide organisiert werden etc. Durch beherztes militärisches
Eingreifen könnten Nachbarstaaten diese Untaten verhindern. Der
UN-Sicherheitsrat ist allerdings aufgrund seiner inneren Struktur blockiert,
weil einige ständige Mitglieder mit ihrem Vetorecht Beschlüsse verhindern. Die
Ausübung ihrer Vetomacht könnte mit rein machtpolitischen oder strategischen
Überlegungen zusammenhängen. Muss man nun dem Genozid im Nachbarstaat zusehen?
Geht nicht Legitimität vor Legalität, Moral und Menschlichkeit vor vielleicht
fehlerhaft gesatzem Recht?[56] Doch wenn sich einzelne Mitgliedstaaten
über die Autorität der Weltgemeinschaft einfach hinwegsetzen dürfen und
lediglich nach Gutdünken entscheiden, ob eine Notwendigkeit oder Berechtigung
zur Humanitären Intervention vorliegt, fallen wir dann nicht in internationale
Anarchie zurück, ein Recht des Stärkeren? In ein Zeitalter, in der
machtpolitische Interessen unter dem Deckmantel unilateraler sogenannter
“humanitärer Interventionen” durchgeführt werden? Ist nicht eine schlechte
Ordnung der Weltgemeinschaft besser als keine? Wie dem auch sei: Eine
grundlegende Reform des UN-Sicherheitsrates ist unter gegenwärtigen
machtpolitischen Verhältnissen ebensowenig in Sicht wie eine vielfach
geforderte Kodifikation eines unilateralen Rechtes zur Humanitären
Intervention, die alle Unklarheiten und Dunkelheiten der völkerrechtlichen
Interventionslehre beseitigt. In einer Krise des Völkerrechts ist man aber auf
politisch-philosophische Klärungen angewiesen, die im Rahmen dieser
Dissertation angedeutet werden sollen.
3.5. Völkerrecht im Umbruch
Staatengeschichte und Völkerrechtsgeschichte sind, wie bereits
festgestellt, miteinander verbunden. Wie ich im ersten Kapitel über die “neuen
Kriege” zu skizzieren versuchte, befindet sich die gegenwärtige Staatenwelt im
Umbruch. Die in der Neuzeit begründeten Nationalstaaten erleben einen
nachhaltigen Niedergang. Die ethnische Homogenität der Nationen, so sie jemals
eine wünschenswerte Vorstellung gewesen sein soll und so sie faktisch jemals
existiert hat oder nicht, wird im Zeitalter von Globalisierung und
Massenmigration endgültig in Frage gestellt. Es ist sehr zweifelhaft, dass die
traditionellen “Nationen” das 21.Jahrhundert überleben. Das Phänomen der
“failed states” lässt zudem erkennen, dass viele Staaten mit ihren
Ordnungsaufgaben nicht mehr fertigwerden, zusammenbrechen und Chaos und
Probleme hinterlassen. Neben den Staaten tauchen andere Akteure auf, die die
Beziehungen der Völker untereinander prägen, von der dem Umweltschutz
verpflichteten NGO bis hin zum multinationalen Konzern, vom Warlord bis hin zum
Terroristen, von der Weltorganisation UNO bis hin zu supranationalen und
multikulturellen regionalen Zusammenschlüssen wie der Europäischen Union. Der
Krieg hat entsprechend sein Antlitz geändert. Langfristig kann das Völkerrecht
von diesen Entwicklungen nicht unberührt bleiben. Es wird sich in einem
vielleicht über Jahrzehnte hinziehenden Prozess entsprechend weiterwandeln.
Ein deutlicher Trend, den man im gegenwärtigen Völkerrecht erkennen kann,
ist der zur “relativen Souveränität”.[57] Staaten können, wie oben skizziert, sich
schon längst nicht mehr legalerweise auf “innere Angelegenheiten” berufen, wenn
sie Menschenrechte in ihrem Inneren verletzen; und prinzipiell könnte die
Internationale Gemeinschaft mit Mandat des UN-Sicherheitsrates auch eine
Humanitäre Intervention genehmigen; die Sicherung des Weltfriedens wird von
Fachkreisen nicht zu Unrecht immer mehr im Zusammenhang mit der
Menschenrechtssituation innerhalb der Einzelstaaten definiert. Waren noch im
klassischen Völkerrecht ausschließlich souveräne Staaten Völkerrechtssubjekte
(das heißt Träger von Rechten und Pflichten im Sinne des Völkerrechts), so
setzt sich heute immer mehr die Erkenntnis durch, dass im Mittelpunkt jeder
geltenden Rechtsordnung letztlich der Einzelmensch steht, der als Träger
fundamentaler und zu schützender Menschenrechte angesehen werden muss. Dies
alles deutet möglicherweise auf einen Trend hin, der die Humanitäre
Intervention irgendwann einmal als allgemeines Rechtsdurchsetzungsmittel zur
Geltung bringen wird. Aber das ist noch alles Zukunftsmusik; und Trend ist
nicht unbedingt Schicksal. Eine Humanitäre Intervention, wie sie im Falle des
Kosovo-Krieges durchgeführt wurde, ist und bleibt nach dem gegenwärtigen
Völkerrecht anfechtbar.
4. Fallbeispiel: Der Kosovo-Krieg[58]
4.1. Eine Humanitäre Intervention?
Die elfwöchige Bombenkampagne, welche die NATO im Frühling 1999 gegen die
Bundesrepublik Jugoslawien unternahm, ist in vielfacher Hinsicht ein besonderes
Ereignis in der Internationalen Politik. Es ist vor allem hervorzuheben, dass
es sich um den ersten umfassenden Militäreinsatz in der Geschichte des
nordatlantischen Bündnisses handelte, das damals gerade sein 50-jähriges
Bestehen feierte. Wenn wir in unserem “westlichen” Kulturkreis, v.a. in
Nordamerika und Europa, von einer “Humanitären Intervention” sprechen, denken
wir noch immer in erster Linie an dieses Fallbeispiel, das im Hintergrund
unseres Diskurses fortwirkt und ihn bestimmt - obwohl es in der Geschichte des
20. und beginnenden 21.Jahrhunderts auch andere und in mancherlei Hinsicht
interessantere Fälle einer solchen gegeben hat, worauf auch Michael Walzer
hinweist.[59] Dennoch wird man sich einer zumindest
überblicksartigen Betrachtung des “Falles Kosovo” nicht entheben können.
Westliche Politiker zögerten vielfach, diesen Einsatz von Gewalt in der
Öffentlichkeit als “Krieg” zu bezeichnen - diese damals weit verbreitete
Weigerung, die Dinge beim Namen zu nennen, ändert aber nichts daran, dass er
einer war - zumindest, wenn man eine bestimmte politikwissenschaftliche
Definition von “Krieg” zugrundelegt: “a condition arising within states (civil
war) or between states (interstate war) when actors use violent means to
destroy their opponents or coerce them into submission”.[60] Der Kosovo-Krieg nahm aber für sich in
Anspruch, mehr zu sein als ein bloß traditioneller Krieg (d.h. verbunden zu
sein mit traditionellen Zielen wie Gewinn von Gebiet, Rohstoffen oder
nationalem Ruhm). Vielmehr, so der aus den Aussagen der Spitzenpolitiker der NATO-Staaten
hervorgehende Anspruch, sollte dem edlen Ziel der Durchsetzung der
Menschenrechte gedient werden, die im Zuge des Bürgerkrieges und der Krisen
rund um den Zerfall des jugoslawischen Bundesstaates massiv verletzt worden
sind - eine “Humanitäre Intervention” war nach dieser Auffassung im Sinne eines
moralischen Auftrages der Weltgemeinschaft notwendig geworden.
Am 24.März 1999, dem Tag des Beginnes der Luftschläge gegen Jugoslawien,
fiel noch eine andere bemerkenswerte Entscheidung: das Oberste Gericht in
Großbritannien stellte fest, dass der chilenische Ex-Präsidenten Augusto
Pinochet - zumindest prinzipiell - nach Spanien ausgeliefert werden konnte, um
sich dort wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht verantworten zu
müssen, und zwar ungeachtet der Tatsache, dass er zum Zeitpunkt der begangenen
Verbrechen Staatsoberhaupt gewesen war. Obwohl es letztlich aufgrund der
gesundheitlichen Situation des alternden früheren Diktators, dem man Verbrechen
gegen die Menschlichkeit im Umgang mit seinen politischen Gegnern anlastete, zu
keiner Überführung nach Spanien kam, sondern er in seine Heimat zurückkehren
konnte, markierte diese Entscheidung den Höhepunkt einer Entwicklung, die sich
bereits seit 1945 abzuzeichnen begann - nämlich die zunehmende allgemeine
rechtsphilosophische Überzeugung, dass es Verbrechen gibt, die so extrem sind,
dass sie nicht mehr durch das Prinzip der Souveränität zu rechtfertigen sind.
Für viele Beobachter bedeutete der Beginn des Krieges eine willkommene
Fusion zwischen “realistischen” Mitteln - militärische Vorgehensweise - und
“idealistischen” Zielsetzungen - Schutz der Menschenrechte. Andere waren mit
dem Krieg nicht wirklich glücklich, so etwa Teile der Friedens- und
Menschenrechtsbewegung, die sich dagegen wehrte, dass Menschenrechte zu einem
ideologischen Rechtfertigungsgrund für kriegerische Auseinandersetzungen
benutzt und damit ein weites Feld für Missbrauchsgefahr eröffnet wurde.
4.2. Kriegsziele
Während des Krieges wurden von NATO-Verantwortlichen immer wieder fünf
Kriegsziele herausgestellt, die der jugoslawische Präsident Milosevic zu
akzeptieren hätte:
*
...eine Beendigung aller
militärischer Aktivitäten im Kosovo, v.a. der Übergriffe gegen die
Zivilbevölkerung.
*
...ein Rückzug der
serbischen Militär- und Polizeistreitkräfte sowie der serbischen
paramilitärischen Truppen.
*
...die Entsendung einer
Internationalen Friedenstruppe in das Gebiet des Kosovo zum Schutz der
Zivilbevölkerung
*
...die Rückkehr aller
Vertriebenen in ihre Heimat.
*
...eine politische
Lösung für den Kosovo auf Basis des (in Verhandlungen des Februar und März 1999
gescheiterten) Friedensvertrages von Rambouillet. Dieser sah einen Verbleib des
Kosovo im jugoslawischen Staatsverband bei größtmöglicher Autonomie vor.
Ohne Zweifel wurde die NATO bezüglich ihres Vorgehens im Kosovo-Krieg
durch eine gewisse Beschämung über ihre bisherigen Versäumnisse vereint. Der
Kosovo-Krieg steht nicht ohne Vorgeschichte da. Zwischen 1991 und 1995 hatte
die Internationale Gemeinschaft den im jugoslawischen Bürgerkrieg (v.a. in
Bosnien) von denselben Machthabern verübten Kriegsverbrechen wenig bis gar
nichts entgegengesetzt. In den letzten Monaten von 1998 und den ersten Monaten
von 1999 eskalierten die Auseinandersetzungen zwischen der Kosovo-Befreiungsarmee
(UCK) und der jugoslawischen Bundesarmee immer weiter; man befürchtete die
Möglichkeit einer ethnischen Säuberung. Es wurde immer klarer, dass
Internationale Organisationen wie UNO oder OSZE ignoriert oder behindert
wurden, besonders von jugoslawischen Behörden. Aufgrund abgegebener Garantien
und zur Bewahrung der eigenen Glaubwürdigkeit entschloss sich die NATO zur
Militäraktion “Operation Allied Force”; und aus einem gewissen
Zusammengehörigkeitsgefühl blieb sie dabei. Kein Staat wollte zuerst aus dem
konzertierten Vorgehen ausscheren. Ein Grund für das militärische Eingreifen
der NATO lag ohne Zweifel auch darin begründet, dass die Destabiliserung der
Region sowie, wie v.a. der U.S.-amerikanische Präsident Clinton und der
britische Premierminister Tony Blair in Reden zu Kriegsbeginn betonten,
Flüchtlingsströme v.a. nach Westeuropa befürchtet wurden, die niemand aufnehmen
wollte - es waren also wohl nicht nur humanitäre Motive, welche die NATO zur
Kriegsführung veranlassten.
4.3. Fehlen einer Resolution des UN-Sicherheitsrates
Ein schwieriges völkerrechtliches Problem für die NATO war das Fehlen
einer Resolution des UN-Sicherheitsrates. Obwohl er bereits ein Waffenembargo
gegen die Bundesrepublik Jugoslawien ausgesprochen hatte, machten Russland und
China klar, dass sie ihr Veto als ständige Mitglieder nutzen würden, um jeden
Ermächtigung zu einer Militärintervention gegen Jugoslawien zu Fall zu bringen.
Hätten es die NATO-Staaten nicht wenigstens versuchen sollen, eine Autorisierung
des Sicherheitsrates zu erhalten? Es hätte wenigstens einen gewissen Respekt
für UN-Institutionen gezeigt. Für die NATO-Regierungen zählte aber letztlich
die Einschätzung, dass eine - mit Sicherheit zu erwartende - Ablehnung der
Intervention durch den Sicherheitsrat der Öffentlichkeit ihrer Heimatländer
schwerer zu kommunizieren gewesen wäre als eine Nicht-Befassung desselben.
Entsprechend zweifelhaft war die völkerrechtliche Legalität des Einsatzes von
Anfang an (vgl. auch das vorhergehende Kapitel “Humanitäre Intervention und
Völkerrecht”). Es muss zwar der Vollständigkeit halber bemerkt werden, dass es
bereits Resolutionen des UN-Sicherheitsrates gab, die das Verhalten der
jugoslawischen Behörden missbilligten und dass ein russischer Antrag zur
Verurteilung der NATO-Bombardements an einer großen Mehrheit von vertretenen
Staaten scheiterte, dennoch kann man aus alledem nur schwer eine eindeutige
rechtliche Legitimierung zur Militärintervention durch die UNO ableiten.
4.4. Luftschläge - Pro und Contra
Die Militärschläge der NATO wurden hauptsächlich von der Luft aus
geführt. Allierte Piloten flogen 37.465 Einsätze, davon waren 14.006
Angriffsmissionen. Als die Kampagne am 10.Juni 1999 endete, waren 912 Flugzeuge
und 35 Schiffe des Bündnisse im Einsatz - die dreifache Streimacht wie zum
Zeitpunkt des Beginnes der Kampagne. 85% der Einsätze wurden dabei von den USA
durchgeführt, was die nach wie vor vorhandene Schwäche Europas im
nordatlantischen Bündnis demonstrierte und später zu Initiativen zur Stärkung der
europäischen Komponente innnerhalb desselben führte.
Es gibt eine naheliegende Erklärungen, warum sich die NATO hauptsächlich
auf Luftschläge verließ: Die NATO-Staaten waren nicht wirklich bereit, die
Leben ihrer Bürger bzw. Soldaten in einer Intervention zu riskieren. Die
Bombardierung eines Landes aus großer Höhe ist relativ risikofrei für die
eigenen Truppen, obwohl es erstaunlich war, dass im Endeffekt eine elfwöchige
Bombenkampagne gegen einen gut bewaffneten souveränen Staat durchgehalten wurde
ohne einen einzigen Toten auf eigener Seite beklagen zu müssen.
Eine Erwartung der - insgesamt allerdings doch erfolgreichen - von der
Luft geführten Kampagne erfüllte sich nicht: Viele hatten geglaubt, dass
Belgrad bereits nach einigen Tagen aufgeben und die Bedingungen der NATO
akzeptieren würde. Diese in verschiedensten europäischen Hauptstädten gehegte
Erwartung erwies sich als illusorisch. Stattdessen entstand in Serbien eine Art
Trotzreaktion, die nicht nur mit der Persönlichkeitsstruktur des serbischen Präsidenten
Milosevic zusammenhängt, sondern v.a. mit der Mentalität vieler Serben. Erzogen
in einer kriegerischen Tradition, oft erfüllt von patriotischem und oft
xenophobem Geist, sahen viele Serben ihre Nation als historisch schon oft
allein und verzweifelt gegen eine Übermacht ankämpfend: Ob gegen die
Österreicher vor und im 1.Weltkrieg, gegen das Deutsche Reich im 2.Weltkrieg,
gegen Stalins Russland in der Ära des Kalten Krieges oder nun gegen die NATO -
für viele Serben lag bloß die Wiederholung einer gewohnten Situation vor.
Westliche decision-makers zeigten im Vorfeld erstaunlich wenig Interesse und
Verständnis für die serbische Art des Denkens.
Sehr aufschlussreich ist es, Aussagen des damaligen britischen
Außenministers George Robertson vor dem Verteidigungsausschuss des Unterhauses
mit den tatsächlichen Ergebnissen der Luftschlägen zu vergleichen. So meinte
Robertson, das klare Ziel der Luftschläge läge darin, die Zahl der serbischen
Streitkräfte im Kosovo zu dezimieren. Rückblickend kann man sagen, dass hier
eine Fehleinschätzung vorlag. Die serbischen Militär- und Polizeistreitkräfte,
die ohne Zweifel in der Tradition einer Partisanentaktik operierten, wurden von
den Angriffen kaum in Mitleidenschaft gezogen; am Ende zogen sie fast
unversehrt ab. Der Schaden, der Serbien zugefügt wurde, war am effektivten
dort, wo zivile Einrichtungen wie Fabriken, Brücken oder die Stromversorgung
des Landes in Mitleidenschaft gezogen wurde. Liegt hierin nicht eine ethische
Bedenklichkeit in einer rein auf Luftangriffe ausgerichteten Strategie der
Humanitären Intervention?
Aber auch auf eine andere Art wurde das zivile Leben in Jugoslawien durch
die Luftschläge besonders in Mitleidenschaft gezogen. Während des Krieges
wurden v.a. ethische und politische Fragen rund um sogenannte
“Kollateralschäden” (d.h. unbeabsichtigte zivile Opfer) akut. Wenn ein Flugzeug
sehr hoch fliegt ist zwar der angreifende Pilot weitgehend außer Gefahr; aber
es wird schwieriger, zwischen militärischen und zivilen Zielen zu unterscheiden
und es passieren mehr Fehler - und zwar solche, die vermeidbar gewesen wären,
wenn der Pilot niedriger gefolgen, sich also einer höheren Gefahr ausgesetzt
hätte. Was zählt mehr - das Leben eines serbischen Zivilisten oder das eines
NATO-Piloten? Die NATO hat das Leben ihres Personals vor Zivilisten priorisiert
und betrieb eine nicht unproblematische Form von “Risikoabwälzung”. Und so
tauschten in den Nachrichten immer wieder Fälle von “Kollateralschäden auf: Es
gab zerstörte Busse und Züge, die eine Brücke in dem Moment passierten, als sie
von der NATO gesprengt wurde; oder man zerstörte versehentlich die falschen
Gebäude, wozu auch die chinesische Botschaft in Belgrad gehörte, was zu
diplomatischen Verstimmungen führen musste.
4.5. Massaker und Vertreibungen
Seit Februar 1998 gab es gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen der UCK
und jugoslawischen Streitkräften. Eine heftige serbische Offensive im Sommer
1998 führte zu geschätzten 1.500 Toten und 300.000 Flüchtlingen. Drohungen der
Internationalen Gemeinschaft waren die Folge und Serbien nahm von solch
extremen Maßnahmen Abstand. Auf Vermittlung durch den U.S.-Diplomaten Richard
Holbrooke kam ein Abkommen mit Milosevic zustande, das einen Teilabzug
serbischer Streitkräfte aus dem Kosovo brachte und die Entsendung unbewaffneter
OSZE-Beobachter erlaubte. Die Ereignisse in Racak (einem kleinen Ort
südwestlich der Hauptstadt Pristina) vom 15.Jänner 1999 wurden allgemein als
Scheitern besagten Abkommens angesehen - mindestes 45 Albaner wurden dort
getötet, genauere Untersuchungen von Internationalen Organisationen wurden von
den jugoslawischen Behörden verweigert.[61] Bis zur NATO-Intervention gab es auch
andere Übergriffe von serbischer Seite. Nachträglich, etwa im von der
Parlamentarischen Versammlung der NATO verabschiedeten “Generalbericht”, wurde
aber auch die Rolle der kosovarischen Befreiungsarmee UCK kritisiert, die durch
Angriffe auf serbische Polizisten und Zivilisten zu einer Verschärfung der Lage
beigetragen hat[62] - in der damaligen Situation berichteten die
Medien fast nur über serbische Verbrechen. Tatsächlich stellt sich rückblickend
die Frage, ob nach den Ereignissen des 11.September die USA und ihre
Verbündeten in dieser Form zugunsten einer moslemischen Minderheit in Europa
Partei ergreifen würden.
Nach Beginn der NATO-Bombardements nach dem Scheitern der
Rabouillet-Verhandlungen zur Lösung des Konfliktes verschärfte sich die
humanitäre Situation drastisch. Nach (nicht unglaubhaften) NATO-Statistiken
wurden ca.1 Mio. Kosovo-Albaner von serbischen Streitkräften in die
Nachbarstaaten vertrieben, tausende Albaner wurden getötet. Zahlreiche
westliche Politiker behaupteten, die serbische Regierung hätte lediglich den
sogenannten “Hufeisenplan” umgesetzt, einen Plan zur ethnischen Säuberung, der
schon vor den Bombardements existiert hätte und sowieso früher oder später
Anwendung gefunden hätte. Existenz und Umfang des “Hufeisenplanes” sind bis
heute umstritten. Es kann aber bezweifelt werden, dass die jugoslawischen
Behörden Gewalt in einem solchen Umfang angewendet hätten, wenn die
Bombardements nicht zu einer Eskalation der Krise beigetragen hätten. Es ist
historisch erwiesen, dass die meisten Genozide in Kriegssituation stattfanden;
und auch nach Ansicht der fliehenden Kosovo-Albaner standen Bombardements und
Vertreibungen in einem gewissen kausalen Zusammenhang (“The serbs can’t fight
NATO, so now they are after us”, meinte ein Vertriebener). Dass die Eskalation
des Konfliktes nicht vorhersehbar gewesen sei, lässt sich auch widerlegen. In
besagter Debatte vor dem Verteidigungsausschusses des Unterhauses wurde der
britische Verteidigungsminister George Robertson explizit gefragt, auf welche
Art und Weise die NATO die albanische Bevölkerung zu beschützen gedenke, die
nach den Luftangriffen wohl heftigeren Übergriffen ausgesetzt sein würde. Er meinte daraufhin
nur: “We would clearly take that into account if that was the situation.” Nun, es wurde im Endeffekt nicht
berücksichtigt und man kann der NATO den Vorwurf machen in dieser Hinsicht zu
wenig vorgesorgt zu haben; Schutzzonen für die Zivilbevölkerung hätten aber
eben auch den Einsatz von Bodentruppen notwendig gemacht. Dennoch sollte man
bei Beurteilung der NATO-Handlungen folgendes berücksichtigen: Die Kritik, die
Bombardements seien kontraproduktiv gewesen, weil sie erst den Genozid
provoziert hätten, der eigentlich durch sie verhindert hätte werden sollen,
kommt bis heute eher von westlichen Kritikern des Militäreinsatzes wie Noam
Chomsky oder Johan Galtung. Die geflohenen und vertriebenen Kosovo-Albaner selbst
sahen die NATO-Schläge zumeist eher als ersten Schritt zur Befreiung von
verhasster Fremdherrschaft.
4.6. Ergebnisse
Nach zwei Monaten der Bombardierung befürchteten viele, dass der Krieg noch
über den Sommer hinweg geführt werden müsse, was die Einheit der NATO ernsthaft
gefährdet hätte. Dann akzeptierte - zur allgemeinen Erleichterung und wohl auch
Überraschung - Milosevic die Bedingungen einer gemeinsamen Friedensinitiative
von Russland und Europäischer Union, auf deren Basis am 9.Juni ein
Friedensabkommen in Kumanovo unterzeichnet wurde. Im Großen und Ganzen
spiegelte es die Bedingungen der NATO an Jugoslawien wider: Die serbischen
Militär- und Polizeistreitkräfte mussten sich aus dem Kosovo zurückziehen, eine
internationale Friedenstruppe wurde stationiert, alle Vertriebenen durften in
die Heimat zurückkehren und der Kosovo erhielt ein hohes Maß an Autonomie - de
facto vielleicht eine Vorstufe zu seiner Unabhängigkeit von Jugoslawien. Die
NATO machte allerdings einige Kompromisse: Der UNO wurde eine größere Rolle in
der künftigen Administration des Kosovo eingeräumt als geplant, Russland - ein
traditioneller Verbündeter Serbiens - wurde an der Besatzung beteiligt und der
berühmt-berüchtigte “Anhang B” zum in Rambouillet vorgeschlagenen
Friedensabkommen, der die Souveränität der gesamten Bundesrepublik Jugoslawien
zugunsten der NATO massiv eingeschränkt hätte, wurde fallengelassen
(NATO-Personal sollte, so sahen es die Bestimmungen vor, uneingeschränkten
Zugang zu jugoslawischem Territorium erhalten, auch für Training und
Operationen). Trotz dieser Kompromisse wurden die meisten NATO-Bedingungen
erfüllt. Mittlerweile ist die Situation im Kosovo ruhiger geworden, viele
Flüchtlinge sind in ihre Heimat zurückgekehrt und die Verfolgung der
Kosovo-Albaner durch die serbische Obrigkeit wurde unterbunden. Insoferne hat
die Humanitäre Intervention im Kosovo zu einer Stabilisierung der Region und
einer Verbesserung der allgemeinen Situation geführt. Es kann aber nicht
übersehen, werden, dass der Krieg auch Probleme hinterlassen hat. Diese reichen
von ökologischen Problemen - da viele Sprengköpfe der von der NATO verwendeten
Bomben mit Uran angereichert waren, ist in Teilen des Landes eine erhöhte Strahlenbelastung
zurückgeblieben - bis hin zu politischen bzw. ethischen - die im Kosovo
zurückgebliebene serbische Minderheit hat inmitten der albanischen Mehrheit
einen schweren Stand; sie ist Übergriffen, Racheakten und Diskriminierungen
ausgesetzt.
5. "Zwischenergebnis" von Teil I: Konkretisierung der
Forschungsfrage
In den bisherigen Ausführungen sollte folgendes gezeigt werden:
Neue Kriege, die typischerweise langdauernde Bürgerkriege und anarchische
Zustände in Entwicklungsländern sind und immer mehr von privaten Akteuren - vom
Warlord bis zum Terroristen - ausgefochten werden, gehen mit massiven
Menschenrechtsverletzungen einher, die durch ihre Schwere schockieren. Der
Prozess der Globalisierung fördert auf vielfältige Arten den Ausbruch und
Fortbestand der neuen Kriege, sorgt aber auch u.a. durch ein international
vernetztes Medien- und Wirtschaftssystem dafür, dass schwere
Menschenrechtsverletzungen immer weniger im Verborgenen passieren können;
vielmehr können Fernsehbilder von Toten und Verstümmelten in den entlegensten
Winkeln Menschen in aller Welt aufrütteln. Strikte Nicht-Einmischung oder
Gleichgültigkeit wird von der Globalisierung auf diese Art verunmöglicht (vgl.
Kapitel 1).
Als ein Instrument, um die von den neuen Kriegen verursachten Rechtsverletzungen
an Unschuldigen “that shock the moral conscience of mankind”[63] in den Griff zu bekommen, wird oftmals die
“Humanitäre Intervention” angesehen. In einer Definition nach Otfried Höffe
handelt es sich dabei um einen Eingriff in die inneren Angelegenheiten eines
Staates, dermit militärischen Mitteln und ohne dessen Zustimmung erfolgt und
der das Ziel hat, massive Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. Es besteht
Konsens, dass eine Intervention die Beifügung “humanitär” auf jeden Fall
verlieren muss, wenn sie auf besonders grausame und unmenschliche Weise
durchgeführt wird und nicht fundamentale “ius in bello”-Regeln beachtet. Es
besteht kein Konsens darüber ob sie, so diese Regeln beachtet werden, zulässig
oder sinnvoll ist (vgl. Kapitel 2).
Das Völkerrecht gibt auf die Frage der Zulässigkeit der Humanitären
Intervention nur unzureichende Antwort. Mit Zustimmung des UN-Sicherheitsrates
werden Militärinterventionen in innere Angelegenheiten von Staaten mit
humanitärer Zielsetzung als unumstrittenerweise legal erachtet. Wenn der
UN-Sicherheitsrat, der von der Charta der Vereinten Nationen als Wächter über
Weltfrieden und Sicherheit eingesetzt ist, allerdings keine Zustimmung zu einer
Humanitären Intervention erteilt, wird ihre völkerrechtliche Zulässigkeit
aufgrund eines allgemeinen Gewalt- und Interventionsverbotes mehr als fraglich.
Eine so verstandene Völkerrechtsordnung kann aber der Kritik unterzogen werden.
Wenn der Sicherheitsrat aus politischen Gründen oder der offenkundig
egoistischen Handhabung von Vetorechten blockiert und handlungsunfähig ist,
kann man dann verlangen, dass schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen in
anderen Staaten einfach zugelassen werden? Jede Form der “Selbstermächtigung”
zur Humanitären Intervention verlässt allerdings den Boden des von aktuell
gültigen internationalen Verträgen kodifizierten Völkerrechtes, muss sich - oft
problematisch erscheinender - naturrechtlicher Argumentation bedienen und sich
in vielfacher Hinsicht in einem ungeregelten rechtlichen Niemandsland
wiederfinden. Eine Kodifizierung völkerrechtlicher Regeln rund um die
Humanitäre Intervention erschiene wünschenswert, aber aufgrund der heftigen
Kontroversen um das Thema und der Weigerung vielen Staaten anderen ein Recht
auf Intervention zuzugestehen, unwahrscheinlich. Das gegenwärtige Völkerrecht
zeigt manche Tendenzen, die im Sinne der Gewährung einer Humanitären
Intervention verstanden werden können - so können Menschenrechte spätestens
nach der Ratifizierung bedeutender internationaler Vertragswerke als “erga
omnes”-Pflichten angesehen werden, die nicht ausschließlich in die “inneren
Angelegenheiten” der Staaten fallen, sondern andere etwas angehen. Es zeichnet
sich zudem immer mehr ab, dass uns der Einzelmensch als Subjekt des
Völkerrechts (also als Träger von Rechten und Pflichten) mehr und mehr
entgegentritt - dies ist insoferne eine Neuheit, als noch das Klassische
Völkerrecht nur Staaten als Völkerrechtssubjekte ansieht. Menschenrechte werden
aber nun zunehmend wichtiger und zeigen die Tendenz, vor Souveränitätsrechten
priorisiert zu werden. Dennoch kann von einer allgemeinen Ermächtigung zur
Humanitären Intervention noch nicht gesprochen werden und die womöglich
unilaterale Beschreitung dieses Weges erscheint problematisch. (vgl.Kap.3)
Entsprechend fällt auch die völkerrechtliche Beurteilung des
Kosovo-Krieges aus, vor dessen Hintergrund, ob es nun das geeignetste
Fallbeispiel einer Humanitären Intervention sein mag oder auch nicht, die
Debatte unserer Gegenwart geführt wird (vgl. Kap.4).
Ist die Humanitäre Intervention moralisch zulässig oder nicht - nach
relativ deutlichem Versagen des Völkerrechts zu dieser Frage wird man
politisch-philosophische Argumente zur Klärung heranziehen müssen. Gegenwärtig
ist in der Fachwelt eine Renaissance der längst tot geglaubten Theorie des
“gerechten Krieges” zu Beobachten, was sich in zahllosen entsprechenden
Publikationen und Kongressen äußert. Wie ist die Gerechte-Kriegs-Theorie heute
zu bewerten und lohnt sich, so wie viele gegenwärtige Forscher glauben, ein
Rückgriff auf sie, um zu einem besseren Verständnis bzw. einem besseren
moralphilosophischen Referenzrahmen für die “neuen Kriege” vorzudringen? Die
Humanitäre Intervention - ist sie ein “gerechter Krieg”? Diese Frage soll im
Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit stehen.
Die Dissertation besitzt demnach - nach diesem allgemeinen Teil I, der einen entsprechenden
historischen, rechtlichen, aber auch definitorischen Hintergrund liefern sollte
- entsprechend folgende Struktur:
*
In einem Teil II soll zunächst ein großangelegter
Rückgriff auf die Theorie des “gerechten Krieges” erfolgen. Die Theorie soll in
ihrer historischen Entwicklung und durch kritische Besprechung ihrer
Hauptvertreter vorgestellt werden. Am Ende soll auf Basis des Gesagten
herausgearbeitet werden, ob und wie die Gerechte-Kriegs-Theorie in der heutigen
Zeit aktualisierbar ist, besonders in Hinblick auf das Phänomen der Humanitären
Intervention.
*
In einem Teil III wird auf die gegenwärtige
ethische bzw. politisch-philosophische Debatte zur Humanitären Intervention
reflektiert, die Pros und Contras werden widergegeben und kritisch besprochen.
Vor dem Hintergrund der Gerechten-Kriegs-Theorie soll die Frage nach ihrer
moralischen Legitimität gestellt und nach Möglichkeit beantwortet werden.
*
Die Ergebnisse beider
Teile werden in der Conclusio der Dissertation “Humanitäre Intervention - ein
‘gerechter Krieg’?” zusammengefasst.
*
Im Zuge der
Beschäftigung mit der Theorie ergaben sich andere wichtiger Aspekt, nämlich
zunächst jener nach der Frage nach der Ethik der Wehrgesetzgebung in einer
Demokratie. Obwohl "Humanitäre Intervention" und "Krieg gegen
den Terror" aufgrund ihrer verschiedenen Zielsetzungen wohlweislich zu
unterscheiden sind, drängen sich aus aktuellen Gründe Überlegungen zum “Krieg
gegen den Terror” auf; vor dem Hintergrund der Gerechten-Kriegs-Theorie. Es
geht dabei v.a. um die Frage der Definition der Terrorismus und dem Problem der
aus ethischer und politischer Sicht geeigneten Gegenmaßnahmen. Beiden Aspekten,
die von der Hauptfrage der vorliegenden Dissertation zu unterscheiden sind,
aber doch wieder eng mit ihr
zusammenhängen, ist eine Art "Sonderteil" (Teil IV) der Arbeit
gewidmet.
TEIL II
Zur Tradition -
Die Theorie des gerechten Krieges
Zur Tradition -
Die Theorie des gerechten Krieges
6. Die Theorie des “gerechten Krieges”: Entwicklung von der Antike bis
zur Gegenwart
6.1. Grundidee dieses Kapitels
Im Laufe einer näheren Beschäftigung mit der Theorie des “gerechten Krieges”
erkennt man bald, dass besagte Lehre weit davon entfernt ist, eine Art
einheitliches Ganzes zu sein, das fertig vom Himmel gefallen ist. Natürlich ist
es zulässig insoferne von “einer” Theorie zu sprechen, weil es bestimmte
Gemeinsamkeiten und eine gewisse Denktradition[64] gibt. Die Theorie des “gerechten Krieges”
besitzt allerdings viele verschiedene Vertreter, die bei weitem nicht immer
einer Meinung waren; sie entwickelte sich über bestimmte Stufen und war zudem
in den einzelnen historischen Phasen des Abendlandes unterschiedlich
wirkungsvoll. Es kann möglicherweise lohnend sein, diese Entwicklung
überblicksartig zu betrachten; und es ist aus meiner Sicht nicht unbedingt so,
dass man jeden Aspekt der Theorie befürworten oder aber umgekehrt jeden verwerfen
muss - eine differenzierte Betrachtung ist notwendig. Die hier vertretene
Einschätzung wird dabei unterstützt von jener Paul Ramseys (der U.S.-Amerikaner
gehört zu den wichtigsten Vertretern einer “protestantischen” Interpretation
der Theorie des “gerechten Krieges” nach 1945), der in einer Arbeit über
Augustinus meint:
“It will show that
the political experience and ethical analysis summarized in the so-called just
war theory cannot be dealt with all in one lump, as if it were a simple system
of moral rules for the classification of cases, subject to no significant
historical development, freighted with few ambiguities, there to be accepted or
rejected as a single, if ancient or ‘classical’, formulation of one possible
position in Christian ethics, with no significant decisions to be taken within the tradition itself.”[65]
Es ist natürlich in einer überblicksartigen Darstellung der Entwicklung
einer Theorie nicht möglich, auf jedes Detail einzugehen. Es sollen vielmehr die
“Klassiker” und “Highlights” ein wenig ausgeleuchtet werden, sodass ein
Gesamteindruck entsteht; manche hier fehlenden Aspekte werden in späterenn
Kapiteln, wo u.a. die Kriterien des “gerechten Krieges” und die Möglichkeit
ihrer Aktualisierbarkeit besprochen werden, ergänzt oder nachgetragen. Aber
bereits in einer überblicksartigen Betrachtung der Tradition kann man gewisse
Stärken und Schwächen des ganzen Ansatzes erkennen.
6.2. Heidnische Vorläufer: Platon, Aristoteles, Cicero
6.2.1. Allgemeines
Es gibt kaum ein philosophisches Problem von heutigem Interesse, das sich
nicht - und sei es nur im Keim - bereits in der Antike gestellt hätte und in
irgendeiner Form behandelt worden wäre. So auch hier: Die ersten Denker, die
sich mit dem Phänomen des Krieges unter dem Gesichtspunkt ethischen Verhaltens
auseinandergesetzt haben, waren die (heidnischen) Philosophen des alten
Griechenlandes.
6.2.2. Platon
Platon stellt im fünften Buch des “Staates”[66] einen Katalog von Verhaltensweisen auf, die
ein Krieger der von ihm entworfenen idealen politischen Gemeinschaft zu
befolgen hätte. Diese Regeln beziehen sich einerseits auf das Verhalten der
Soldaten zueinander, die Ehrungen bzw. Strafen des Staates für tapferes bzw.
feiges Verhalten im Kampfgeschehen und die Erziehung künftiger Krieger.
Anderseits entfaltet Platon erste Überlegungen zur “Hegung” des Krieges, d.h.
für menschliches Verhalten gegenüber dem Gegner in Hinblick auf künftig mit ihm
zu haltenden Frieden. Letztere Regeln sind als Vorläufer für die Theorie des
“gerechten Krieges” besonders interessant.
Für Platon bilden die Hellenen eine Volksgemeinschaft, ein gemeinsames
Ganzes; einen Krieg zwischen Hellenen hält er für eine Art Bürgerkrieg.
Entsprechend sollten die Hellenen in den Kriegen untereinander gewisse
moralische Grenzen nicht überschreiten und gewisse Gräuel nicht begehen. Eine
Politik der “verbrannten Erde” z.B. hält Platon für unerlaubt - der historische
Hintergrund für dieses Hinweis sind wohl die Kriegspraktiken im
Peloponnesischen Krieg, die seinen Zeitgenossen ohne Zweifel noch in guter
Erinnerung gewesen sind. Der Peloponnesische Krieg, eigentlich eine
Auseinandersetzung zwischen Athen und Sparta um die Vorherrschaft auf der
griechischen Halbinsel, führte aufgrund der durch ihn angerichteten
Verwüstungen auch zu einem machtpolitischen Bedeutungsverlust der gesamten
griechischen Welt. Entsprechend spielt bei Platon neben dem moralischen auch
das machtpolitische Argument für eine entsprechende Hegung des Krieges eine
Rolle: Die Hellenen müssten sich vereint gegen die “Barbaren” (d.h. alle
Nicht-Griechen) behaupten, um nicht unter ihr Joch zu fallen.
Da Platon von der - heute würden wir sagen rassistischen - Voraussetzung
der moralischen Überlegenheit der Hellenen über alle anderen Völker ausgeht,
gilt die von ihm verlangte Hegung des Krieges entsprechend nur unter ihnen -
d.h. “menschlich” Krieg zu führen gegen “Barbaren” fällt Platon nicht ein. Dies
hätte auch deshalb keinen Sinn, weil er so etwas wie eine “natürliche”
Feindschaft zwischen Griechen und Barbaren annimmt, die dauerhaften Frieden
ohnehin angeblich unmöglich macht. Pflichten der Hegung des Krieges
legitimieren sich aber u.a. daraus, dass die Vertrauensbasis für einen
künftigen Frieden durch die Begehung unmenschlicher Grausamkeiten vollkommen
zerstört würde. Wenn aber künftiger Frieden für unmöglich gehalten wird,
besteht auch keine Notwendigkeit einer Hegung des Krieges. Wie sehr Platon von
der natürlichen Überlegenheit der Hellenen über andere Völker überzeugt ist,
zeigt auch seine Haltung gegenüber der Versklavung der im Kriege Unterworfenen:
Dass Griechen griechische Sklaven halten, lehnt er ab; gegen die Versklavung
von “Andersrassigen” hat er nichts einzuwenden.
Platons Ansicht zur Hegung des Krieges hat zwei Gesichter: Sie ist
menschlich und unmenschlich zugleich. Ohne Zweifel ein Fortschritt gegenüber
seiner Zeit ist die Forderung der Anerkennung von Schranken bei der
Kriegsführung unter Hellenen. Zu einem Universalismus einer Menschenrechtsidee,
d.h. der Erkenntnis, dass letztlich die gesamte Menschheit eine große
Völkerfamilie ist und alle Menschen ein Recht auf Hegung des Krieges oder
Verbot der Sklaverei haben, konnte er sich allerdings nicht durchringen. Dieses
platonische Ergebnis nimmt in gewisser Weise weitere Entwicklungen vorweg. Wie
noch zu zeigen ist, wurde in der Geschichte der Theorie des “gerechten Krieges”
- u.a. auch nach ihrer “Christianisierung” - immer wieder der Versuch
unternommen, ethisches Verhalten im Krieg auf bestimmte Gruppen zu begrenzen
bzw. bestimmte Gruppen davon auszunehmen - in der Zeit der Kreuzzüge z.B. die
Moslems.[67]
Auch in einer anderen Hinsicht scheint Platons Lehre paradigmatisch für
die Theorie des “gerechten Krieges” - und zwar in positiver sowie negativer
Hinsicht. Im ersten Buch der “Gesetze”[68] bestimmt Platon den Friede als einen
Zustand, der dem Krieg moralisch überlegen ist. Damit wird der im Dialog zuvor
geäußerten Meinung widersprochen, alles im Staat müsste in Hinblick auf den
Krieg eingerichtet werden. Wenn der Friede sich zum Krieg verhält wie
Gesundheit zur Krankheit und der gute Gesetzgeber das Bessere gegenüber dem
Schlechteren priorisiert, werden auch die politischen Institutionen des guten
Staates in Hinblick auf den Frieden eingerichtet sein. Diese Bestimmung des
Friedens als moralisch höherstehend als der Krieg ist - wie später genauer
ausgeführt - der Theorie vom “gerechten Krieg” ebenfalls wesentlich, ihre
Gemeinsamkeit mit der geistigen Haltung des Pazifismus und ihr Hauptunterschied
zum Militarismus.[69]
Eine weitere Lektüre der platonischen “Gesetze” wirft allerdings die
Frage auf, wie ernst es Platon dann im Endeffekt wirklich mit seiner an sich
sehr begrüßenswerten Begriffsbestimmung ist, scheint sie doch ein bloß formales
Zugeständnis ohne praktische Bedeutung zu sein. Denn letztlich erweist sich das
militärische Element seines “Gesetzesstaates” auch in Friedenszeiten als
übermächtig, was man am Beispiel der von ihm angestrebten militärischen
Erziehung der Bürger illustrieren kann.[70] Das Wichtigste hinsichtlich der Militärgesetzgebung
ist, so Platon, “dass niemand, weder Mann noch Weib, ohne Vorgesetzte sei und
dass niemandes Seele sich gewöhnt habe, sei es im Kampfe selbst oder bei den
Vorübungen, etwas für sich nach eigener Willkür zu tun; sondern in jedem Kriege
und während jedes Friedens stets auf den Vorgesetzten hinzublicken und seinen
Vorschriften gehorsam zu leben und von ihm selbst im geringsten sich bestimmen
zu lassen...Denn ein besseres, wirksameres, kunstgemäßeres Mittel gibt es im
Kriege nicht und dürfte es wohl nie geben, so zur Rettung wie zum Siege. Über
andere gebieten und wieder von anderen sich gebieten zu lassen, darin muss man
auch im Frieden von Kindheit an sich üben, die Ungebundenheit aber aus dem
Leben aller Menschen sowie der von den Menschen gebrauchten Tiere verbannen.”
Seine Argumentation lautet mit anderen Worten also: Um im Krieg
militärische Vorteile zu erlangen, muss es eine Disziplin geben; diese
Disziplin ist auch in Friedenszeiten ständig einzuüben; daher darf es auch in Friedenszeiten
keine individuelle Freiheit geben, sondern selbst bei Kleinigkeiten strenge
militärische Hierarchie. Genau dies ist aber eine totale Hinordnung eines
Staatswesens auf den Krieg und eine Unterordnung des Friedens unter denselben,
was Platon doch eigentlich zuvor selbst abgelehnt hatte. Auf seine Inkonsequenz
in dieser Frage deutet auch hin, dass bei ihm seitenlange Überlegungen zur
Erziehung zum Kriege angestellt werden, aber kein Plan zu einer wie auch immer
geartete Erziehung zur Friedfertigkeit aufgestellt wird. Und so kann man sich
des Verdachtes nicht erwehren, dass hinter dem prinzipiellen Zugeständnis des
Primates des Friedens vor dem Krieg eigentlich ein verkappter Militarismus
steckt. Ein ähnlicher Vorwurf wurde vielen Theoretikern des “gerechten Krieges”
auch später immer wieder gemacht: Dass sie im Prinzip Militaristen seien, die
ihre wahre Meinung hinter Gerechtigkeitsgeschwätz nur schlecht verstecken
könnten und ihre Beteuerung, Krieg “im Namen des Friedens” zu führen,
Propaganda und billige Kriegslegitimation wäre.[71]
6.2.3. Aristoteles
Aristoteles war von der “natürlichen” Überlegenheit mancher Menschen über
andere genauso fest überzeugt wie sein Lehrer Platon. Entsprechend
unterscheidet er in seiner “Politik” zwischen Menschen, die von Natur aus
angeblich zum Herrschen und anderen, die von Natur aus angeblich zum Dienen
bestimmt seien; den einen - zu denen er natürlich auch selbst gehört - ist nach
seiner Philosophie entsprechend die Herrschaft, den anderen die Sklaverei
angemessen. Die “Barbaren” (Nicht-Griechen) sind seiner Meinung nach ohnehin
sämtlich von Natur aus geboren Sklaven, weshalb ihre Unterjochung rechtmäßig
ist.[72] Es erübrigt sich der Hinweis, dass z.B. die
“Allgemeine Erklärung der Menschenrechte” die naturgegebene Ordnung anderes
definiert, wenn sie feststellt, dass alle Menschen frei und gleich geboren sind
und zudem Sklaverei in allen Formen verbietet.[73] Man sieht an diesem Beispiel jedenfalls,
wie konträr die Menschen verschiedener Zeiten die - ihrer Meinung nach auch mit
Gewalt zu verteidigende - “unveränderliche” natürliche Ordnung der Welt
bestimmen.
Auf jeden Fall ist nach Aristoteles ein Krieg dann gerecht, wenn er im
Einklang mit besagter natürlicher Ordnung geführt wird bzw. eine Verletzung
derselben verhindert. Entsprechend besteht der gerechte Grund der Kriegsführung
seiner Ansicht nach u.a. darin, “die Zwingherrschaft über alle die zu bekommen,
die es wert sind, Sklaven zu sein.”[74] Heute erschiene uns ein Krieg mit dem Ziel,
andere Völker zu versklaven, weil sie es als vermeintliche “Untermenschen” im
Sinne einer “natürlichen Ordnung” angeblich verdienen würden, nahezu als der
Prototyp des ungerechten Krieges, die Abwehr eines solchen hingegen
wahrscheinlich als gerechtes Unterfangen.
6.2.4. Cicero
Wichtig ist aber v.a. Ciceros Sichtweise, die auf das augustinische Werk
starken Einfluss ausgeübt hat. Er legt seinen Ausführungen zum gerechten Krieg
die Annahme eines allgegenwärtigen moralischen Gesetzes zugrunde, das von Natur
aus existieren soll. Es ist universal, d.h. es legt jedem Menschen an jedem Ort
bestimmte Pflichten auf; es ist ewig gültig und kann auch von keinen
menschlichen politischen Institutionen geändert werden; sein Autor ist kein
geringerer als Gott.[75] Krieg ist nur dann gerecht, wenn er einer
Verletzung dieses natürlichen Moralgesetzes entgegentritt; liegt keine solche
Verletzung vor, ist er ungerecht. Ein Staat darf also Krieg führen, um sich zu
verteidigen (die Selbstbehauptung ist ihm nach Cicero - hier trifft er sich mit
Machiavelli - wesentlich, daher ist sie legitim) oder um Rache für
Ungerechtigkeit zu üben. Cicero stellt in diesem Zusammenhang fast mit einem
gewissen patriotischen Unterton fest, dass das römische Volk durch solche
gerechte Kriege ein mächtiges Imperium aufbauen konnte, wobei einem heute
lebenden Menschen der ungewöhnliche Zufall verwunderlich erscheinen mag, dass
man ausschließlich gerechte Kriege führen und dennoch gleichzeitig - so
nebenbei - die ganze Welt erobern kann.[76]
Auf jeden Fall stellt Cicero gewisse moralische Regeln auf, nach denen
ein Krieg zu führen ist, wenn er gerecht sein soll. Als unabdingbar erscheint
ihm dabei die formelle Kriegserklärung[77] (seiner Ansicht nach wäre damit der niemals
erklärte Kosovo-Krieg also nicht gerecht; die Frage ist nur, ob er den formalen
Akt Kriegserklärung nicht moralisch überbewertet). Es gibt ferner nach Cicero
zwei Arten, einen Streit beizulegen: einerseits durch Verhandlungen,
andererseits durch physische Gewalt. Die Streitbeilegung durch Kommunikation
ist den Menschen angemessen, die zweitere eigentlich den Tieren. Man muss
daher, bevor man zur Gewalt greift, dem Feind eine Chance auf friedliche
Konfliktbeilegung gegeben haben.[78] Das später noch weiter ausformulierte
Kritierium der Anwendung von Gewalt als “letztem Mittel” bereitet sich hier
vor.
Er plädiert für Milde gegenüber den Besiegten, sofern sich diese nicht
besonders abscheulicher Grausamkeiten im Krieg schuldig gemacht haben. Der
Schutz derer, die sich der Gnade der römischen Feldherren ergeben haben, muss
gewährleistet werden.[79] Besonders heimtückische Anschläge auf das
Leben selbst eines gefährlichen Feindes sind unbedingt zu unterlassen; den
traditionsbewussten Römern führt er als lobenswertes Beispiel den Italien invadierenden König Pyrrhus vor, dem vom
römischen Senat aus Edelmut und Prinzipientreue das verräterische Angebot
seines Leibarztes, ihn zu vergiften, zur Kenntnis gebracht wurde.[80] Derselbe hat sich ebenfalls durch
Menschlichkeit ausgezeichnet, indem er Kriegsgefangene gut behandelte und
großzügig freiließ, was Cicero als erstrebenswertes Vorbild darstellt.[81]
Cicero unterscheidet - auch angesichts des Krieges gegen Pyrrhus -
zwischen Kriegen, bei denen es um das nackte Überleben geht und Kriegen, bei
denen es vorrangig um Macht, Ruhm oder strategische Ziele geht. In
Existenzkriegen (etwa im Krieg der Römer gegen die in Italien einfallenden
germanischen Stämme der Cimber und Teutonen) ist seiner Meinung nach mehr
erlaubt als in Kriegen, in denen es eigentlich um andere Ziele geht (im Kampf
gegen Pyrrhus ging es Ciceros Meinung nach v.a. um die Vorherrschaft in
Italien). Es ist für Cicero kein Widerspruch, einen gerechten Krieg zu führen,
in dem es gleichzeitig um strategische Ziele geht (hier haben wir die Antwort
zu vorhin, wie es den Römern möglich gewesen sein soll, ein Imperium durch
sogenannte gerechte Kriege aufzubauen). Cicero meint nämlich, dass ein Krieg
niemals ohne gerechten Grund begonnen werden darf. Zuende kämpfen kann man ihn
dann aber auch aufgrund machtpolitischer Ziele.[82] Es stellt sich aus heutiger Perspektive die
Frage, ob diese Sichtweise sehr befriedigend ist; denn eine Theorie des
“gerechten Krieges”, nach der nur der bloße Anlass “gerecht” sein muss und
nicht unbedingt das mit dem Krieg letztendlich verfolgte Ziel, erscheint als
eine Apotheose der gängigen Praxis, dass Machthaber Anlässe “suchen”, um Kriege
zu beginnen - ein Anhänger Machiavellis könnte hier spöttisch bemerken, dass
einer, der einen Krieg führen will, immer einen “gerechten Grund” dafür finden
wird.[83] In christlicher Zeit ist Ciceros Sichtweise
zu diesem Punkt theoretisch modifiziert worden.
Sehr charakteristisch römisch erscheinen auch zwei Regeln, die Cicero aus
den Taten der Vorfahren für den gerechten Krieg ableitet. Zunächst waren die
Römer von der - auch religiös motivierten - Vorstellung überzeugt, dass nur ein
korrekt vereidigter Soldat das Recht hätte, straflos in der Schlacht Menschen
zu töten; ein bloßer Formfehler in der Vereidigung bewirkte unter Umständen,
dass der Betreffende kein straflos tötender Soldat mehr, sondern ein Mörder
ist.[84] In einem aufgeklärten Zeitalter ist dies
nur mehr schwer verständlich: Warum ist die Tötung eines Menschen das eine Mal
gerechtfertigt und das andere Mal nicht, nur weil beim einen Mal vorher in
einer feierlichen Zeremonie ein paar bestimmte Worte gesprochen worden sind?
Wird durch den Fahneneid nicht versucht, einer moralischen Verantwortung für
die eigenen Taten zu entsagen, indem man sie an eine höhere Instanz quasi
“überträgt” (und zwar vergeblicherweise, weil man der moralischen Verantwortung
für seine Taten in Wahrheit nicht entrinnen kann)?
Weiters bestanden die Römer darauf, dass man abgeleistete Eide gegenüber
dem Feind unbedingt zu erfüllen hätte. Für das Versprechen der Kapitulation
fordert dies in moderner Zeit ebenfalls z.B. Kant, weil eine gewisse
Vertrauensgrundlage auch im Kriege in Hinblick auf den künftigen Frieden
gewahrt bleiben muss.[85]
Aber die Römer waren für unsere heutigen Begriffe hinsichtlich der
Erfüllung von Eiden wohl ziemlich radikal. Zwei Episoden aus den Punischen
Kriegen sollen dies illustrieren: Der in Gefangenschaft geratene Feldherr
Regulus wurde von den Karthagern freigelassen unter der eidlichen Zusicherung,
er müsste wieder in Gefangenschaft zurückkehren und den sicheren Foltertod in
Kauf nehmen, wenn es ihm nicht gelänge, seine Landsleute zu einem
Friedensschluss zu bewegen. Er ging nach Rom, hielt ein Plädoyer für die
Fortsetzung des Krieges und kehrte anschließend freiwillig und gegen den Wunsch
seiner Verwandten wieder zu den Karthagern zurück.
Ein anderes Mal ließ Hannibal zehn römische Gefangene als Delegation in
ihre Heimatstadt schicken; auch sie mussten eidlich zusichern, wieder
zurückzukehren, wenn es ihnen nicht gelingen sollte, karthagische Gefangene
auszulösen. Die zehn Gefangenen machten sich auf den Weg, einer kehrte kurz
darauf zurück mit dem Vorwand, er hätte etwas vergessen. Als die Mission der
zehn scheiterte, beharrte dieser darauf, vom Eid frei zu sein; er wäre ja
bereits einmal zurückgekehrt. Seine Landsleute zwangen daraufhin alle
Gefangenen mit Gewalt (auch den Schlauen) zu Hannibal zurückzukehren, weil sie
der Ansicht waren, dass jeder Eid absolut binde, und zwar nicht nur nach dem
Buchstaben, sondern auch nach dem Sinn.[86]
Uns mag dieser Begriff von Ehrhaftigkeit bzw. Gerechtigkeit passend
erscheinen oder nicht; aber man sieht, dass der Gedanke, einen Krieg nur unter
Beachtung moralischer Regeln ehrenvoller- und gerechterweise führen zu können,
sehr alt ist und schon in der Antike Verbreitung fand.
6.3. Der unbedingte Pazifismus der frühen Christen: Athenagoras,
Tertullian, Origenes
6.3.1. Allgemeines
Die ersten Christen waren - unter dem Eindruck der Duldsamkeit und
Gewaltlosigkeit ihres Religionsgründers - unbedingte Pazifisten. Dies kann man an
den Meinungen einiger früher christlicher Denker illustrieren.
6.3.2. Athenagoras
Der im 2.Jahrhundert lebende Philosoph Athenagoras, einer der frühesten
Apologeten des Christentums, schrieb ein “Plädoyer für die Christen”, das an
die römischen Kaiser Marc Aurel und Commodus gerichtet war. In dieser Schrift
verteidigt Athenagoras die Christen gegen eine Reihe falscher Vorwürfe, zu
denen auch der des Kannibalismus gehörte (besagte Anklage entsprang offenbar
aus einem Missverständnis der Eucharistiefeier, bei der ja u.a. der “Leib
Christi” verzehrt wird).
Die Christen könnten schon alleine deshalb kein Menschenfleisch essen, so
Athenagoras, weil sie die einem solchen Kannibalismus vorausgehende Tötung von
Menschen grundsätzlich ablehnen würden. Er illustriert die unbedingte Achtung
der Christen vor dem menschlichen Leben an den Beispielen ihres strikten
Abtreibungsverbotes sowie ihrer Geringschätzung der Gladiatorenkämpfe. Niemals,
so Athenagoras, dürfe nach christlicher Überzeugung getötet werden; auch nicht,
fährt er fort, für einen noch so gerechten Grund.[87] Das Töten von Gladiatoren ist also z.B.
auch dann unerlaubt, wenn diese schwere Verbrecher sind; das menschliche Leben
ist seiner Überzeugung nach nämlich als Gottesgeschenk heilig und absolut zu
respektieren. Athenagoras äußerte sich nicht direkt zum “gerechten Krieg”, der
- aus wirklich oder vermeintlich “gerechtem Grund” geführt -
Völkerrechtsbrecher bestraft. Es kann aber aus seinen Ausführungen sinngemäß
geschlossen werden, dass er ein solches Konzept aus Gewissensgründen
entschieden abgelehnt hätte.
6.3.3. Tertullian
Besonders augenfällig tritt die pazifistische Ansicht der frühen Christen
auch in den Schriften des Kirchenvaters Tertullian (155-240 n.Chr.) zutage.
Sein Anliegen bestand ebenfalls in der Verteidigung seines Glaubens gegen
Vorwürfe der Heiden. Den Vorwurf einer “Gefährlichkeit” des Christentums weist
er zurück, und zwar v.a. mit dem Hinweis auf die unbedingte Gewaltlosigkeit der
Christen. Wenn er oder seine Glaubensgenossen verletzt werden, müssen sie es
dulden und dürfen es ihrem Verfolger nicht heimzahlen; wer, so fragt
Tertullian, könne ein Leid von solch friedliebenden Menschen erfahren?[88] Im Hintergrund dieser Sichtweise steht ohne
Zweifel das Vorbild Jesu Christi, der immer dazu aufgerufen hat, Böses mit
Gutem zu vergelten und die andere Backe hinzuhalten, wenn auf die eine
geschlagen wird.
Im Zuge der Verteidigung seines Glaubens rechtfertigt Tertullian, warum
die Christen seiner Zeit die Ableistung des Militärdienstes prinzipiell
ablehnten. Er ist der Ansicht, dass christlicher Glaube und Militärdienst
miteinander schlicht und einfach unvereinbar
sind. Für diese Sichtweise liefert er im Prinzip zwei Argumente, ein spezielles
(d.h. auf die römische Armee seiner Zeit bezogenes) und ein prinzipielles. Das
spezielle Argument lautet, dass jeder, der in der römischen Armee seinen Dienst
ableistet, obligatorisch bestimmte heidnische Riten (wie z.B. Opferungen oder
Eide an römische Götter) vollziehen muss und dadurch gezwungen wird, seinem
Glauben untreu zu werden.[89] Dieses Argument Tertullians ist aber
offenbar nicht das wesentlichste, denn es würde z.B. im Falle einer Umstellung
von heidnischen Riten etwa auf christliche Gottesdienste innerhalb der Armee -
die ja später auch vollzogen wurde - seine Gültigkeit verlieren. Das zweite und
prinzipielle Argument, und auf dieses kommt es uns hier an, ist Tertullians aus
der Bibel abgeleitete Forderung der absoluten Gewaltlosigkeit.
Im Zentrum seiner Bibelinterpretation steht dabei das Verbot Christi an
Petrus, sich mit dem Schwert gegen die ungerechte Verhaftung zu verteidigen,
verbunden mit den berühmten Worten: “Wer mit dem Schwert tötet, wird durch das
Schwert umkommen.” Durch die so erfolgte Entwaffnung Petri, hier ist Tertullian
gewiss, hat Jesus alle Soldaten entwaffnet; zeitlich vorher handelnde
Bibelstellen, die auf Zulässigkeit des Militärdienstes hindeuten könnten, sind
dadurch überholt worden.
“Aber wie wird ein christlicher
Mensch Krieg führen, nein, wie wird er auch nur in Friedenszeiten seinen
Dienst ausüben, ohne ein Schwert, das der Herr hinfortgenommen hat? Weil obwohl
Soldaten zu Johannes (Anm. dem Täufer,
P.H.) gekommen waren, und eine Moralanweisung für ihr Verhalten erhalten hatten;
obwohl, auf ähnliche Art, ein Zenturio geglaubt hatte; dennoch entwaffnete der Herr nachher, durch die Entwaffnung Petri,
jeden Soldaten. Kein Amt ist rechtens für uns, wenn es betraut ist mit einer
unrechten Handlung.”[90]
Auch das Verbot Jesu, Böses mit Gutem zu vergelten und seine
Aufforderung, nach dem Schlag auf die eine Backe die andere darzubieten,
spricht für Tertullian gegen die Möglichkeit eines christlichen
Militärdienstes.
“Und soll er (Anm. gemeint ist der Christ, P.H.) die Kette verabreichen,
und die Folter, und die Strafe, wo er doch nicht einmal der Rächer des an ihm
verübten Unrechts ist?”[91]
Nach Tertullians Ansicht gilt der Pazifismus der Christen also unbedingt;
ein “gerechter Krieg” wäre für ihn Widersinn, Widerspruch in sich.
6.3.4. Origines
Die Meinung eines weiteren Apologeten, nämlich die des Origines (185-254
n.Chr.), illustriert, wie sich die frühen Christen ihren Beitrag zur
Landesverteidigung vorstellten. In einer Schrift gegen einen Ankläger der Christen
namens Celsus, der den Christen wegen ihrer Verweigerung des Militärdienstes
vorwirft, sich vor ihren Pflichten gegenüber der politischen Gemeinschaft zu
drücken, argumentiert er sinngemäß, dass die Christen einen solchen Beitrag
durchaus leisten würden, allerdings auf einer höheren, spirituellen Ebene.
Er beruft sich darauf, dass auch in der heidnischen Praxis die Priester
nicht in den Krieg geschickt würden, damit sie - unbefleckt von Blut - zu den
höheren Mächten beten könnten. Eine ähnliche Aufgabe spricht Origines aber den
Christen im Römischen Reich zu: Durch Gebete sollen sie helfen, alle Dämonen,
die Krieg hervorrufen, Verletzung der Eide anstiften und den Frieden stören, zu
überwinden; damit wird, so seine Argumentation, dem Kaiser besser gedient als
durch alle anderen militärischen Maßnahmen. Durch ihre Gebete an Gott bilden
die Christen nach Origenes eine “Armee des Glaubens”, die das politische
Gemeinwesen angeblich besser schützt als jede andere Armee.[92] Ob die damalige Obrigkeit diesen “strategischen”
Beitrag wohl ähnlich positiv beurteilt und als große Hilfe angesehen hat?
Zweifel sind mehr als angebracht...
6.4. Christianisierung der Theorie des “gerechten Krieges”: Augustinus
6.4.1. Ein paradigmatischer Wechsel:
Historischer Hintergrund
Die frühen Christen[93] befanden sich im Römischen Reich in einer
Situation, die von zwei Merkmalen geprägt war:
Erstens waren sie eine verachtete Bewegung am Rande
der Gesellschaft, die sich bestenfalls der widerwilligen Duldung erfreuen
konnte, aber keinen Zugang zu politischer, wirtschaftlicher oder militärischer
Macht besaß. Oft waren sie sogar spontanen Pogromen des Pöbels oder
schlimmstenfalls systematischen Verfolgungen ausgesetzt, die ihnen einen
schrecklichen Tod nicht wegen irgendwelcher begangener Verbrechen, sondern bloß
aufgrund der Tatsache ihres Glaubens bringen konnten - z.B. endeten viele als
lebende Fackeln in den kaiserlichen Gärten, als Fraß für Löwen oder wilde Hunde
im Circus zur Belustigung der Masse etc.
Zweitens - und das ist die Kehrseite ihres Leidens -
erlaubten sie sich “unangepasste” Sichtweisen; die frühen Christen hielten in
voller Überzeugung ihre Ideale hoch; sie wollten sich nicht mit der Staatsmacht
“arrangieren” - sei es aus Gewissensgründen, sei es, weil diese darauf auch
keinen Wert gelegt hätte. Die frühen Christen blieben also - so kann man ihre
Situation interpretieren - ihren Idealen treu und mussten den Preis der
Verfolgung zahlen bzw. - das wäre eine andere Interpretation - wurden verfolgt
und konnten sich nicht zuletzt deswegen den “Luxus” eines Festhalten an ihren
Idealen leisten, ohne faule Kompromisse mit den Wünschen der damaligen
Herrscher eingehen zu müssen.
Die konstantinische Zeit brachte nach und nach eine Wende, eigentlich
sogar eine totale Umkehr besagter beider Merkmale mit sich. Als sich Konstantin
als erster römischer Kaiser kurz vor seinem Tod taufen ließ, erfuhr die Kirche,
die er schon zu Lebzeiten - auch durch materielle Zuwendungen - stark
begünstigt hatte, so etwas wie allerhöchste Anerkennung. Aber es zeichnete sich
zu seiner Zeit auch schon eine gewisse Vereinnahmung der christlichen Religion
ab: Auf dem Konzil von Nicaeae, auf dem fundamentale Weichenstellungen
bezüglich der christlichen Lehre erfolgten (u.a. wurde dort die in der Bibel nicht
erwähnte Dreifaltigkeit Gottes beschlossen), spielte Kaiser Konstantin eine
große Rolle; in der Kirche musste jeder seine politische Macht spüren, wobei er
aber auch die Kirche selbst an dieser Macht teilhaben ließ. Man kann also in
gewisser Weise sagen: Die Kirche wurde mächtiger, aber gleichzeitg auch
vereinnahmt. Karl Popper bedauert in der “Offenen Gesellschaft” diese
Entwicklung, weil sie aus seiner Sicht einen moralischen Abstieg beinhaltete.
Zu Augustinus’ Lebzeiten (354-430 n.Chr.) waren diese bei Kontantin
begonnenen Tendenzen schon weit fortgeschritten. Die Kirche hatte an Macht
gewonnen; sie war ein Faktor, mit dem zu rechnen war. Wie sehr dies der Fall
war, illustriert eine bekannte Episode aus dem Leben und Wirken des Ambrosius -
er war Bischof von Mailand und hatte als eine Art Lehrergestalt auf Augustinus
Einfluss (er spielte auch bei der Bekehrung desselben eine Rolle). Als Kaiser
Theodosius die abtrünnige Stadt Thessaloniki zurückeroberte und sie zur Strafe
seinen Soldaten zur Plünderung freigab, protestierte Ambrosius energisch. Aus
seinen Briefen an den Kaiser geht hervor, dass er so etwas wie proportionalen
Einsatz von Gewalt forderte.[94] In gewisser Weise nimmt Ambrosius Gedanken
einer späteren Entwicklung vorweg. Und tatsächlich konnte seine moralische
Autorität den Kaiser dazu bringen, öffentlich für sein Verhalten Buße zu tun.
Einem frühen Christen wäre ein solcher maßgeblicher Einfluss auf die
kaiserliche Politik wohl kaum möglich gewesen. Andererseits ist schon in
Ambrosius’ Schriften implizit ein Recht auf Kriegsführung zugestanden. Auch die
weitere Ausformulierung der “Gerechten Kriegs”-Lehre durch Augustinus ist ohne
Zweifel ein Ausdruck der größeren Involviertheit der Kirche in reichspolitische
Angelegenheiten - das könnte man in gewisser Weise als Arrangement, als
Anpassung interpretieren.[95]
Der von Augustinus ausgelöste Bruch, in dem die Kirche weg vom absoluten
Pazifismus hin zum “realistischeren” Kurs der Akzeptanz des Krieges (mit
Einschränkungen) geführt wurde, sollte auch später noch Kritik erfahren. Jeder
weiß, dass sich z.B. die christliche Sekte der Quäker nie mit dem Gedanken
eines “gerechten Krieges” anfreunden konnte. Auch in den Schriften des Erasmus
von Rotterdam taucht christlich motivierte Kritik an der “Gerechten Kriegs”-Lehre
auf. Erasmus gesteht zwar die Möglichkeit eines “gerechten Krieges” prinzipiell
zu (wohl auch, um nicht als Häretiker zu gelten?). Er schränkt dieses
Zugeständnis aber in vielen Passagen seiner Schriften so stark ein, dass wenig
davon übrigbleibt. Er stellt z.B. die Gewaltlosigkeit predigende Lehre Christi
den die Gewaltlosigkeit relativierenden Schriften des Augustinus gegenüber und
weist darauf hin, dass ersterer für einen Christen mehr Autorität besitzen
muss.[96] Erasmus hat auch offenbar Probleme mit der
Christianisierung der Armee. Für ihn ist das Symbol des Kreuzes, die
Anwesenheit von Priestern sowie die Spendung der Eucharistie in der Armee eine
Vermischung des Heiligsten mit dem abscheulichsten Tötungshandwerk.[97] Neben den christlichen Argumenten spielen
noch allgemeine menschliche Überlegungen bei ihm eine Rolle; so weist er darauf
hin, dass selbst der gerechteste Krieg mit unsagbarem Leid und Unrecht für das
Volk einhergeht und zudem der moralische Charakter einer Gesellschaft v.a. durch
Kriege (so “gerecht” sie auch sein mögen) pervertiert wird.[98]
Für viele heutige christliche Pazifisten ist die “Gerechte Kriegs”-Lehre
ein Verrat an den Prinzipien ihrer Religion. Gewaltlosigkeit ist aus ihrer
Sicht keine Option für einen Christen, sondern seine unbedingte Berufung. Die
Ausübung von Gewalt ist für sie eine Abkehr von der Botschaft des Mitleids, der
Nächstenliebe und der Barmherzigkeit, der man folgen sollte. Entsprechend
treten in öffentlichen Diskussionen immer wieder christlich motivierte
Pazifisten auf, die aus dem Geist der Gewaltlosigkeit aus dem Neuen Testament
Argumente gegen die augustinische Hinwendung zur “Gerechten Kriegs”-Theorie
gewinnen.[99] Ein in diesem Zusammenhang genanntes
Argument lautet sinngemäß: Das Christentum spricht ja normalerweise auch nicht
von einer “gerechten Abtreibung”, wenn gewisse Voraussetzungen für sie gegeben
sind (z.B. ein “gerechter Grund”, also z.B. die Vergewaltigung der Frau oder
besondere soziale Notlage etc.); aber in der Frage nach Krieg und Frieden geht
man plötzlich vom ursprünglichen absolut verstandenen Tötungsverbot ab und
relativiert es auf nicht unbeträchtliche Weise. Wieso tut man dies denn gerade
bei diesem für die kriegslüsternen Machthaber so wichtigen Thema - wenn nicht
aus Gründen der intellektuellen Anbiederung an die Obrigkeit?
Bei aller Plausibilität solcher Argumentation müssen wir dennoch zwei
Fragen klar voneinander unterscheiden: 1.) “Ist die ‘Gerechte Kriegs’-Theorie
ein Verrat an der christlichen Lehre oder doch noch in ihrem Sinne?”; sowie 2.)
“Ist die ‘Gerechte Kriegs’-Theorie - unabhängig von ihrem religiösen Bezug -
diskussionswürdig und aufrechterhaltbar?” Da die vorliegende Arbeit keine
theologische, sondern eine politisch-philosophische ist, interessiert
hauptsächlich die zweite Frage; auf diese soll eine Konzentration erfolgen. Das
heißt, die Diskussion an der “Gerechten Kriegs”-Theorie soll meiner Meinung
nach nicht allein in der müßigen Erörterung der Frage bestehen, ob diese Lehre
noch auf dem Boden des Christentums steht oder ob ihre Vertreter in
charakterloser Weise ihre Seele dem Teufel verkauft haben; genausowenig wie die
Diskussion um die Humanitäre Intervention im Kosovo nur um die Frage kreisen
sollte, inwieweit die Partei der “Grünen” in Deutschland bei Beschließung des
Kriegseinsatzes von ihren pazifistischen Grundlagen abgerückt ist.[100]
Es mag nämlich sein, wie es will: Das Argument, ob jemand seine
ursprüngliche Überzeugung verlassen bzw. modifiziert hat oder auch nicht, ist
nur “relativ”[101] - die ursprüngliche Ansicht könnte ja auch
unzureichend gewesen sein. Dass die “Realpolitiker” der Christen wie der Grünen
möglicherweise oft nicht so ehrlich waren, ihre Verwerfung der ursprünglichen
Ansicht offen zuzugeben und sich stattdessen durch krampfhaftes Umbiegen der Heiligen
Schrift bzw. der alten Parteiprogramme bemühen, ihre neue Gesinnung als im
völligen Einklang mit der alten darzustellen, ist eine andere und in der
praktischen Politik nicht unübliche Vorgehensweise, die uns hier nicht
sonderlich bekümmern soll.
6.4.2. Moralische Überlegenheit des
Friedens über den Krieg
In den augustinischen Schriften wird der Zustand des Friedens gegenüber
dem Zustand des Krieges als moralisch überlegen betrachtet. Im für seine
Kriegs- und Friedenslehre wichtigen Buch XIX seines “Gottesstaates” schreibt er
z.B.:
“Das Gut des Friedens ist ja so groß, dass auch in der Sphäre des
Irdischen und Vergänglichen nichts lieber gehört, nichts sehnlicher begehrt und
letzten Endes auch nichts Besseres gefunden werden kann. Wenn wir uns daher
entschließen, darüber etwas länger zu sprechen, werden wir, meiner Ansicht
nach, den Lesern kaum beschwerlich sein; geht es doch um das Endziel dieses
Staates, von dem hier gesprochen wird, und zugleich um die süße Wohltat des
Friedens selbst, der allen teuer ist.”[102]
Während der mit Glückseligkeit eng verknüpfte Friede das eigentlich
höchste und erstrebenswerteste Gut ist[103], stellt der Krieg für Augustinus ein Übel
dar. Dies gilt selbst für den “gerechten Krieg”, der ein Indiz für die
Unordnung der diesseitigen Welt darstellt und nicht gerne gewählt wird. So
schreibt er:
“Sie aber sagen, dass der Weise lediglich gerechte Kriege führen wird.
Ja, ist er, wenn er sich seines Menschseins erinnert, deshalb nicht umso mehr
zu beklagen, da er sich zu gerechten Kriegen gezwungen sieht: wären sie nicht
gerecht, müsste er sie ja gar nicht führen, und dan gäbe es auch für den Weisen
keine Kriege. Die Ungerechtigkeit des Gegners zwingt nämlich den Weisen zu
gerechten Kriegen, und so ist sie es jedenfalls, die der Mensch beklagen muss,
weil sie des Menschen Laster ist, auch wenn aus ihr kein Zwang zum Kriegsführen
entstünde. Das alles sind in der Tat große, grausame, ja ungeheuerliche Übel:
wer sie mit Ergriffenheit betrachtet, wird unser Elend eingestehen müssen; wer
sie hingegen hinnimmt und nachdenkt über sie, ohne in seiner Seele Kummer zu
erleiden, der ist in seinem Wahn, glücklich zu sein, noch weit elender daran,
weil er dann auch sein menschliches Empfinden eingebüßt hat.”[104]
Entsprechend ergibt sich für Augustinus die moralische Rechtfertigung des
Krieges nur in seiner Hinordnung auf den Frieden, d.h. Krieg wird als Mittel,
Frieden als Zweck bestimmt. In einem Brief an den römischen Offizier Bonfatius
drückt er dies folgendermaßen aus:
“Der Wille muss den Frieden im Auge haben, der Krieg darf nur die Folge
der Notwendigkeit sein; dann wird Gott von der Not uns befreien und im Frieden
uns bewahren. (...) Sei also auch im Kriege friedfertig, so dass du durch
deinen Sieg den Besiegten den Vorteil des Friedens verschaffest. Denn: Selig
die Friedfertigen, sagt der Herr, denn sie werden Kinder Gottes genannt
werden.”[105]
6.4.3. Natürliche Hinordnung des
Menschen auf den Frieden
Augustinus bestimmt - ganz im Sinne von Aristoteles und auch Cicero - den
Menschen als Gemeinschaftswesen. Von Natur aus wohnt ihm ein Trieb nach
Gesellschaft inne. Diese Hinneigung zur Gesellschaft schließt ein
Friedensstreben mit ein.[106] Zudem ist das Streben nach Frieden auch ein
Streben nach Glückseligkeit. Die in der Antike geläufige Formel, dass jeder
Mensch glücklich sein will, kann Augustinus zu der Formel modifizieren, dass
jeder Mensch den Frieden wünscht.[107]
“Man mag die menschlichen Angelegenheiten und die allgemeine Natur
betrachten, wie man will, man wird mit mir darin übereinstimmen, dass, sowie es
niemanden gibt, der sich nicht freuen will, es auch niemanden gibt, der nicht
Frieden haben will. Wollen doch selbst die, die Kriege wollen, nichts anderes
als siegen: sie begehren also, durch Krieg zu ruhmreichen Frieden zu gelangen.
Was ist ein Sieg andres als Unterwerfung der Widersacher? Ist diese erreicht,
gibt es Frieden. (...) Daher steht es fest, dass Friede das erwünschte Ziel des
Krieges ist, und jeder Mensch sucht durch Krieg den Frieden, niemals durch
Frieden den Krieg.”[108]
Wenn die Sehnsucht nach Frieden ein unabdingbarer Bestandteil der
menschlichen Natur ist, wie kann es dann überhaupt so etwas wie Krieg geben?
Augustinus gibt daraufhin in etwa folgende Antwort: Krieg entsteht aus einer
Perversion der natürlichen (von Gott geschaffenen und gewollten) Ordnung durch
Menschen, die sich dieser (aus Anmaßung) nicht fügen wollen. Die erste
diesbezügliche - prototypische - Abkehr sieht er im Sündenfall gegeben, in dem
sich der Mensch aus freiem Willen von Gott abgewandt hat.[109] Aber Fortsetzungen dieser ersten Anmaßung
existieren auch gegenwärtig:
“Auch die den Frieden, den sie haben, gestört sehen wollen, hassen nicht
den Frieden, sondern wünschen ihn nur nach ihrem Ermessen umgeändert. Sie
wollen nicht, dass kein Frieden sei, sondern dass er so sei, wie sie ihn
wollen.”[110]
Im obigen Zitat klingt schon die Fortsetzung dieses Gedankens an. Selbst
jene, die in Perversion ihrer natürlichen Disposition zum Frieden so etwas wie
Krieg wollen, tun dies auch nur bedingt - will heißen: keine Perversion des
natürlichen Friedensstrebens und der natürlichen Friedensordnung kann eine
vollständige sein. Die natürliche Ordnung kann also niemals gänzlich, sondern
nur teilweise verlassen bzw. umgekehrt werden, denn: “Selbst der Räuber will
Frieden mit seinen Genossen, damit er umso wirksamer und gefahrloser den
Frieden der anderen gefährden kann.”[111]
Illustriert wird dies mit dem Hinweis auf den mythischen Räuber Cacus,
der wie ein wildes Monster einsam in einer grausigen Höhle lebte, wohin er
seine Opfer verschleppte und tötete. Trotz seiner Grausamkeit und seines
antisozialen Verhaltens sehnte sich selbst er noch in irgendeiner Form nach
Frieden, z.B. wollte er in seiner Höhle in Ruhe gelassen werden; und auch mit
seinem Leib wollte er in Frieden leben - d.h. er wollte, das die Glieder des
Leibes in einem geordneten Verhältnis zueinander standen und ihm gehorsam
waren; wenn sich Triebe in ihm regten und aufrührerische Unordnung in sein Inneres
brachten, wollte er sie unverzüglich befriedigen, um so wieder zur Ruhe zu
finden. Augustinus nennt auch das Beispiel wilder Raubtiere, die in einem
geordneten Verhältnis zu ihren Weibchen und Jungen leben.[112] Spätestens an dieser Stelle wird klar, dass
der augustinische Begriff des Friedens (pax) eng mit dem der Ordnung (ordo)
zusammenhängt, ja diese beiden Begriffe für ihn eigentlich identisch sind.[113] Bevor dieser Zusammenhang näher erläutert
wird, soll noch kurz herausgearbeitet werden, auf welche Art und Weise der
augustinische Friedensbegriff mit dem Christentum verbunden ist.
6.4.4. Friede und Christentum:
Himmlischer und irdischer Frieden, augustinische Bibelinterpretation, Kritik an
der Bindung des Friedensbegriffes an eine bestimmte Konfession
Der Friedensbegriff des Augustinus ist ein christlicher; dies äußert sich
auf vielfältige Weise. Bereits oben wurde erwähnt, dass seiner Ansicht nach die
freiwillige Abkehr der ersten Menschen von Gott Streit, Zwietracht und Krieg in
die Welt gebracht hat. Die Ausrichtung auf den christlichen Gott ist zugleich
ein Streben nach Frieden, die Abkehr von ihm ein Streben nach Krieg. Diese
beiden Strebensrichtungen existieren nach der augustinischen Philosophie im
Menschen; und sie sind miteinander unvereinbar.[114]
Die christliche Ausrichtung des augustinischen Friedensbegriffes kommt
auch in der Differenzierung zwischen “irdischem” und “himmlischem” Frieden zum
Ausdruck. Während der frühe Augustinus in einem Kommentar zur Bergpredigt den
wahren Frieden bereits im Diesseits für erreichbar hielt[115], änderte er später seine Meinung zu einer
eher pessimistischen Ansicht. Im “Gottesstaat” legt er v.a. die
Unerreichbarkeit des höchsten Gutes unter irdischen Bedingungen dar.[116] Der wahre, vollendete Friede kann nur in der
jenseitigen Seligkeit der Erlösten zu finden sein. Der irdische Friede ist nur
ein unvollkommenes Abbild desselben. Augustinus wird entsprechend von manchen
vorgeworfen, den diesseitigen zugunsten des jenseitigen Frieden entwertet zu
haben.[117] Diese Einschätzung ist in gewisser Weise
richtig - allein man darf nicht übersehen, dass er den irdischen Frieden
durchaus ebenfalls geschätzt hat.[118]
Die augustinische Bibelinterpretation ist ein Kapitel für sich. Obwohl sein
Werk einen völligen geistigen Bruch innerhalb der Christengemeinde herbeiführte
- im Sinne einer Abkehr vom unbedingten Pazifismus hin zur Lehre vom “gerechten
Krieg” - scheint es Augustinus ein Anliegen gewesen zu sein, zu beweisen, wie
sehr seine Lehre dem “wahren” Christentum entspricht. Zu diesem Zweck hebt er
v.a. Bibelstellen aus den Alten Testament hervor[119], die Krieg und Gewalt positive Seiten
abgewinnen können; und auch Stellen aus dem Neuen Testament werden nach
Möglichkeit in diese Richtung interpretiert; dabei wird manchmal zulässig,
manchmal aber auch philologisch gewagt - oder einfach nur unredlich? -
verfahren. Zu letzterem die beiden bekanntesten Beispiele aus den
augustinischen Schriften:[120]
*
In Lk.3,14 treten
Soldaten vor Johannes den Täufer und fragen ihn, was sie tun sollen. Johannes
antwortet ihnen: “Tut niemandem Gewalt an, klagt niemanden falsch an, begnügt
euch mit eurem Solde.” Augustinus zufolge ist die Stelle vor allem durch das
bedeutsam, was sie nicht explit, aber angeblich implizit aussagt: Da Johannes
besagten Soldaten den Militärdienst nicht kategorisch verboten hat, kann er
doch nichts gegen ihn gehabt haben - Militärdienst ist also, so die
augustinische Interpretation, durchaus gottgefällig. Sonst hätte Johannes doch
zu den Soldaten so etwas gesagt wie: “Werft eure Waffen weg, scheidet aus dem
Heeresverband aus” etc. Natürlich ist die augustinische Interpretation
offenkundig unsinnig: Wenn heute ein schwer Drogensüchtiger zu einem
Sozialarbeiter geht und ihn fragt, was er tun soll, und der Sozialarbeiter
antwortet ihm z.B.: “Verwende bei deinem nächsten Schuss eine saubere Nadel”,
dann bedeutet das noch lange nicht, dass der Sozialarbeiter damit quasi
“unausgesprochen” mit dem Drogenkonsum übereinstimmt oder es gar für eine gute
Sache hält. Vielmehr wird hinter einem solchen Ratschlag die Idee einer
“stufenweisen” Besserung eines Menschen stehen. Von Religionsführern wird eine
solche Strategie immer wieder berichtet.[121] Buddha z.B. konfrontierte die bei ihm
Ratsuchenden nicht gleich mit Maximalforderungen, die sie enttäuscht und
demotiviert hätten. Vielmehr gab er ihnen einige Ratschläge, die sie - quasi in
einer “Politik der kleinen Schritte” - auf die nächste sittliche Stufe führen
sollten. Die Annahme erscheint mir durchaus plausibel, dass Johannes mit seiner
Aussage ein ähnliches Anliegen im Sinn hatte. Vielleicht hielt er die Soldaten
noch nicht für reif genug, um die Waffen endgültig niederzulegen; da wollte er
wenigstens eine kleine Verbesserung erzielen. Die augustinische Interpretation,
die lang und breit mit dem argumentiert, was zwar nicht gesagt, aber angeblich
unausgesprochen gemeint ist, bleibt auf jeden Fall kritikwürdig.
*
Dann gibt es noch den
Verweis auf Matth. 8,8 und 9, wo der bekannte Hauptmann von Kapernaum auftritt
(“Ich bin es nicht würdig, dass du eingehest unter mein Dach...”). Jesus lobt
den Glauben des Mannes. Daraus leitet Augustinus sinngemäß auch ein Lob für den
Soldatenstand ab - das ist natürlich ebenfalls grober Unfug. Denn nach
derselben Logik müsste man dann aus dem Lob Christi an Maria Magdalena
schließen, dass der Beruf der Prostituierten eine edle und gottgefällige
Beschäftigung sei. Das Lob Christi bezieht sich in diesem Fall ja auf den Glauben dieser - eigentlich verlorenen -
Menschen, nicht auf ihre gesellschaftliche Situation! Dass Jesus häufig mit
Soldaten verkehrte, ist übrigens - entgegen oft wiederholter Behauptungen -
kein Beweis seiner Wertschätzung des Militärs, sondern eher für das Gegenteil.
Denn er verkehrte vorzugsweise mit Huren, Zöllner und anderem Gesindel - er
ging nämlich, wie er selbst sagte, zu den Kranken, die den Arzt brauchen.
Jene Stellen aus dem Neuen Testament, die völligen Gewaltverzicht
nahelegen, werden von Augustinus so umgedeutet, dass ihr Inhalt praktisch
völlig relativiert wird. Dass man nach den Worten Jesu Christi die andere Backe
hinhalten soll, wenn einem auf die eine geschlagen wurde, interpretiert er z.B.
als “innere Haltung” und nicht als “körperliche Handlung”.[122] Im Prinzip heißt das: Man darf zwar mit den
Fäusten zurückschlagen, aber in der eigenen Seele muss man mit Duldsamkeit und
Friedensliebe erfüllt sein. Das “Äußere” des Menschen darf also gewalttätig
sein, wenn nur das “Innere” friedliebend ist? Kann eine solche Differenzierung
- oder Zersplitterung - von Handlung und Gesinnung philosophisch funktionieren?
Ich persönlich meine, dass das nicht so ist.
Trotz seiner Ablehnung christlicher Traditionen der Gewaltlosigkeit wäre
das Christentum, wenn seine Regeln nur befolgt würden, für Augustinus ein
wichtiger Garant für den Frieden. Dies äußert sich u.a. in folgendem Zitat:
“O dass doch in allen ein
Glaube wäre! Denn dann hätte man weniger zu kämpfen, und es würde der Teufel
mit seinen Engeln leichter überwunden werden. Weil es aber in diesem Leben
notwendig ist, dass die Bürger des Himmelreiches unter Irrgläubigen und
Gottlosen von Versuchungen geplagt werden, damit sie in der Tugend geübt und
‘gleich dem Gold im Schmelztigel geprüft werden’, so dürfen wir nicht vor der
Zeit allein mit Heiligen und Gerechten leben wollen,...”[123]
Meiner Ansicht nach ist ein Friedensbegriff, der mit einem bestimmten
Glauben verbunden wird, defizitär - und zwar einfach deshalb, weil er seine
Aufgabe nicht erfüllt (nämlich die, Frieden zu schaffen). Die Kommunisten
sprachen auch vom “Frieden”; sie meinten damit, dass alle Länder doch nur
kommunistisch werden müssten, dann würde angeblich der große Weltfrieden
ausbrechen. Sieht man davon ab, dass dies nicht stimmte (kommunistische Staaten
hatten oftmals miteinander heftigste Konflikte, man denke an die Rivalitäten
zwischend er Sowjetunion und China oder der Sowjetunion und Jugoslawien), wäre
ein solcher “Friede” nur erzielbar, wenn alle Menschen sich an eine bestimmte
Ideologie anpassen würden. Ein solches Ziel der globalen “Gleichschaltung”
könnte wahrscheinlich nur durch großes Blutvergießen erreicht werden, aber
wahrscheinlich nicht einmal damit. Auch ist ein solcher Friedensbegriff
intolerant, weil die universale Unterwerfung unter ein bestimmtes
weltanschauliches System alle anderen Meinungen ausschließt; die Freiheit der
Meinungen wird dem sogenannten Frieden geopfert - was wohl keine wünschenswerte
Vorstellung ist - wünschenswert ist vielmehr ein Zustand, in dem Frieden und
Freiheit gemeinsam existieren und nicht das eine gegen das andere ausgespielt
wird.
Die Idee, dass alle Welt zur Förderung des Friedens christlich werden
müsse, ist nicht viel besser als der analoge Irrglaube der Kommunisten. Nicht
nur, dass es bereits viel Streit und Krieg unter Christen gab, ist das Ziel der
universalen Christianisierung realistischerweise nicht nur unmöglich zu
erreichen - in einem radikalen Sinne verstanden enthält ein solcher Auftrag
auch eine Absage an Religions-, Gewissens- und Meinungsfreiheit. Ein wirklich
brauchbarer Friedensbegriff muss meiner Meinung nach anders an die ganze
Problematik herangehen. Zunächst muss er das Faktum der Verschiedenartigkeit der Menschen anerkennen - hinsichtlich ihrer Charaktereigenschaften, ihrer
Hautfarbe, ihrer Überzeugungen, ihrer Religionen, ihrer Meinungen etc. Eine
solche Pluralität kann z.B. mit Hannah Arendt[124] nicht nur als zu bekämpfender Mangel,
sondern als Grundtatsache des
menschlichen Daseins bestimmt werden, der man auch positive Aspekte abgewinnen kann. Darauf aufbauend kann man
sich dann über Mittel und Wege Gedanken machen, wie man trotz solcher Verschiedenheit und unter Respektierung der persönlichen Freiheit miteinander in
Frieden leben kann. Der augustinische Friedensbegriff leistet dies alles nicht.
6.4.5. Der Friede als “Ruhe der Ordnung”
Oben wurde bereits hingewiesen auf die enge Verbindung zwischen Frieden
und Ordnung - für Augustinus ist dies letztlich ein und dasselbe. Er bestimmt
in Buch XIX des “Gottesstaates” den Frieden als “tranquillitas ordinis” - als
“Ruhe der Ordnung”. Was hat das zu bedeuten? Auskunft darüber kann eine
Textpassage bieten, die berühmte “Friedenstafel” aus dem 13.Abschnitt:
“Der Friede des Leibes ist also die geordnete Zusammenstimmung[125] seiner Teile. Der Friede der vernunftlosen
Seele ist die geordnete Ruhe[126] ihrer Triebe. Der Friede der vernünftigen
Seele ist die geordnete Übereinstimmung[127] zwischen Erkenntnis und Handlung. Der
Friede zwischen Leib und Seele ist das geordnete Leben und Wohlbefinden[128] des Lebewesens. Der Friede des sterblichen
Menschen mit Gott ist der durch den Glauben geordnete Gehorsam[129] gegenüber dem ewigen Gesetz. Der Friede
unter den Menschen ist die geordnete Eintracht[130]. Der Friede in der Familie ist die
geordnete Eintracht[131] der Angehörigen in bezug auf das Befehlen
und Gehorchen. Der Friede des himmlischen Staates ist die bis ins letzte
geordnete und völlig einträchtige Gemeinschaft[132] des Gottesgenusses und des gegenseitigen
Genusses in Gott. Der Friede für alle Dinge ist die Ruhe[133] der Ordnung. Ordnung ist die Verteilung der
gleichen und ungleichen Dinge, die jedem seinen Platz zuweist.”[134]
Die Friedenstafel ist aufsteigend angelegt, d.h. sie führt vom
“Mikrokosmos” des Einzelmenschen hinauf zum “Makrokosmos” der “pax omnium
rerum”. Der Grundgedanke ist in etwa folgender: Es gibt so etwas wie eine von
Gott geschaffene und gewollte natürliche Ordnung. Wird diese eingehalten,
verweilen die Dinge in Ruhe, d.h. einem ausgeglichenen Zustand, einer Art
Harmonie. Eine Störung dieser Ordnung ist eine Störung dieser Harmonie und
damit des Friedens. Augustinus illustriert dies auch durch das Bild eines
Mannes, der kopfüber aufgehängt ist.[135] Die natürliche Ordnung würde eigentlich
vorsehen, dass er aufrecht steht; die Störung der Ordnung hingegen führt dazu,
dass sich der Mann unausgeglichen fühlt, seine Harmonie verloren hat; das ist
der Friedensverlust. An diesem Beispiel sieht man auch, dass - wie oben bereits
teilweise besprochen - die Perversion der natürlichen Friedensordnung niemals
eine vollständige sein kann. Der verkehrt Hängende ist zwar - hinsichtlich
seiner Körperhaltung - in einer unnatürlichen Situation, andere Aspekte seiner
Leiblichkeit und seiner Seele sind aber dennoch funktionsfähig geordnet.
Dennoch muss man einer Störung der Friedensordnung entgegentreten - unter
Umständen auch, darauf läuft die augustinische Philosophie letztlich hinaus,
mit Gewalt. Das ist dann so etwas wie ein “gerechter Krieg”.
Auffällig am augustinischen Friedensbegriff der “Ruhe der Ordnung” ist
sein autoritärer Grundzug. Die zentrale Bedingung für Frieden ist für
Augustinus der Gehorsam[136] - dies ist auch aus dem obigen Zitat
ersichtlich, in dem dies mehrmals hervorgehoben wird. Für Freiheit gegenüber
einer streng festgelegten Ordnung gibt es in seiner Philosophie keinen Platz.
In den USA gibt es Forscher, die dem augustinischen Konzept der
“tranquillitas ordinis” heute noch Aktualität zusprechen. Ein Beispiel dafür
ist Jean Elshtain. Sie rechtfertigt z.B. durch ausdrückliche Berufung auf die
augustinische “Ruhe der Ordnung” den von den USA geführten “Krieg gegen den
Terror”. Sie spricht von der Notwendigkeit der - unter Umständen auch
gewaltsamen - Verteidigung des grundlegenden Gutes eines gesellschaftlichen
Friedenszustandes, der es ermöglichen soll, “dass Mütter und Väter Kinder
großziehen, Männer und Frauen zur Arbeit gehen, Bürger einer großartigen Stadt
auf den Straßen oder mit der U-Bahn fahren, gewöhnliche Leute Flugtickets
kaufen, um ihre Enkel in Kalifornien zu besuchen, Männer und Frauen unterwegs
Geschäfte mit Kollegen in anderen Städten abwickeln und die Gläubigen ihre
Kirchen, Synagogen und Moscheen besuchen können ohne Angst haben zu müssen.”[137] Die Terroristen, so Elshtain, haben diese
Friedensordnung gestört; der auch bewaffnete Kampf gegen sie ist daher gerecht.
Tatsächlich hat sich Augustinus wohl so etwas in dieser Art vorgestellt,
wobei Jean Elshtain ihre auf die Gegenwart und mit deutlichem Blick auf New
York entworfene Aktualisierung seines Konzeptes natürlich ein wenig nach dem
heutigen Geschmack - ich möchte es bewusst salopp sagen - “zurechtgebürstet
hat”. Dass es U-Bahnen und Flugtickets zu Augustinus’ Zeiten nicht gab, fällt
nicht dabei noch am wenigsten ins Gewicht. Bemerkenswert erscheint aber, dass
der augustinische Ordnungsbegriff selbstredend viel konservativer und
obrigkeitlicher war als Elshtain, ihres Zeichens Professorin für politische
Philosophie, ihn (wohl aus Bewunderung für seinen frommen Urheber) darstellen
will. Es ist z.B. schwerlich vorstellbar, dass der spätantike Christ und
gestrenge Kirchenvater Augustinus es wirklich als die natürliche Ordnung ansah,
dass Frauen - wie im obigen Zitat vorausgesetzt - arbeiten gehen (oder gar
politische Philosophie unterrichten); und zur religiösen Freiheit, die Elshtain
gegen Ende sympathischerweise andeutet, hatte unser heiliggesprochener Freund
als nordafrikanischer Bischof und Initiator von Religionsverfolgungen wohl auch
keinen sonderlich positiven Bezug. Man sieht an Elshtains Aussage auch, wie
einseitig sich Störungen der Ordnung diagnostizieren lassen. Ein Palästinenser,
der sich durch das von den USA unterstützte Israel seines Rechtes auf
Entfaltung in einem eigenen Staat beraubt sieht oder ein Bewohner der Dritten
Welt, der sich mit massiv ungerechten Einkommensunterschieden zwischen reichem
“Norden” und armem “Süden” konfrontiert sieht, könnte vielleicht die USA als
Störer der natürlichen Ordnung anklagen und so Gewalt gegen sie legtimieren.
Wer stellt also fest, wer wann und auf welche Weise die Verletzung der
natürlichen Ordnung verschuldet hat? Für Augustinus wäre diese Instanz wohl die
Katholische Kirche gewesen - dies befriedigt in der heutigen Sichtweise kaum
mehr. (Ich möchte mit diesen Bemerkungen übrigens keinen
erkenntnistheoretischen Relativismus vertreten, sondern lediglich auf die Schwierigkeiten
der Anwendungen der Gerechten-Kriegs-Theorie verweisen).
Doch zurück zum obrigkeitlichen Charakter der augustinischen Philosophie:
Augustinus selbst definiert, wie oben festgestellt, den Frieden des Staates
u.a. “in der geordneten Eintracht der Bürger im Befehlen und Gehorchen”[138], was für mich keinen sehr
basisdemokratischen Klang hat. Einigermaßen patriarchalisch sieht auch die
“Ruhe der Ordnung” im einzelnen Haushalt aus: “Daraus entspringt also auch der
häusliche Friede, das ist die geordnete Eintracht der Zusammenwohnenden im
Befehlen und Gehorchen. Denn hier befehlen die, die Fürsorge üben, der Mann dem
Weibe, die Eltern den Kindern, die Herren den Knechten. Es gehorchen aber die,
denen die Fürsorge gilt, die Frauen ihren Ehemännern, die Kinder den Eltern,
die Knechte den Herren.”[139]
Es soll also in der “Ruhe der Ordnung” der befehlen, dem es zukommt und
entsprechend auch der gehorchen, dem es zukommt, was eine etwas beunruhigende
Vorstellung für all jene von uns ist, denen man wohl die zweitere Rolle
zudenken wird. Wenn nicht gehorcht wird, muss die Ordnung wiederhergestellt
werden; der züchtigende Familienvater wird dies im Kleinen, der strafende Fürst
im Großen erledigen. Wenn also jemand aufmuckt, haut er - bildlich gesprochen -
auf den Tisch und ruft dabei so etwas wie: “Ruhe der Ordnung!”. Ist ein solches
autoritäres Konzept eine für die heutige Zeit wünschenswerte Vorstellung? Wohl
kaum. Allerdings ist es nicht ausgeschlossen, dass eine gewisse Modernisierung
es annehmbar machen könnte. Wenn man z.B. die angeborenen Menschenrechte als
Grundlage der natürlichen Ordnung begreift, könnte eine Verletzung derselben
die Störung eines ursprünglichen Friedens- oder Gerechtigkeitszustandes
aufgefasst werden. So könnte man z.B: die Humanitäre Intervention legitimieren:
Als die - im Extremfall gewaltsame - Wiederherstellung einer natürlichen
Friedensordnung, die durch massive Menschenrechtsverletzungen gestört worden
ist.
6.4.6. Das Böse im Krieg - eine
gesinnungsethische Perspektive
“Was ist das Böse im Krieg?”[140], fragt Augustinus in einer Schrift gegen
den Manichäer Faustus, und setzt im nächsten Satz fort: “Ist es der Tod von
einigen, die bald in jedem Fall sterben werden...?”[141] Er verneint diese rhetorische Frage dann
auch gleich und meint: “Das ist bloß feige Abneigung, kein religiöses Gefühl.”[142]
Persönlich halte ich diese Textpassage für skandalös, aufgrund von Inhalt
und Formulierung. “Der Tod von einigen” - als ob im Krieg nur “einige” sterben
würden und nicht ganze Menschenmassen! Dann folgt - ein altes militaristisches
Topos - der Vorwurf der “Feigheit” an jeden, der gegen das Massensterben und
-töten im Krieg auftritt und sich persönlich nicht daran beteiligen will. Aber
die prinzipielle Weigerung, seine Mitmenschen im Krieg zu töten - ob letztendlich
berechtigt oder nicht -, verweist auf ein ernstzunehmendes moralisches Problem,
das sich nicht so einfach auf den Vorwurf der “Feigheit” reduzieren lässt. Ob
absolute Pazifisten tatsächlich feige sind und bar jeglicher religiösen
Gefühle, kann Augustinus im Jenseits mit seinem Heiligenkollegen Franz
Jägerstetter ausdiskutieren - einem einfachen Mann, der sich während des
nationalsozialistischen Regimes aus prinzipiellen, christlich motivierten
Überlegungen heraus weigerte, eine Waffe in die Hand zu nehmen und auf Menschen
zu schießen. Er wusste übrigens wohl, dass seine Weigerung ein Todesurteil nach
sich ziehen würde, aber er blieb dabei und starb als Märtyrer seiner
Überzeugung. Wäre er nicht “feige” gewesen, wenn er - so wie die meisten -
seine Überzeugung aufgegeben hätte und eingerückt wäre? Aber wahrscheinlich hat
Augustinus, wenn er von religiösen Gefühlen spricht, den aufgrund von
Heilsversprechungen todesverachtenden “Gotteskrieger” vor Augen und nicht z.B.
einen Christen wie Albert Schweitzer, der, von gläubiger “Ehrfurcht vor dem
Leben”erfüllt, keiner Fliege etwas zuleide tun kann.
In der oben zitierten augustinischen Textpassage findet man natürlich
keine Ehrfurcht vor dem Leben, sondern eine Abwertung desselben. Aus der
Erkenntnis, dass das Leben endlich ist, wird von Augustinus geschlossen, dass
es nichts oder nur wenig wert sei. Das philosophisch wichtige Bewusstsein über
unser aller “Sein zum Tode” wird so instrumentalisiert für die Legitimation
einer unmenschlichen Geringschätzung des Lebens durch Militärapparate. Wie
falsch dies ist, geht u.a. aus einem Zitat Karl Poppers hervor:
“Es gibt solche, die das Leben für wertlos halten, weil es ein Ende hat.
Sie übersehen, dass das gegenteilige Argument ebenso verfochten werden kann:
Gäbe es kein Ende, so hätte das Leben keinen Wert. Sie übersehen, dass es zum
Teil die stets gegenwärtige Gefahr ist, das Leben zu verlieren, die uns hilft,
den Wert des Lebens zu begreifen.”[143]
Dass viele Menschen töten und sterben ist für Augustinus also nicht das
Böse im Krieg - obwohl sich diese Antwort für jeden eigentlich sofort
aufdrängen würde. Was ist es denn seiner Meinung nach sonst? “Die Gier zu
schaden, die Grausamkeit der Rache, die Unbefriedetheit und Unversöhnlichkeit
des Geistes, die Wildheit des Aufbegehrens, die Lust der Überlegenheit und
Ähnliches mehr”[144] sind nach Augustinus das wirklich
Verwerfliche. Er nimmt damit eine rein gesinnungsethische Perspektive ein:
Nicht das, was auf der Ebene der Handlungen
tatsächlich im Krieg geschieht ist schlecht, sondern jenes, was auf der Ebene
der Gesinnung gedacht oder gefühlt
wird. Daraus folgt auch: Wenn die Gesinnung stimmt, d.h. wenn ein Soldat z.B.
ohne solche schlimmen Motive kämpft, sondern erfüllt ist von der Hingabe an
bestimmte moralische und religiöse Normen, dann darf er auch z.B. moralisch
unbeschadet Gewalt ausüben.[145]
In der Auseinandersetzung mit Krieg und Frieden erscheint eine rein
gesinnungsethische Perspektive nach augustinischem Muster defizitär und
kritikwürdig. Das soll nicht heißen, dass die einer Handlung zugrundeliegende
Gesinnung unwichtig wäre; die tatsächlich begangenen Handlungen sind aber wohl
auch relevant. Gute Gesinnung ist noch kein alleiniger Garant für gute
Handlungen - die christlichen Kreuzritter waren von tiefer Religiosität und
Hingabe an die Sache erfüllt, was sie aber nicht daran hinderte, nach der
Eroberung Jerusalems grausame Massaker zu begehen; ja, ihre an Fanatismus
grenzende moralische Schwärmerei hat diese Untaten erst möglich gemacht. Zudem
besitzt jeder einzelne Mensch einen exklusiven Zugang zu seiner eigenen
Gesinnung. Der Rückgriff auf die eigene Gesinnung kann vielleicht für den
Betreffenden selbst ein brauchbarer Maßstab sein, um zu bewerten, ob er selbst
ein guter oder ein schlechter Mensch ist; sie versagt aber, wenn politische
Prozesse oder Institutionen auf dem Prüfstand stehen.[146]
Und es besteht ein weiteres Problem: Da sich die Gesinnung eines anderen
Menschen unserer direkten Überprüfbarkeit entzieht, laufen wir einerseits Gefahr,
Opfer seiner Heuchelei zu werden - man kann u.U. in Strömen von Blut waten und
immer noch geltend machen, es ja doch nur gut gemeint zu haben. Andererseits
erscheint es als unzumutbarer Eingriff in die Gewissensfreiheit unserer
Mitmenschen, wenn wir an ihnen inquisitionsartige Gesinnungschnüffelei
betreiben. Die augustinische Gesinnungsethik ist denkbar ungeeignet, Lösungen
für die hier angerissenen Probleme zu liefern.
Was ist das Böse im Krieg? Es ist, dass Menschen töten und getötet
werden, dazu Verbrechen begangen werden, die schlimmes Leid verursachen - aus
welcher Gesinnung heraus diese Fakten auf der Ebene der Handlungen zunächst
auch immer geschehen mögen. Wenn die Berufung auf die gute Gesinnung überhaupt
eine Rolle spielen kann und wenn sie womöglich noch dazu dient, die eigene
angewandte Gewalt zu legitimieren, dann erscheint es mir eine legitime
Forderung zu sein, dass sich die gute Gesinnung auch durch entsprechende Taten
unter Beweis stellen muss - und nicht von der Unmenschlichkeit dieser ständig
konterkariert wird bzw. als eine Art Orakel fungiert, auf das man sich zur
eigenen “Reinwaschung” gänzlich unabhängig von seinen Taten ständig berufen
kann. Francisco de Vitoria sollte später die Forderung nach der guten Gesinnung
umformulieren zu der Forderung, dass gewisse unmenschliche Kriegshandlungen
(v.a. gegenüber Unschuldigen) unerlaubt sein müssen - ein wahrscheinlich
brauchbarer Ansatz.
Nochmals: Was ist das Böse im Krieg? Wenn wir schon einmal bei dieser
Frage sind, können wir auch gleich eine Antwort anführen, die besser ist als
die augustinische. Bartolomé de Las Casas meint dazu folgendes[147]: “...der Krieg ist (...) uns geschickt aus
der Hölle; er ist die miserabelste und abscheulich stinkendste Sache unter dem
Himmel...”; und weiter: “Denn alle Menschen auf der Welt haben durchaus sehr
genau erfahren, welche Früchte der Krieg aus sich selbst heraus hervorbringt
und erzeugt”; diese zählt er wie folgt auf: “das Getöse der Waffen; die
plötzlichen, stürmischen und heftigen Angriffe oder Invasionen; die
Gewalttaten; die großen Unruhen; die Zwietracht; die Tötungen; die Blutbäder;
das Gemetzel; die Räubereien; die Plünderungen; Eltern werden ihrer Kinder
beraubt und Kinder ihrer Eltern; die Gefangenschaften; der Raub von Besitz und
Eigentum (...); die Verwüstungen der Städte und Dörfer; die Vertreibungen
unzähliger Völker”; und weiter: “In dem Krieg wird das Vieh weggetrieben, die
Ernte zerstört, die Bauern abgeschlachtet, die in vielen Jahrhunderten erbauten
Landhäuser niedergebrannt. In dem Sturm der unglückseligen Kriege werden die
blühendsten Städte zerstört (...) In den Kriegen versinken die Häuser in
Furcht, Trauer und Wehgeschrei. Alles wird mit Klagen überhäuft”; “Die Gesetze
schweigen; die Menschlichkeit wird verspottet, nirgends gibt es mehr
Gerechtigkeit (...) Der Krieg selbst überhäuft alles mit Räubern, Dieben und
Vergewaltigern, mit Brandstiftung und Totschlag. Und in Wirklichkeit, was für
eine andere Sache ist der Krieg als ein allgemeiner Totschlag und die
Ausplünderung vieler Menschen? Je krimineller der Krieg ist, desto mehr breitet
er sich aus, um so viel mehr Tausende von Unschuldigen, die keine einzige
Schuld tragen und die das ihnen zugefügte Übel nicht verdienen, in ein extremes
Unheil gestürzt. Im Krieg schließlich verlieren die Menschen ihre Seelen,
Körper und Reichtümer.” Das, lieber Augustin, ist das Böse im Krieg.
6.4.7. Das Dilemma des armen
Folterers
In Niccolò Machiavellis “Geschichte von Florenz” gibt es eine Passage, in
der jene Bürger gepriesen werden, denen das Wohl ihres Vaterlandes mehr
bedeutet als das Heil ihrer Seele. Dieser Schlüsselstelle des politischen
“Realismus” liegt eine Anschauung von Politik zugrunde, die, wie sich
nachweisen lässt, viele “Gerechte Kriegs”-Theoretiker teilen - sogar solche, die
den Realismus nach eigenen Angaben ablehnen.[148] Was mit dieser Aussage gemeint ist, kann
man mit den Worten Michael Walzers widergeben, der einer der gegenwärtigen
Hauptvertreter der Theorie des “gerechten Krieges” ist. Es ist unmöglich, so
argumentiert er, unschuldig zu regieren.[149] In der konkreten politischen Situation wird
der Politiker oft vor der Entscheidung stehen, gegen moralische Prinzipien zu
verstoßen, wenn er andere Güter bewahren will; oft wird er gar nicht anders
können, als sich mit Schuld zu beladen.
Diese tragische Situation kann man erneut anhand der Humanitären
Intervention ganz gut illustrieren: Man denke an das Beispiel des Präsidenten
eines fiktiven, aber sagen wir einmal sehr mächtigen Landes, der über die Durchführung
einer Humanitären Intervention zu entscheiden hat. Er erhält durch Medien,
seinen Nachrichtendienst etc. Berichte von massiven Menschenrechtsverletzungen
in einem anderen, kleineren Land, von denen er zumindest mit gutem Gewissen
glaubt, dass sie zutreffen, und von denen er annimmt, dass sie nur mit
militärischem Eingreifen verhindert werden können. Was der entscheidende
Politiker nun auch tut - es ist in gewisser Weise immer moralisch falsch
(selbst wenn der Politiker, wie wir hier einmal “unrealistischerweise” annehmen
wollen, der Versuchung widerstehen kann, seine Position auszunützen und mit
einer Humanitären Intervention nur andere machtpolitischen Ziele zu verfolgen;
es geht ihm aber bei seiner Entscheidungsfindung, so unterstellen wir einmal,
tatsächlich um Moral).
Wenn der betreffende Politiker nicht eingreift, obwohl er dazu eigentlich
in der Lage wäre und den Vergewaltigungen, Genoziden, Plünderungen etc. einfach
zusieht, macht er sich in gewisser Weise mitschuldig an den Gräueln. Wenn er
aber eingreift, lädt er in einer anderen Form Schuld auf sich: Jede Form
militärischer Gewaltanwendung trifft im Rahmen des “Kollateralschadens” auch
Unschuldige; er unterschreibt mit einem Einsatzbefehl zugleich das Todesurteil
für abertausende eigene Soldaten, deren Angehörige ihm dies wohl kaum verzeihen
werden können - und wenn er Pech hat und seine Einschätzungen bezüglich der
Erfolgschancen falsch sind, dann richtet er durch einen verlorenen Krieg
vielleicht seinen eigenen Staat zugrunde. Und was ist, wenn ihm einseitige
Informationen zur Verfügung standen? Medien neigen bei Berichten über Konflikte
zu Schwarz-Weiß-Zeichnungen, die mit der Komplexität der Wirklichkeit neuer
Kriegssituationen kaum etwas gemeinsam haben. Und wer sagt, dass nicht Interessensgruppen
innerhalb des eigenen Nachrichtendienst aktiv sind und ihm gezielte
Falschinformationen zuspielen? Vielleicht hilft er im Endeffekt dann der
falschen Seite? Er wird also mit ziemlicher Sicherheit auch schuldig, wenn er
eine Humanitäre Intervention befiehlt. Welche Entscheidung er in der Politik
auch trifft, er lädt Schuld auf sich - besonders, wenn er höheren politischen
Gütern wie den Menschenrechten, dem Frieden oder auch der Stabilität und
Wohlfahrt des eigenen Staates entgegenstrebt (die von “Realisten” - wohl nicht
ganz zu Unrecht - zu einem moralischen Ziel erklärt wird).
Wie kann man dieses Dilemma lösen? Man könnte Zuflucht nehmen zu
bestimmten moralphilosophischen Konzepten, die das Problem zu relativieren
versuchen. Z.B. ist von “realistischer” Seite oftmals eine Differenzierung
zwischen “privater” und “politischer” Moral erfolgt: Während im Privatleben
moralische Regeln streng eingefordert werden, muss nach dieser Auffassung
Politik mit völlig anderen oder vielleicht sogar gar keinen moralischen
Maßstäben messen - persönlich halte ich diese Lösung aber für letztendlich
wenig überzeugend (sie erinnert mich an jenen Nazi-Angeklagten der Nürnberger
Prozesse, der ernsthaft geltend machte, dass nur seine “politische Seele” die
abscheulichen Verbrechen begangen hat, nicht aber seine “private Seele”, welche
sie verabscheute). Dann besteht noch die Möglichkeit, die radikale Ansicht zu
vertreten, dass der Zweck die Mittel in jedem Fall heiligt - ein zum Teil
diskussionswürdiger Standpunkt, der im Extremfall aber auch zu einer “Moral”
von Terroristen degenerieren könnte.
Ansonsten, wenn man sich mit all dem nicht zufrieden geben will, kann man
eine Lösung wählen wie z.B. die frühen Christen oder heute z.B. Sekten wie die
Zeugen Jehovas, die aller öffentlicher Ämter entsagen und Berufe wie z.B:
Politiker, Soldat oder Richter verweigerten. Aber ist eine solche Lösung
zufriedenstellend? Kann eine Gesellschaft funktionieren, in der sich alle oder
zumindest die moralisch integren Menschen ins Kloster oder in die Einsiedelei
gehen und sich so für eine Abkehr von der Welt entscheiden? Ist ein solches
Verhalten insgesamt wünschenswert?
Die meisten “Realisten” und auch z.B. Walzer würden diese Frage
verneinen. Ein Politiker hat unter Umständen, würden sie sagen, die verdammte
Pflicht, zum Wohle der Gesamtheit eine gewisse Schuld auf seine Person zu
laden, sich für die Menschen, für deren Zusammenleben er verantwortlich ist,
quasi “die Hände schmutzig zu machen”. Allenfalls kann er nach einer solchen
Übernahme moralischer Schuld - dies wäre die Spielart des “christlichen
Realismus” Niebuhrs - auf die Gnade des allmächtigen Gottes hoffen, der ihm
diese aufgrund seines Verständnisses für die konkrete Situation nachsehen wird;
und ansonsten muss er mit dem Dilemma leben. Der moralische Politiker wird in
dieser “realistischen” Sichtweise zu einer tragischen Persönlichkeit, der,
gefangen in einer unentrinnbaren Situation, bewusst moralische Schuld auf sich
nimmt und trägt, um der Gemeinschaft wiederum auf die moralisch richtige Art
und Weise zu dienen.
Alle bisher angeführten Aspekte haben einen diskussionswürdigen Kern.
Aber es gibt eine Einschränkung: Meiner Auffassung nach besteht die Gefahr,
dass das obige Argument auf eine sehr selbstgerechte Art massive Verbrechen
gegen die Menschlichkeit rechtfertigt. Es ist durchaus möglich, dass Täter in
Konzentrationslagern ihre unmenschlichen Handlungen vor sich selbst mit
ähnlichen Argumentationsmustern zu rechtfertigen versuchten - indem sie sich
einredeten, dass alle von ihnen begangenen Verbrechen und Untaten doch einem
höheren moralischen Zweck dienen würden. Hannah Arendt berichtet in “Eichmann
in Jerusalem” sogar von Fällen eines massiven Selbstmitleides unter Massaker
verübenden SS-Männern:[150] Sie kehrten das Mitleid, das man
normalerweise mit den Opfern empfindet, quasi um und übertrugen es auf sich
selbst; ungefähr nach dem Motto “Ach, wie bin ich arm, dass ich für das
Vaterland das Opfer einer solch schweren Pflicht erfüllen muss.” Das heißt, das
oben angeführte Argument kann bis zur Heuchelei betrieben werden; im Extremfall
erlaubt es bösartigen Verbrechern, sich noch als tragische Helden fühlen zu
können.
Augustinus vertritt eine Grundhaltung, die dem hier skizzierten Argument
sehr ähnlich ist - und er treibt dieses Argument meiner Ansicht nach bis zur
selbstgerechten und -mitleidigen Perversion eines Unmenschen, nämlich eines
unschuldige Zeugen und unschuldig Angeklagte folternden Richters. Er schreibt:
“Selbst wenn der Staat in tiefsten Frieden lebt, kann er die
Rechtsprechung des Menschen über Menschen nicht entbehren. Allein wie kläglich,
wie betrüblich ist sie, und was sollen wir über sie denken? Zumal wenn Menschen
Urteile zu fällen haben, die das Gewissen derer, über die sie urteilen, nicht
zu durchschauen vermögen. Da werden sie oft gezwungen, durch Folterung
unschuldiger Zeugen, die mit der Sache selbst gar nichts zu tun haben, nach der
Wahrheit zu forschen. Und was ist dann, wenn einer in eigener Sache gefoltert
wird? Er wird gefragt, ob er schuldig sei; man quält ihn, und er leidet als
Unschuldiger, leidet eine sichere Strafe für ein unsicheres Verbrechen, nicht
weil es sich herausstellt, dass er es begangen hat, sondern weil man nicht
weiß, dass er es nicht begangen hat. Und aus solcher Ungewissheit des Richters
erwächst sehr oft Unheil einem Unschuldigen. Noch unerträglicher und
beklagenswerter und geradewegs zum Weinen ist es, wenn ein Richter den
Angeklagten foltert, um nicht aus Unwissen einen Unschuldigen zu töten, und
dabei, eben weil er nicht weiß, wer schuldig ist, den Schuldlosen, den er
folten ließ, tötet, in der Absicht, keinen Unschuldigen zu töten. Denn wenn der
Angeklagte nach der Weisheit jener Weisen es vorzieht, lieber aus diesem Leben
zu fliehen als noch länger die Folter zu ertragen, wird er ein Verbrechen
eingestehen, das er nicht begangen hat. Nach seiner Verurteilung und
Hinrichtung weiß der Richter erst recht nicht, ob er einen Schuldigen oder
Unschuldigen getötet hat, obwohl er ihn gefoltert hat, um nicht unwissend einen
Schuldlosen zu töten. Und er hat ihn als Unschuldigen gefoltert, damit er
wissend werde, und hat ihn getötet, während er nichts wusste. In solchem
Schatten, den das Gemeinschaftsleben wirft, wird also jener weise Richter
sitzen, oder wird er es nicht wagen? Natürlich wird er es. Es verpflichtet ihn
ja die menschliche Gemeinschaft und treibt ihn zu diesem Dienst, und sie im
Stich zu lassen hält er für Unrecht. Aber nicht für Unrecht hält er, dass
unschuldige Zeugen in fremder Sache gefoltert werden, dass Angeklagte, wenn der
Schmerz sie überwindet, Falsches für sich bekennen und, wo sie schon als
Schuldlose gefoltert wurden, auch noch unschuldig bestraft werden, dass sie,
selbst wenn sie nicht mit dem Tode bestraft werden, oft genug unter der Folter
selbst oder an ihren Folgen sterben (...) All diese vielen großen Übel hält er
nicht für Sünden, denn als weiser Richter verübt er sie ja nicht in der Absicht
zu schädigen, sondern unter dem Zwang der Unwissenheit, unter dem der, den die
menschliche Gesellschaft dazu nötigt, richten muss. Das also ist es, was wir
das unbestreitbare Elend des Menschen nennen, auch wenn es nicht Böswilligkeit
des Weisen ist. Oder ist es ihm zuwenig, wenn er selbst schuldlos ist und
außerdem nicht auch noch glücklich, solange er unter dem Zwange des
Nichtwissens und Richtenmüssens Schuldlose foltert und Schuldlose bestraft.
Wieviel überlegter und menschenwürdiger wäre es, wenn er gerade diesen Zwang
als das Elend erkennen und ihn in sich hasen würde. Dann riefe er, wenn er
fromm gesinnt wäre, zu Gott: ‘Befreie mich aus meinem Zwang’.”[151]
Augustinus ist sich also darüber bewusst, welches Leid Folter im Zuge der
Rechtssprechung bringt und wie unzureichend sie als Mittel der Wahrheitsfindung
ist. Anstatt aus seinen zunächst richtigen Erkenntnissen aber die Forderung
abzuleiten, dass Folter daher abzuschaffen ist, hinterfragt er ihre
Beibehaltung nicht, sondern schildert den “tragischen” Konflikt des sie
anwendenden Richters, der aufgrund seines Amtes und um der Gesellschaft zu
dienen, angeblich zu ihr “verpflichtet” sei. Es stellt sich die Frage, ob es
nicht die Opfer der Folter sind, die sich wirklich in einer tragischen
Situation befinden und Mitleid verdienen, während die “Tragik” des “armen
Folterers” höchstens darin besteht, dass er sich mit zahlreichen
selbstgerechten Argumenten davon abzulenken versucht, dass er nicht weiter als
ein übler Verbrecher im Auftrag der staatlichen Obrigkeit ist. Wenn die
Zulässigkeit des Krieges bei Augustinus in einer Analogie zur Zulässigkeit der
Folter begründet wird, überzeugt dies heute nicht mehr.
Bedauerlicherweise erhält heute, an der Schwelle des 21.Jahrhunderts, die
obige Passage beklemmende Aktualität. In den USA ist nach den Terroranschlägen
von New York eine große öffentliche Debatte ausgebrochen, in der führende
Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und manche Leitartikler ernsthaft die
Wiedereinführung der Folter als Mittel der Rechtsfindung fordern, eine Idee,
die ich unbedingt ablehne - später soll eine ausführliche Auseinandersetzung
damit erfolgen. Der “Krieg gegen den Terror” wird so vielleicht bald in einer
übersteigerten Form zu einem billigen Vorwand zur Abschaffung grundlegender
Menschenrechte. Die angebliche Zivilisiertheit des Westens scheint angesichts
solcher Debatten nur eine dünne Oberfläche zu sein, hinter der Abgründe zum
Vorschein kommen können. Wenn manche “Gerechte Kriegs”-Theoretiker Argumente
liefern, die nicht nur Krieg, sondern auch Folter in der heutigen Zeit zu
rechtfertigen versuchen, sind sie wenig hilfreich, jene moralische Überlegenheit
des Westens unter Beweis zu stellen, von der sie meistens allerdings so fest
überzeugt sind.
6.4.8. Der “gerechte Krieg”
Es wurden bereits viele wichtige Aspekte der augustinischen “Gerechten
Kriegs”-Lehre deutlich; die noch wesentlich erscheinenden restlichen
Bestimmungen zum “gerechten Krieg” sollen hier zusätzlich genannt werden. Es
muss bemerkt werden, dass die augustinische “Gerechte Kriegs”-Lehre einen
fragmentarischen Charakter besitzt (sie findet sich verstreut über mehrere
Schriften[152]; manche wichtige Aspekte werden vom
Kirchenvater nur angedeutet und nicht systematisch weiterentwickelt).
Die drei “klassischen” Kriterien des “gerechten Krieges” sind in den
augustinischen Schriften implizit bereits enthalten[153] - obwohl sie erst von nachfolgenden Denkern
(besonders von Thomas) noch deutlicher herausgearbeitet werden sollten und wir
bei Hervorhebung dieser drei Kriterien bis zu einem gewissen Grad “ex post”
interpretieren. Diese lauten in der Aufzählung: Legitime Autorität, gerechter
Grund und rechte Absicht. Durch Erfüllung dieser Kriterien wird Gewaltanwendung
zulässig, ja sogar zur Pflicht. Zu den einzelnen Punkten ist folgendes zu
sagen:
*
Zur legitimen Autorität (auctoritas legtimata): Augustinus bezieht sich
in seinen Schriften einerseits auf (alttestamentliche) Kriege, die auf direkten
Befehl Gottes geführt werden.[154] Dem göttlichen Befehl dazu ist unbedingt
Folge zu leisten; kein Mensch hat seiner Meinung nach das moralische Recht,
einen solchen zu hinterfragen. (Von Kants Beharren auf die Autonomie des
Menschen, d.h. darauf, dass jeder Mensch sein eigener moralischer Gesetzgeber
sein muss und der Übertragung dieses Konzeptes sogar auf das Gebiet der
Religion[155] war Augustinus noch weit entfernt).
Andererseits ist auch die weltliche Autorität berechtigt, Kriege zu führen; sie
hat die primäre Verantwortung für die Entscheidung, ob der Rückgriff auf Krieg
notwendig ist. Der Soldat hingegen ist v.a. zu Gehorsam verpflichtet. Wenn er
tötet, ist er kein Mörder; wenn er das Töten verweigert, ein Verräter. Einzig,
wenn die Befehle klar den göttlichen Gesetzen entgegenlaufen, dürften sie nicht
ausgeführt werden.[156] (In moderner Form interpretiert hieße dies
wohl, dass der Soldat das Recht hat, auf Basis seines individuellen Gewissens
den entsprechenden Befehl zu verweigern; oder hatte Augustinus v.a. im Sinn,
der Kirche das Recht zu geben, Soldaten von der Gehorsamspflicht entbinden zu
dürfen?) Entsprechend seiner Überzeugung, dass nur die legitime Autorität
Gewalt anwenden darf, verwehrt Augustinus dem Christen - in seiner Funktion als
Privatmann - sogar das Recht auf Selbstverteidigung[157] (was nicht den heutigen Wertvorstellungen
und Rechtsbeständen entspricht). Die augustinische Philosophie ist also in
gewisser Weise eine Umkehrung einer Zivildiensterklärung in der Republik
Österreich: In dieser heißt es, dass der Betreffende glaubt, Gewaltanwendung
sei nur zulässig im Fall der persönlichen Notwehr und Nothilfe, aber nicht auf
der staatlichen Ebene. Für Augustinus gilt wie gesagt das genaue Gegenteil.
*
Zum gerechten Grund (causa iusta): Augustinus folgt Cicero mit der
Bestimmung, dass Krieg nur geführt werden darf, um begangenem Unrecht
entgegenzutreten. Sieht man von solchen allgemeinen Bestimmungen ab, führt
Augustinus nicht sehr detailliert aus, was ein solches kriegslegitimierendes
Unrecht sein könnte (er nennt als “gerechten Grund” lediglich Einzelbeispiele
wie Verteidigung des Vaterlandes, seiner Bürger und ihres Besitzes sowie das
Recht auf friedliche Durchreise durch ein Gebiet - aber diese Bestimmungen sind
nicht erschöpfend).[158] Was ist begangenes Unrecht? In einer sehr
engen Definition könnte es sich auf bloße Widerherstellung des “status quo
ante” beziehen. Da sich das Römische Reich damals in einer eher defensiven
Position gegenüber Barbareneinfällen aller Art befand, ist plausibel, dass eher
ein solches Konzept im Hintergrund steht.[159] In einer sehr offensiven Auslegeung könnte
es auch globales Agieren im Sinne einer “Weltpolizei” legtimieren. Was
Augustinus letztlich genau dazu gemeint hat, kann aufgrund des oben
angesprochenen fragmentarischen Chrakters seiner Schriften nicht mehr so
einfach festgestellt werden. Bemerkenswert erscheinen Textstellen aus dem
“Gottesstaat”, die eine Interpretation zulassen, dass ein Krieg teilweise auf
beiden Seiten gerecht sein kann.[160] Man muss bei ihrer Wertung berücksichtigen,
dass Augustinus seinem Werk ein subjektivistisches Gerechtigkeitsverständnis
zugrundelegt, das sich u.a. u.a. auf die Überzeugung des Kämpfenden bezieht.[161]
*
Zur rechten Absicht (intentio recta): Bereits oben ist ausführlich vom
gesinnungsethischen Ansatz gesprochen, der den augustinischen Abhandlungen zu
Krieg und Frieden zugrundeliegt. Ergänzend dazu soll noch ein Nachtrag erfolgen
zur “gebotenen Durchführung” (debitus modus), der den Schutz Unschuldiger
enthält: Es ist zu beobachten, dass in der Sekundärliteratur Augustinus oft in
einem für den Kirchenvater selbst sehr vorteilhaften Licht interpretiert wird -
bis hin zur Verzerrung seiner Philosophie von Krieg und Frieden. Dies hat ohne
Zweifel damit zu tun, dass die meisten Forscher zum Thema religiös motiviert
oder in der Kirche aktiv - da bleibt wenig Raum selbst für berechtigte Kritik.
Entsprechend glauben viele Autoren aus augustinischen Bemerkungen “ius in
bello”-Regelungen zur Schonung unschuldiger Zivilisten ableiten. Augustinus
bindet z.B. Gewaltanwendung an die Feindesliebe; für Gillner “kann dies nur
heißen”, dass nur bestimmte Mittel der Kriegsführung angewendet werden dürfen,
andere besonders grausame aber verboten sind.[162] Auch Geerlings leitet aus Augustinus’
Aufforderung zur Friedfertigkeit im Kriege ab, dass ihm Einschränkungen der
Mittel der Kriegsführung im Sinne des “ius in bello” ein Anliegen gewesen sein
soll.[163]
Sowohl Gillner, als auch Geerlings vergessen dabei meiner Ansicht nach
beide, dass Augustinus in all seinen Äußerungen zum “gerechten Krieg” die
innere Gesinnung und die äußere Handlung - wie oben besprochen - sehr stark
auseinanderdividiert und eher eine Position zu vertreten scheint, dass die gute
Gesinnung - z.B. die Feindesliebe oder die Friedfertigkeit - es ist, worauf es
im Endeffekt ankommt; die schlechte Handlung wird durch sie in gewisser Weise
geheiligt bzw. die tatsächliche Handlung zählt überhaupt nicht angesichts der
guten Gesinnung. Augustinus schreibt meines Wissens nirgends explizit, dass die Handlungen gegenüber
der “anderen Seite” gemäßigt werden müssen (d.h. der Krieg “gehegt” werden
soll)[164], damit die gute Gesinnung zum Ausdruck
gebracht wird - Vitoria sollte später diesen Schritt machen. Es ist ein Unterschied,
ob man eine Meinung vertritt wie: “Du kannst tun, was immer du willst; solange
du deine gute Gesinnung bewahrst, ist jede deiner Handlungen, und sei sie noch
so grausam, gerechtfertigt”, oder ob man sagt: “Um deine gute Gesinnung
glaubhaft zum Ausdruck zu bringen, darfst du gewisse grausame Handlungen v.a.
gegenüber Unschuldigen nicht begehen.” Im ersten Fall ist der Verweis auf die
gute Gesinnung eine Art Orakel, das als “Entschuldungsinstanz” aller grausamen
Handlungen fungiert; im zweiten Fall ist die Handlung Ausdruck der Gesinnung
und für die Beurteilung derselben von zentraler Bedeutung. Augustinus scheint
in meiner Interpretation eher ersterer Meinung zuzuneigen.
Entsprechend fällt das Urteil von Robert Holmes aus:[165] Der “Schutz Unschuldiger” interessiert in
seiner Diagnose Augustinus höchstens unter dem Gesichtspunkt des “gerechten
Grundes”, also v.a. dem Recht, Krieg zu führen (“ius ad bellum”). Bezüglich der
Art und Weise, wie der begonnene Krieg zu führen ist (“ius in bello”)
entwickelt er praktisch keine Überlegungen - ein Defizit seiner Konzeption, um
dessen Ausgleich sich spätere “Gerechte Kriegs”-Theoretiker bemühten.
6.4.9. Das Pendant des “gerechten
Krieges” im Inneren: Religionsverfolgung
Augustinus war kein Freund religiöser Toleranz; Gewaltanwendung im
Inneren der politischen Gemeinschaft hielt er gegenüber “Abweichlern” von der
“wahren” Glaubenslehre für legtim. Er rechtfertigt sie in einem Brief gegenüber
einem Freund, der gegen Gewaltanwendung im religiösen Bereich aufgetreten ist.[166] Er rechtfertigt seine gewaltbefürwortende
Haltung mit allerlei Verweisen auf die Bibel - z.B. auf die durch gewaltsame
Einwirkung verursachte Bekehrung des Paulus oder mit Stellen aus dem Alten
Testament, in denen die angeblich heilsame Wirkung der göttlichen, väterlichen
oder sonstwie obrigkeitlichen Züchtigung in irgendeiner Form gepriesen.
Dazu seien nach den Angaben des Kirchenvaters die gewaltsam Bekehrten
nachher oft voller Dankbarkeit gegenüber denen, die ihr Seelenheil gerettet
haben. Die Erkenntnis John Stuart Mills, dass erzwungener Glaube nichts wert
ist, findet man bei Augustinus selbstredend nicht. Den historischen Wandel von
der verfolgten Gemeinde der frühen Christen zur machtpolitisch triumphierenden
Amtskirche findet man bei Augustinus deutlich gemacht. Er befürwortet
Religionsverfolgungen, die von der Kirche ausgehen, wenngleich er die an
Christen begangenen Verfolgungen nach wie vor verwirft. Der Unterschied liegt
seiner Ansicht nach einerseits darin, dass die christliche Religion im
Gegensatz zu anderen wahr sei - wenn Christen verfolgen, sei dies daher
gerecht; wenn Christen verfolgt werden, sei dies ungerecht.
Und auch der Absicht hinter der religiösen Verfolgung im Namen des
Christentums stellt er ein gutes Zeugnis aus; denn man “verleiht gute Zucht,
nicht aus schadenfrohem Hasse, sondern aus heilender Liebe”. Gewalt ist für
Augustinus also in sich kein Übel, sondern wird gut oder böse je nach ihrer
Zielbestimmung. Aus heutiger Perspektive kann man sichnur schwer des Eindruckes
erwehren, dass dieses feurige Plädoyer für religiöse “Zwangsbeglückungen” aller
Art die Worte eines intoleranten Fanatikers sind, der nicht vor
Gewaltanwendungen zurückschreckt, um anderen seine zweifelhaften Konzepte
aufzuokroyieren - ein Eindruck, der als schwere Hypothek auf seiner sogenannten
“Friedenslehre” lastet.
6.5. Der Klassiker des “gerechten Krieges”: Thomas von Aquin
6.5.1. Die klassische Trias
Bereits oben wurde erwähnt, dass man die klassische Trias der Kriterien
des “gerechten Krieges” bereits bei Augustinus implizit vorgebildet finden
kann; bei Thomas, der sich in seinem Werk stark auf besagten Kirchenvater
bezieht, ist diese bereits explizit genannt und ausformuliert:
Eine zentrale Textstelle über den “gerechten Krieg” findet man im zweiten
Teil des zweiten Teils (“Secunda Secundae”) seines Hauptwerkes, der Summe der
Theologie, nämlich die 40.Untersuchung. Damit ein Krieg gerecht ist, meint
Thomas dort, müssen drei Kriterien erfüllt sein: Legitime Autorität, Gerechter
Grund und Rechte Absicht.
6.5.1.1. Legitime Autorität
In der Summe heißt es über die legitime Autorität u.a.:
“Da (...) die Sorge für die öffentliche Ordnung den Fürsten anvertraut
ist, ist es auch ihre Sache, die öffentliche Ordnung der ihnen unterstehenden Stadt
oder des Königreiches oder einer Provinz zu schützen.”[167]
Es werden zahlreiche Gründe angeführt, warum es dem Privatmann nicht
zusteht, Kriege zu führen. Zunächst einmal kann er sein Recht vor regulären
Gerichten ausfechten und muss nicht zur Gewalt greifen; im internationalen Raum
ist dies wohl ein bisschen schwieriger.
“Es fällt nämlich nicht in den Bereich einer Privatperson, einen Krieg in
Bewegung zu setzen; denn sie kann ihr Recht beim Gericht der Obrigkeit
verfolgen.”[168]
Dazu kommt, dass Thomas der Obrigkeit eher zutraut, bei ihrer Anwendung
von Gewalt das Wohl der Gesamtheit im Auge zu behalten; die Privatperson
hingegen v.a. ihr Eigeninteresse verfolgt.[169]
“Zum Nutzen der Gemeinschaft etwas zu tun, was keinem schadet, ist jeder
Privatperson erlaubt. Wenn es aber mit dem Schaden eines Dritten verbunden ist,
so darf es nur geschehen auf Grund des Urteils dessen, dem es zusteht, zu
entscheiden, ob etwas den Teilen zum Heile des Ganzen zu entziehen ist.”[170]
Man könnte dem Argument natürlich entgegenhalten, dass es die Moralität
und Selbstlosigkeit der Obrigkeit gemeinhin überschätzt. Die Zielrichtung des
thomasischen Anliegens war in der damaligen Zeit aber eine sehr
fortschrittliche - es ging um den Kampf der Kirche und der weltlichen
Zentralgewalt gegen das Fehdewesen. Solange dieses in Mitteleuropa tobte, gab
es keine Rechtssicherheit, sondern einen “Krieg aller gegen alle” im Sinne
eines Faustrechts. In seinem politischen Werk “Über die Herrschaft der Fürsten”
beklagt Thomas einen solchen Zustand:
“Die Provinzen oder Städte, die nicht von einem regiert werden, leiden an
inneren Zwistigkeiten. Fern davon, in Frieden zu leben, sind sie in beständiger
Unruhe...”[171]
Zusätzlich zu diesen sachlichen Argumenten werden auch salbungsvolle
Bibelzitat zur Rechtfertigung der “legitimen Autorität” herangezogen (z.B.
Röm.13,4: “(Die Obrigkeit) trägt nicht umsonst das Schwert; sie ist Gottes
Gehilfe, Gerichtsvolstrecker für den, der Böses tut”). Die Auslegung und
ausführliche Besprechung dieser und ähnlicher Textstellen soll uns hier nicht
weiter bekümmern. Folgendes wird aber deutlich: Für Thomas wird politische
Herrschaft und auch ihre Ausübung in Form eines Krieges in letzter Instanz
durch Gott legitimiert.
Entsprechend gibt es für ihn auch eine einzige Instanz auf Erden, die
allen anderen übergeordnet ist und moralisch verbindliche Entscheidungen
bezüglich Krieg und Frieden zu treffen befugt ist: den Papst, der als
Stellvertreter Gottes auf Erden als eine Art “Weltfriedensherrscher”[172] agiert. Die geistliche Gewalt ist für
Thomas auch der weltlichen übergeordnet (ganz im Sinne der mittelalterlichen
Zwei-Schwerter-Lehre, welche die Bedeutung des geistlichen “Schwertes”
gegenüber dem weltlichen besonders stark betont). Geistliche und weltliche
Gewalt stehen für Thomas in einem Verhältnis wie die (herrschende) Seele und
der (dienende) Leib.[173]
Aus verschiedensten Gründen greift die geistliche Gewalt aber nicht
selbst zu den Waffen - v.a. Vorstellungen von einer gewissen kultischen
Reinheit spielen hier eine Rolle.[174] Ein Kleriker sollte sich - so die
mittelalterliche Vorstellung - nicht durch Ausübung des Tötungshandwerkes mit
Blut beflecken, ebenso wie er zur Ausübung eines kirchlichen Amtes untauglich
wurde, wenn er von bestimmten Krankheiten (wie etwa Aussatz) befallen war. Die
Kirche darf also z.B. einen weltlichen Fürsten zu einem gerechten Krieg
beauftragen; sie darf auch über Recht- oder Unrechtmäßigkeit eines zwischen
Fürsten geführten Krieges entscheiden oder in internationalen Konflikten als
verbindlicher Schiedsrichter auftreten. Die tatsächliche Ausführung des Krieges
wird der weltlichen Gewalt überlassen. Die fürstliche Gewalt bleibt aber an das
höchstrichterliche Urteil des Papstes gebunden. Die Kompetenz des Papstes ist
in der thomasischen Vorstellungswelt nicht nur auf die Christenheit beschränkt,
sondern global wirksam.[175]
Da es bei Thomas entsprechend eine einzige moralische Autorität gibt, die
als letzte Instanz über Krieg und Frieden entscheiden darf, stellten sich für
ihn viele Probleme nicht, die später neuzeitliche Gerechte-Kriegs-Theoretiker
beschäftigten. Seine Nachfolger sahen sich nach dem Aufstieg der souveränen
Nationalstaaten mit dem Faktum einer Vielzahl von politischen Akteuren
konfrontiert, die miteinander rivalisierten und die jeweils keine Macht über
der ihren anzuerkennen bereit waren; dazu kam die Entdeckung nicht-christlicher
Völkerschaften in der Neuen Welt, die von einem Papst nichts wussten. Es
stellte sich dann die als dringlich empfundene Frage: Kann ein Krieg auf beiden
Seiten gerecht sein? Für Thomas war das kein Thema. Solange es eine über allen
anderen Akteuren stehende höchstrichterliche Instanz gab, stellte sich das
Problem des “bellum iustum ex utraque parte” nicht.[176]
So wie der Papst an der Autorität Gottes und der Fürst an der Autorität
des Papstes partizipiert, so partizipiert der Soldat an der Autorität des
Fürsten. Er führt Krieg auf dessen Befehl (mandatum) hin.[177] Entsprechend trägt auch der Fürst die
grundsätzliche Verantwortung für die im Krieg begangenen Taten. Thomas
vergleicht den Befehlsempfänger - in anderem Zusammenhang - mit einem
willenlosen und zu keiner Einsicht fähigen Werkzeug: “Da der Diener quasi das
Werkzeug des Herrn ist, ist die Tätigkeit des Dieners die des Herrn, so wie die
Tätigkeit eines Werkzeugs die des Handwerkers ist.”[178] Ein solcher Ansatz ist aus heutiger Sicht
unzureichend; ein Soldat muss auch als sittlich urteilendes Subjekt
wahrgenommen werden.
Doch es erfolgt eine Einschränkung: Einzig “offensichtliches Unrecht”
darf auch im Rahmen soldatischen Gehorsams nicht ausgeübt werden. Die
Modernität dieser Einschränkung darf aber nicht überschätzt werden. Es ging
Thomas mit ihr weniger darum, die moralische Autonomie des Soldaten zu betonen,
sondern eher darum, die Macht der Kirche im politischen Bereich zu stärken.
Denn das “offensichtliche Unrecht”, das Thomas im Auge hat, besteht doch
hauptsächlich in einem Kampf gegen die Kirche bzw. für einen als gebannt
erklärten Fürsten.[179] Die Situation, im Sinne der Kirche und
gleichzeitig nicht für die
Gerechtigkeit zu kämpfen, kann nach Thomas nicht entstehen - es ist für ihn im
Rahmen seines geistigen Horizontes als scholastischer Gelehrter schlichtweg denkunmöglich - für die heutige Zeit,
der der starke christlich-religiöse Lebens- und Weltbezug des Mittelalters
fehlt, ist dies alles nur schwer nachzuvollziehen.
Es bleibt noch hervorzuheben, dass Thomas damals bei Hinweis auf die
“legitime Autorität” - wie gerade besprochen - eben z.B. die Kirche oder einen
Fürsten im Sinne hat und nicht wie in manchen Arbeiten der Sekundärliteratur
vorausgesetzt einen “Staat”. Staaten im modernen Sinne mit ihrem Gewaltmonopol
nach außen und innen, ihren effizienten Bürokratien etc. existierten in den auf
persönlichen Treuebeziehungen beruhenden mittelalterlichen Reichen noch nicht.
In gewisser Weise erleben wir im heutigen 21.Jahrhundert einen Rückfall
in die mittelalterliche Situation, weil, wie in Kapitel 1 besprochen, den Staaten
ihr Gewaltmonopol mehr und mehr entgleitet. Das gegenwärtige Wiederaufleben der
aus dem Mittelalterlichen Theorie des “gerechten Krieges” ist - von dieser
Perspektive betrachtet - nur folgerichtig.
6.5.1.2. Rechte Absicht
“Auch diejenigen, welche gerechte Kriege führen, haben den Frieden im
Sinn.”[180]
“(Es) ist erforderlich, dass die Absicht der Kriegführenden rechtschaffen
ist: in ihr soll nämlich erstrebt werden, dass Gutes gefördert oder Übles
verhütet wird.”[181]
Aus diesen beiden Zitaten erkennt man die Art der geforderten “intentio
recta”: Durch den Krieg ist prinzipiell der Frieden sowie die Förderung des
Guten (Vermeidung des Üblen) zu intendieren. Eine entsprechende Gesinnung ist
unbedingte Voraussetzung für die Gerechtigkeit eines Krieges.
Man kann davon ausgehen, dass Thomas diese “rechte Absicht” in erster
Linie vom befehlshabenden Fürsten fordert, nicht unbedingt von jedem einzelnen
Soldaten. In der Summe heißt es nämlich u.a., dass Soldaten, “welche einen
gerechten Krieg führen, bei der Wegnahme der Beute durch Begierde sündigen,
wenn sie nämlich nicht der Gerechtigkeit wegen, sondern hauptsächlich der Beute
wegen kämpfen.”[182] In dieser Passage wird betont, dass es
wichtig ist, dass auch die Soldaten eine gute Gesinnung besitzen. Es wird aber
gleichzeitig vorausgesetzt, dass es der Gerechtigkeit des Krieges keinen
Abbbruch tut, wenn sie diese nicht aufweisen.
Die in der thomasischen Kriegs- und Friedenslehre vom Fürsten
idealerweise einzunehmende Gesinnung ist nach Gerhard Beestermöller das “Erfülltsein
vom zornigen Eifer für die Gerechtigkeit und das Freisein von Hass und Rache”.[183]
6.5.1.3. Gerechter Grund
Eine legitime Autorität, die in rechter Absicht einen Krieg befiehlt -
diese beiden Voraussetzungen sind allein noch nicht für das Vorliegen eines
“gerechten Krieges” hinreichend. Vielmehr muss es auch so etwas wie einen
“objektiven” (d.h. vom Kriegführenden unabhängigen) “gerechten Grund” dafür
geben. Programmatisch steht dafür folgende Aussage:
“Es müssen nämlich diejenigen, die mit Krieg überzogen werden, dies einer
Schuld wegen verdienen.”[184]
Krieg darf nicht bloß aufgrund von möglichem Gebietsgewinn, Beute oder
Ruhm unternommen werden, sondern er dient u.a. zur Bestrafung einer moralischen
Schuld, die durch die Verletzung von bestimmten Rechten entsteht und durch sie
den bestehenden Frieden stört. Diese moralische Schuld wird von Thomas
christlich interpretiert als sündhaftes Verhalten. Die Bestrafung der Übeltäter
erfolgt u.a. zu Zwecken ihrer (soweit möglich) Besserung, zur Abschreckung
anderer und zur (soweit möglich) Wiederherstellung der ursprünglichen gerechten
Ordnung.[185]
Aus thomasischer Perspektive kann man also den Zweck des Krieges u.a.
bestimmen als eine “strafende Erziehung zur Tugendhaftigkeit”[186], und somit - in Stellvertretung Gottes -
als “Akt der Heilsfürsorge”[187] durch die politische Obrigkeit. Durch sein
energisches Vorgehen gegen die Sünde dient der “gerechte Krieg” auch der
Verteidigung der “Ehre Gottes”[188], der ja bekanntlich durch die Sünde
beleidigt wird, sowie der Vollstreckung seines - diese blumige Umschreibung aus
der Sekundärliteratur fand ich persönlich besonders ansprechend - “liebenden
Zorngerichtes”.[189]
Wie stark der religiöse Bezug der thomasischen Kriegslehre ist, zeigt
sich auch daran, dass exemplarisch in der Summa ausgearbeitete “gerechte
Gründe” zum Krieg letztlich religiös motivierte sind. Im folgenden soll Thomas’
Stellung zu den Themen Unglaube, Häresie und Schisma kurz beleuchtet werden.
*
Unglaube
Glaube ist für Thomas “Sache des freien Willens”.[190] Entsprechend lehnt er es grundsätzlich ab,
andere, die den christlichen Glauben niemals angenommen haben, mit Gewalt dazu
zu zwingen. Das Vorliegen einer anderen Weltanschauung allein ist also für ihn
kein gerechter Kriegsgrund. Allerdings dürfen die Nicht-Gläubigen die
Verbreitung des Glaubens in keinster Weise behindern, sonst darf ihnen mit
Gewalt begegnet werden:
“Doch müssen sie von den Gläubigen, wenn die Möglichkeit besteht,
genötigt werden, dem Glauben nichts in den Weg zu legen, sei es durch Lästerungen
oder bösartiges Zureden oder gar durch offene Verfolgungen. Und aus diesem
Grunde führen die Christgläubigen häufig Krieg gegen die Ungläubigen...”[191]
Herrschaft der Ungläubigen über Gläubige sieht Thomas zwiespältig.
Einerseits sind für ihn der Akt des Herrschens und der des Glaubens zwei
voneinander getrennte Dinge, sodass der Sache nach zunächst nichts dagegen
sprechen würde. Andererseits wirken Machthaber oftmals auch in religiösen
Belangen als Vorbilder und bieten Untertanen, die ihren Glauben annehmen, auch
nicht zu unterschätzende Vorteile. Insoferne stellt die Herrschaft Ungläubiger
über Gläubige tatsächlich eine gewisse Gefahr für den “wahren Glauben” dar.
Letztendlich unterscheidet Thomas zwischen von altersher bestehenden
Herrschaften Ungläubiger über Gläubige und neuerrichteten. Die alten soll man
respektieren, umso mehr, wenn kaum eine realistische Chance besteht, sie zu
ändern. Die Neuerrichtung solcher Systeme lehnt Thomas aber grundsätzlich ab.
Ihnen ist in einem “gerechten Krieg” zu begegnen. Mit dieser Argumentation
liefert er auch eine Rechtfertigung für die Kreuzzüge, von denen drei zu seinen
Lebzeiten stattfanden.[192]
Während der jüdische Kult nach Thomas quasi als “Vorform” des
christlichen Glaubens zu tolerieren ist, ist heidnische Kultausübung immer zu
ahnden, außer es besteht gar keine Aussicht auf Erfolg. Diese Ansicht ergibt
sich aus der thomasischen Glaubensgewissheit um die absolute Wahrheit der
christlichen Religion und die Verfehltheit und Unwahrheit anderer Religionen.
Ihre Duldung gibt “keinerlei Wahrheit oder Nutzen an die Hand”[193], sondern ist durch öffentliches
Zurschaustellen der Unwahrheit sogar gotteslästerlich. Eine gerechte Ordnung,
davon ist Thomas überzeugt, muss den Kult der Heiden verbieten. Für Freiheit
der Religions- und Kultausübung, heute ein elementares Menschenrecht, gibt es
in seinem Weltbild keinen Platz.[194]
*
Häresie
Häresie ist Abweichung vom wahren Glauben, den man einmal angenommen hat.
Vor Thomas’ Augen stand damals ohne Zweifel die kirchliche Erneuerungsbewegung
der “Ketzer”, die von einer zunehmend verweltlichten und machtpolitisch
agierenden Kirche eine Rückbesinnung auf elementare christliche Tugenden wie
Armut, Bescheidenheit etc. verlangten und es als Vorläufer der
Reformationsbewegung eigentlich nicht verdienten, dass ihr Name späteren Zeiten
als Schimpfwort galt.
Thomas zögert nicht, die Schlechtigkeit der Häresie zu betonen und
fordert härteste Strafen gegen sie. Er bezeichnet sie als Laster mit
Ansteckungsgefahr und Gotteslästerung und hält in einem Sentenzenkommentar
Einkerkerungen, Vertreibungen und Todesstrafe für angemessene Mittel, um sie zu
bekämpfen.[195] In der Summa, seinem Hauptwerk, heißt es
nicht weniger deutlich dazu:
“Auf Seiten jener (der Häretiker, P.H.) liegt nämlich eine Sünde vor, durch
welche sie nicht bloß verdient haben, von der Kirche durch Ausschluss aus der
Gemeinschaft abgesondert zu werden, sondern auch durch den Tod aus der Welt
ausgeschlossen zu werden. Denn es ist schwerwiegender, den Glauben zu
verderben, durch den es für die Seele das Leben gibt, als das Geld zu fälschen,
durch welches das zeitliche Leben sein Auskommen findet.”[196]
Diese Strenge wird durch manche Bestimmungen ein wenig gemildert, z.B.
dadurch, dass die gewaltsame Bekämpfung der Häretiker erst als “ultima ratio”,
also nach wiederholten Ermahnungen und Bekehrungsversuchen, erfolgen darf. Wer
als Häretiker zum “wahren Glauben” zurückkehrt, dem wird die Strafe erlassen -
allerdings nur einmal. Bei wiederholtem Auftreten von Abfall und Rückkehr muss
der dergestalt Wankelmütige, obwohl man ihm verzeiht, zum Schutz der anderen
Gläubigen getötet werden.[197]
Eine Begründung für die Verwerflichkeit der Häresie findet Thomas in der
Verletzung des vom Gläubigen eingegangenen Taufversprechens, also in einer Art
Vertragsverletzung gegenüber Gott, die es zu ahnden gilt. Hinter diesem
Gedanken steht ein Begriff vom Verhältnis zwischen Mensch und Gott, der wohl in
Anlehnung an die mittelalterliche Gesellschaftsordnung des Lehneswesens
entwickelt wurde: Es war zur Aufrechterhaltung dieser Ordnung unabdingbar, dass
eingegangene Treueversprechen eingehalten wurden. Eine solche Ordnung wird auch
im Kosmos vorausgesetzt.[198]
*
Schisma
Die Sünde des Schisma ist als Abspaltung von der Kirche ein Angriff auf
die “Einheit der Kirche”. Ihr muss nach Thomas, wenn keine anderen Maßnahmen
wirken, mit Gewalt begegnet werden. Im Auge hat er natürlich die Ostkirche, die
damals (seit 1054) exkommuniziert war. Nach Thomas sündigt sie u.a. durch ihre
Weigerung, den Papst als das rechtmäßige Oberhaupt der Kirche anzuerkennen.
Gegen die Abtrünnigen darf ein “gerechter Krieg” geführt werden, wie es in
manchen der Kreuzzüge ja auch geschah.[199]
6.5.2. Andere “ius ad
bellum”-Kriterien
Im thomasischen Werk findet man - oft weniger explizit ausgeführt als
keimhaft vorweggenommen - weitere
Kriterien des “gerechte Krieges”, die von nachfolgenden Generationen (besonders
von den spanischen Spätscholastikern) genauer ausgearbeitet wurden.
Exemplarisch seien die Anwendung von Gewalt als “ultima ratio” und die begründete
“Aussicht auf Erfolg”.
6.5.2.1. Letztes Mittel
Gewalt darf nach Thomas nur als “letztes Mittel” verwendet werden - dann
also, wenn alle anderen Mittel versagen. Dies geht implizit aus einigen Zitaten
der Summa hervor. Z.B. schreibt er in Bezug auf die Notwendigkeit
obrigkeitlicher Zwangsmaßnahmen:
“Es gibt jedoch widerspenstige und zum Laster geneigte Menschen, die sich nur schwer durch Worte bewegen
lassen; diese müssen durch Zwang und Furcht vom Bösen abgehalten werden.”[200]
Aus der obigen kursiv gesetzten Bemerkung geht, so kann man
interpretieren hervor, dass der Konfliktlösung durch Worte der Vorzug zu geben
ist. Ferner wird in einer anderen Abhandlung ausführlich das Alte Testament
(Dt.20,10) zitiert, wo angeordnet wird, dass das Volk Gottes einer Stadt den
Frieden anbieten muss, bevor es zum Kampf gegen diese schreitet.[201] Die geistliche Gewalt ist ferner
ausdrücklich zur zweimaligen Ermahnung genötigt, ehe sie zum “gerechten Krieg”
schreiten darf.[202]
6.5.2.2. Chance auf Erfolg
Dass eine Handlung für Thomas nur moralisch vertretbar ist, wenn sie
Realitätsbezug besitzt, kann aus allgemeinen Aussagen aus seinem Werk
abgeleitet und sinngemäß auf den “gerechten Krieg” übertragen werden.[203] Auch aus Zitaten der Summa zu speziellen
Themen kann man schließen, dass das Kriterium der “ultima ratio” bei Thomas
keimhaft vorweggenommen wurde. So ist Zorn - wie weiter oben besprochen die
wünschenswerte Gemütsverfassung des einen “gerechten Krieg” führenden Fürsten -
nur dann allgemein sinnvoll, wenn Vergeltung realistischerweise möglich ist.
Ist sie das nicht, wird Trauer zu einem angemessenen Gefühl und der Zorn
verliert seine Berechtigung.[204]
6.5.3. Zum “ius in bello”
6.5.3.1. Verbot der Lüge im Dienste
eines Hinterhaltes
Thomas untersucht in der 40.Abhandlung der Summa u.a., ob es erlaubt ist,
einen Hinterhalt zu legen - und damit in gewisser Weise zu lügen. Er gibt
darauf eine differenzierte Antwort: Während Lüge immer unerlaubt ist, weil sie
nicht nur mit christlichen Geboten sondern auch mit der “Goldenen Regel” (Was
du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu) unvereinbar,
ist es aber erlaubt, die Wahrheit “klug zu verbergen”[205] - will heißen: man darf zwar nicht lügen,
braucht aber auch nicht alles zu sagen. Auch im Zuge eines “gerechten Krieges”
darf also nach Thomas in diesem Sinne nach den Regeln der militärischen Kunst
gekämpft werden; nicht jede militärische Operation eines “gerechten Krieges”,
so Thomas, muss daher offen und vorhersehbar sein.
Zu diesen an sich vertretbaren Anschauungen muss im Sinne eines
historischen Rückblickes auch bemerkt werden, dass die thomasischen
Ausführungen zu diesem Punkt nicht gänzlich abstrakt und ahistorisch im Sinne
der Rechtfertigung der päpstlichen Politik des 13.Jahrhunderts gesehen werden
müssen[206], die sich nicht nur auf religiöse Fragen,
sondern auch auf “Weltliches” konzentrierte. Die damalige Zeit war von einem
machtpolitischen Konflikt zwischen Papst- und Kaisertum geprägt, wobei es neben
territorialen Aspekten um die Vorherrschaft im abendländischen Kulturkreis
ging.
Der Konflikt wurde besonders dadurch verschärft, dass mit Kaiser
Friedrich II. aus dem Hause der Staufer eine selbstbewusste, geniale und
freidenkende Persönlichkeit den Kaiserthron innehatte (Jakob Burckhardt nannte
ihn den “ersten modernen Menschen auf dem Throne”, Friedrich Nietzsche “jenen ersten Europäer nach meinem Geschmack”).[207] Er vertrat ein für seine Zeit sehr
fortschrittliches Weltbild, das die Kurie aus religiösen und
kulturkonservativen Gründen massiv bekämpfte. Die Leistungen Friedrichs II.
liegen im politischen Bereich der Neuordnung seines Stammkönigreiches Sizilien,
das er durch seine Gesetzgebung und Verwaltung zu einem ersten Staat im
modernen Sinn machte; er förderte zudem die Dichtkunst und Forschung und
schrieb mit seinem sogenannten “Falkenbuch” auch selbst ein wissenschaftliches
Meisterwerk, in dem er - für das Mittelalter revolutionär - empirische Methoden
einführte erste systematischen Verhaltensbeobachtungen bei Tieren durchführte[208]; dazu kam eine mutige Beschäftigung mit
philosophischen Fragen, die ihm bald den Ruf der Gotteslästerung einbrachten.
Er beherrschte mehrere Sprachen, darunter das Arabische, und hatte den in
Italien lebenden Sarazenen Religionsfreiheit gewährt[209], was der Papst als Ärgernis gegen den
einzig wahren Glauben empfand. Nach Friedrichs II. Tod im Jahre 1250 gab der
Papst den Befehl, seine gesamte Familie auszulöschen[210] - ein vom Franzosen Karl von Anjou
letztlich ausgeführtes Unternehmen, das sich durch besondere Grausamkeit
auszeichnete. Nach dem Sieg über Friedrichs Sohn Manfred, dessen kleinen Kinder
er jahrzehntelang im Kerker des von ihrem Großvater erbauten Castel del Monte
angekettet und verwahrlost aufwachsen ließ[211], schlug er auch den Kaisererben Konradin,
der nach seiner Gefangennahme 1268 hingerichtet wurde. Den Sieg über Konradin
verdankte Karl von Anjou einem Hinterhalt, der dem damaligen Ritterethos
widersprach. Die Summa argumentiert durch ihre Rechtfertigung des gerechten Krieg
gegen Abtrünnige (“Apostaten”) wie Friedrich II. und ihre gewisse Toleranz
gegenüber Hinterhalten im Krieg im Sinne der damaligen päpstlichen Politik und
ihrer Perspektive.[212]
6.5.3.2. Verbot der Tötung
Unschuldiger
Als außerordentlich positiv an der thomasischen Kriegslehre ist zu
werten, dass sie die Kollektivbestrafung grundsätzlich ablehnt.[213] Es ist eine jener wenigen Punkte, in denen
Thomas deutliche Kritik am Vorgehen mancher Kirchenoberen seiner Zeit übt. Die
Ketzerverfolgung etwa in Südfrankreich war teilweise schon in einen
Vernichtungskrieg ausgeartet; so wurde manchmal über ganze abgefallene Städte
die Todesstrafe verhängt - ihre Einwohner wurden allesamt umgebracht, ohne dass
ihre individuelle Schuld untersuchte wurde. Gerechtfertigt wurden solche
Maßnahmen über die abschreckende Wirkung einerseits sowie über die Tatsache,
dass Gott im Jenseits gut zu unterscheiden wüßte, ob jemand schuldig sei oder
nicht - die unschuldig Getöteten würden von ihm ohne Zweifel belohnt werden.
Thomas stellt sich gegen diese Argumentation. Wenn Unschuldige und
Schuldige gleichsam bestraft würden, könnte kein Tugendhafter auf der Welt mehr
sicher sein. Die Strafen würden eben dadurch ihre abschreckende Wirkung
verlieren, wenn es bezüglich ihrer Verhängung sowieso egal ist, ob jemand
schuldig ist oder nicht.[214] Außerdem weigerte er sich, eine ketzerische
Stadt gänzlich aufgeben zu wollen und tritt dafür ein, ihr die Chance auf einen
Neuanfang einzuräumen. Zudem erkennt auch er gewisse tiefere Ursachen in den
religiösen Reformbewegungen seiner Zeit, die auch in Missständen in der Kirche
begründet lagen. Er fordert entsprechend auch innerkirchliche Reformen und
lehnt, obwohl er gewaltsames Vorgehen gegen die Ketzer prinzipiell billigt,
eine alleinige Anwendung dieses Mittels ab.[215] Zuletzt äußert er noch ein religiöses
Argument: Manche Kirchenfürsten, die den Befehl zur Auslöschung ganzer Städte
gaben, beriefen sich zur Rechtfertigung ihrer Anordnungen auf die Auslöschung
Sodoms durch Gott, dessen Vorbild sie nacheifern wollten. Aber mit Verhängung
eines solchen Strafgerichtes, so Thomas, würden sie sich frevelhafterweise
anmaßen, was Gott allein zusteht.[216]
6.5.3.3. Proportionalität
Das Prinzip der Proportionalität, das besagt, dass der durch einen Krieg verursachte
Schaden in einem vertretbaren Verhältnis zum durch ihn erreichten Gut stehen
muss, wurde explizit erst von den spanischen Spätscholastikern formuliert,
daher soll von ihm auch erst im nächsten Abschnitt über Francisco de Vitoria
die Rede sein. Es ist bei Thomas aber insoferne - ohne Verwendung der später
üblichen Fachtermini - vorweggenommen, weil die Proportionalität für ihn
allgemein eine wichtige sittliche Forderung darstellt und er darüberhinaus an
vielen Stellen impliziert und als selbstverständlich voraussetzt, dass man
dieser Forderung auch im Kriege genügen muss.[217]
6.5.3.4. Zwei Effekte
Den “gerechten Krieg” führt die “legitime Autorität” einer öffentliche
Gewalt; der Privatperson ist dergleichen nicht gestattet. Dennoch ist auch nach
Thomas in engem Rahmen Gewaltanwendung gestattet; davon wird im nächsten
Abschnitt die Rede sein. Hier soll aber v.a. die Notwehr hervorgehoben werden,
die Thomas für legitim hält. Er beschäftigt sich dabei mit der Frage, inwiefern
die Gewaltanwendung im Rahmen der Notwehr gerechtfertigt werden kann. Warum
darf man (als Privatperson) normalerweise nicht die Tötung eines Menschen
beabsichtigen, im Rahmen der Notwehr aber schon? Dabei entwickelt er eine Lehre
von “zwei Effekten”, die in diesem Zus interessant ist.
“Es steht nichts im Wege, dass ein und dieselbe Handlung zwei Wirkungen
hat, von denen nur die eine beabsichtigt ist, während die andere außerhalb der
eigenen Absicht liegt. Die sittlichen Handlungen aber empfangen ihre Eigenart
von dem, was beabsichtigt ist, nicht aber von dem, was außerhalb der Absicht
liegt, da es zufällig[218] ist (...) So kann auch aus der Handlung
dessen, der sich selbst verteidigt, eine doppelte Wirkung folgen: die eine ist
die Rettung des eigenen Lebens; die andere ist die Tötung des Angreifers. Eine
solche Handlung hat aufgrund der Absicht, die auf die Rettung des eigenen
Lebens geht, nichts Unerlaubtes; denn das ist jedem Wesen naturhaft, dass es
sich, soweit es nur irgend kann, im Sein erhält.”[219]
Es gibt also eine Handlung - Gewaltanwendung im Rahmen der Notwehr - und
zwei Effekte: 1.) Erhalt des eigenen Lebens und 2.) Tötung des Angreifers. Da
nur der erste Effekt intendiert wird und der zweite nur “per accidens” - also
quasi als unbeabsichtigtes “Anhängsel” stattfindet, ist die Intention eine gute
und damit die Handlung sittlich gestattet. Einzig Übermaß, so stellt Thomas
weiter fest, ist bei der Notwehr zu verwerfen.
Thomas überträgt diesen Gedankengang nicht ausdrücklich in einer Analogie
auf die unbeabsichtigte Tötung Unschuldiger in einem Krieg (im Sinne eines
sogenannten “Kollateralschadens”). Dies liegt wahrscheinlich daran, weil sich
im Rahmen der mittelalterlichen Kriegsführung das Problem nicht im heutigen
Sinne stellte. Damalige Schlachten fanden zwischen Ritterheeren abseits der
Bevölkerungszentren statt und wurden nicht mit Raketen und Bomben ausgetragen,
die ins feindliche Gebiet geschossen wurden und auch durch Fehlleitungen und
unbeabsichtigte Nebeneffekte Unschuldige treffen konnten. Erst mit
Weiterentwicklung der Waffentechnik in der Neuzeit stellten sich ähnlich
Probleme ansatzweise; und Francisco de Vitoria sollte, wahrscheinlich
inspiriert von thomasischen Formulierungen, mit ähnlichen Gedankengängen eine -
allerdings bis heute umstrittene - ethische Lösung anbieten, nämlich die
Doktrin der Doppelwirkung.
6.5.4. Gewaltanwendung außerhalb des
“gerechten Krieges”
Die Notwehr wurde im vorigen Abschnitt besprochen; daneben existiert noch
die Nothilfe als legtime Form “privater” Gewalt außerhalb des “gerechten Krieges”.
Ein Hauptunterschied zwischen Notwehr und Nothilfe ist u.a., dass man auf
Notwehr verzichten darf, auf Nothilfe, die ja Schutz anderer ist, aber nicht,
weil dadurch nicht nur eigene, sondern auch Rechte der anderen tangiert werden.[220]
Ansonsten ist noch die Tötung auf unmittelbaren Befehl Gottes
erwähneswert, die in der Summa als nicht unrealistische Möglichkeit betrachtet.
Den prototypischen Fall entnimmt Thomas dabei aus der Bibel, nämlich die
Geschichte von Abraham und Isaak.
“Als Abraham einwilligte, seinen Sohn zu töten, willigte er nicht in
einen Mord ein; denn laut Befehl Gottes, des Herrn über Leben und Tod, gebührte
ihm der Tod. Gott nämlich ist es, der wegen der Sünde der Stammeltern den Tod
verhängt hat über alle Menschen, gerechte wie ungerechte; wenn nun der Mensch
in göttlicher Vollmacht dieses Urteil vollstreckt, ist er kein Mörder, wie auch
Gott nicht.”[221]
Gott ist für Thomas der Herr über Leben und Tod; es steht ihm zu,
Todesurteile auch gegen Unschuldige zu verhängen und sie von Menschen
vollstrecken zu lassen. Keinem Menschen steht es zu, die Befehle des
vollkommenen Wesens zu hinterfragen. Derjenige, der einen direkten
Tötungsbefehl Gottes erhält, muss ihn unbedingt ausführen, selbst gegen
unschuldige Opfer, denn nur Gott allein weiß, was den Menschen zuträglich ist.[222]
Die Kant’sche Idee menschlicher Selbstbestimmung in Form einer Autonomie
unseres Gewissens[223], das prinzipiell alle an den Menschen
ergangenen Befehle auf ihre Rechtmäßigkeit prüfen muss - selbst die Befehle
eines noch so hochstehenden Wesens - war Thomas in dieser Form noch fremd.
Man sieht an solchen Ansichten, wie sehr das Mittelalter und mit ihm
Thomas von Aquin noch vom direkten Eingreifen überirdischer Mächte in das
Weltgeschehen überzeugt waren. Die Bemerkung, dass sich diese Überzeugungen
allgemein geändert haben, erübrigt sich. Heute würde man einem Menschen, der
aufgrund eines direkten Befehl Gottes töten zu müssen vermeint, wahrscheinlich
auftragen, vor Ausführung seiner blutigen Tat doch zunächst einmal sicherheitshalber
einen Psychiater aufzusuchen.
6.6. Weiterentwicklungen in der Spätscholastik: Francisco de Vitoria
6.6.1. Gegen absoluten Pazifismus
Francisco de Vitoria distanziert sich, wie andere Gerechte-Kriegs-Theoretiker
auch, von Auslegungen des Christentums, die den Gewaltverzicht verabsolutieren,
z.B. kritisiert er Tertullian. Er argumentiert dabei zunächst einmal
theologisch[224] und kann bereits auf eine jahrhundertelange
kirchliche Tradition des “bellum iustum” verweisen. Die oben erwähnte
augustinische Bibelinterpretation übernimmt er weitgehend (z.B. folgt er dessen
Auslegung der Worte Johannes des Täufers). Außerdem verweist er auf Stellen in
der Bibel, die der obrigkeitlichen Gewalt den Auftrag des Schutzes Unschuldiger
im Inneren der politischen Gemeinschaft geben (Römer 13,4; Psalm 82,4). In
einer Analogie bezieht Vitoria diesen Auftrag auch auf äußere Angelegenheiten.
Abgesehen von seinen theologischen Begründungen versucht Vitoria v.a. naturrechtlich
zu klären, welche Art der Gewaltanwendung erlaubt ist und welche nicht. Er geht
dabei von der auf Thomas von Aquin zurückgehende Überzeugung aus, dass das
Evangelium nichts untersagt, was naturrechtlich erlaubt ist. Sein damaliger
Rückgriff auf das Naturrecht hat heute den Vorteil, dass man viele seiner
Thesen aus einem rein christlichen Kontext lösen und möglicherweise
universalisieren kann.
6.6.2. Der gerechte Krieg als
Strafrecht
Die Argumentation zur prinzipiellen Legitimierung des gerechten Krieges
lautet bei Vitoria etwa folgendermaßen:[225]
*
Selbstverteidigung ist
naturrechtlich erlaubt (hierbei bezieht er sich u.a. auf ein Verständnis der
römischen Gesetzessammlung der Digesten). Man darf allerdings freiwillig darauf
verzichten; er zweifelt nicht, dass in einer solchen Form von Gewaltlosigkeit
ein möglicher Weg zu Heiligkeit und Vollkommenheit besteht.
*
Nothilfe ist
naturrechtlich nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten. Auf sie darf man nicht verzichten. D.h. man besitzt nach
Vitoria die Pflicht, unschuldigen Menschen in Not beizustehen; tut man dies
nicht, macht man sich an ihrem Leid mitschuldig.
*
Diese beiden Argumente,
die im indiviuellen Leben greifen, haben in einer Analogie ihre Gültigkeit auch
in Bezug auf den Staat bzw. seine Kriegsführung. Ein Verteidigungskrieg (bellum
defensivum) ist z.B. auf staatlicher Ebene - genauso wie die Selbstverteidigung
auf individueller - zulässig.
*
Der Krieg eines Staates
ist nach Vitoria kein Selbstzweck, sondern dient dem Frieden und der Sicherheit
- und zwar nicht nur des eigenen Gemeinwesens, sondern auch der ganzen Welt
(Vitoria mahnt also globale Verantwortung ein!). Ohne Bestrafung von
Übeltätern, die u.a. auch der Abschreckung dient, kann im Verständnis des
Spätscholastikers dieses Ziel nicht erreicht werden. Es ist daher unter
Umständen gestattet, einen offensiven Krieg zu führen (bellum offensivum).
Dieser ist nicht selbst Vollzug der Strafe, sondern dient v.a. der Ergreifung
der Übeltäter. Dem Fürsten kommt ein Strafrecht über die “äußeren” Übeltäter zu
(und zwar wird dieses von Vitoria in Analogie zu seinem Strafrecht im Inneren
behauptet). Diese Ansicht scheint der heutigen Zeit, die Internationale
Strafgerichtshöfe für Kriegsverbrecher gründet, nicht völlig fremd.
Damit ein Krieg als gerecht gelten kann, müssen allerdings gewisse
Bedingungen erfüllt werden. Er erläutert diese Bedingungen in Anlehnung an die
bereits mehrfach erwähnte “klassische” Trias der “Gerechten Kriegs”-Lehre[226] (Legitime Autorität, Gerechter Grund,
Rechte Absicht), die natürlich vom Aquinaten übernommen wurde.
6.6.3. Legitime Autorität
Noch bei Thomas beauftragt der Papst als oberster Weltrichter
insbesonders den Kaiser zur gerechten Kriegsführung; die Fürsten und Könige
partizipieren an diesem Amt und sind insoferne auch zur gerechten Kriegsführung
ermächtigt.[227] Vitoria findet in seiner eigenen
historischen Situation allerdings völlig veränderte Bedingungen vor: Die
Einheit der Kirche hat durch die Reformation zu bestehen aufgehört und die
Entdeckung der Neuen Welt mit ihren nicht-christlichen Völkern hat das Weltbild
seiner Zeit umgestürzt. Er entwickelt entsprechend einen eigenen Ansatz, der
sich in vielem an Thomas anlehnt, aber letztlich moderner als jeder des “doctor
angelicus” erscheint (ohne aber dass er, Vitoria, die geistige Welt des
Mittelalters gänzlich verlässt).
Vitoria legitimiert den Staat naturrechtlich: Der Mensch ist, so meint er
(wohl mit deutlichem Bezug auf Aristoteles) ein Gemeinschaftstier; die
Staatenbildung liegt seiner Natur begründet (die wiederum von Gott geschaffen
ist). Entsprechend ist staatliche Macht in gewisser Weise göttlich legitimiert.
Die gilt nach Vitoria sogar für die nicht-christlichen indianischen Staaten -
ein Element interkultureller Gleichberechtigung in seiner Philosophie!
Dass der Mensch Staaten bildet, ist nicht seine
freie Entscheidung, wohl aber, welche
Staatsform er wählt. Es ist erstaunlich modern, dass Vitoria (allerdings mit
deutlicher Präferenz für die Monarchie) auch die aristokratische und
demokratische Staatsform für zulässig hält. Selbst der monarchisch regierende
Fürst wird bei Vitoria von der Gesamtheit des Volkes eingesetzt und kann
prinzipiell auch abgesetzt werden - revolutionäre Feststellungen zu seiner
Zeit. Entsprechend bleibt jeder Fürst auch dem Gemeinwohl verpflichtet. Er
führt also Krieg im Auftrag des Volkes.[228]
Andererseits versucht Vitoria das Fehlen eines universalen Weltrichters
in seiner historischen Situation der aufstrebenden Nationalstaaten dadurch zu kompensieren,
dass er jeden Fürsten auf die den Frieden zwischen den Gemeinschaften wahrende
Völkerrechtsordnung verpflichtet. Kriegsführung auf Basis der Wiederherstellung
und Verteidigung des Völkerrechts hält Vitoria daher auch für zulässig bzw.
geboten. Jeder Fürst besitzt in Bezug auf Völkerrechtsverletzungen Strafgewalt.
Es wäre wohl wünschenswert, wenn diese Strafgewalt bei einer Weltregierung
läge; in Ermangelung an einer solchen ist - als schlechtere, aber doch einzige
Alternative - jede einzelne Staatsführung in die Pflicht zu nehmen. Im
Interesse des universalen Wohls der Völkergemeinschaft müssen Fürsten also auch
das Amt eines Weltrichters übernehmen.[229]
Zuletzt hält Vitoria eine Beauftragung des Fürsten durch den Papst zur
gerechten Kriegsführung für möglich. Dieses Festhalten an der Beauftragung
durch den Papst trotz Kirchenspaltung und neuentdeckter außereuropäischer Welt
verlässt den Boden des Mittelalters nicht. Er begründet dies als Theologe mit
der universalen Verantwortung der Kirche für das geistliche Heil des
Menschengeschlechts. Wenn der Papst dieses gefährdet sieht, darf er in die
Politik eingreifen.[230] Der Fürst führt Krieg also, wie in diesem
Abschnitt ausgeführt, im dreifachen Auftrag: Im Auftrag des Volkes, der
Völkerrechtsgemeinschaft sowie des Papstes.
Diese drei Legitimierungsmuster des Krieges stehen in Vitorias
Philosophie quasi nebeneinander. Auch dies ist unserer Zeit nicht gänzlich
fremd, kennen wir doch eine ähnliche Situation - der UN-Sicherheitsrat ist eine
ähnliche umfassende und allseits anerkannte Autorität wie im damaligen
Verständnis der Papst, der zu Vitorias Zeiten aber, trotzdem er von vielen
prinzipiell anerkannt wurde, faktisch an Bedeutung verlor. Ähnlich geht es
heute dem UN-Sicherheitsrat, der sein weltweites Gewaltmonopol zu verlieren
droht - es ist eine Zeit des Überganges.
6.6.4. Gerechter Grund
Die allgemeine Regel Vitorias zur Bestimmung des gerechten Grundes ist,
dass Krieg nur aufgrund erlittenen Unrechts geführt werden darf.[231] Krieg z.B. aus “Interesse” oder
“Machtzuwachs” zu führen hält er also z.B. für unzulässig (man beachte in
diesem Zusammenhang den Unterschied zu Realisten wie Machiavelli). Vitoria
begründet dies u.a. damit, dass es nach dem Naturrecht und dem christlichen
Glauben nicht erlaubt sei, Unschuldige zu töten. Da die Bestrafung des
Übeltäters kein Selbstzweck ist, sondern der Herstellung des Gemeinwohles
dient, nennt Vitoria zwei Einschränkungen zur gerechten Kriegsführung:
1.) Die Forderung nach
Verhältnismäßigkeit (oder Proportionalitätsprinzip). Es muss ein
angemessenes Verhältnis zwischen der Schwere des Unrechts und dem durch den
Krieg zu erwartenden Schaden bestehen. Es erfolgt eine fast schon
“utilitaristische” Güterabwägung: Der Einsatz von Gewalt muss das geringere von
zwei Übeln sein. Verhältnismäßigkeit äußert sich zunächst auf dreifache Weise:
*
Nicht jedes beliebige
Unrecht rechtfertigt einen Krieg. Das Unrecht muss eine gewisse Schwere
überschreiten, damit überhaupt der Einsatz von Gewalt, der ja immer ein Übel
ist, gerechtfertigt erscheint.
*
Das Wohl des eigenen
Staates darf nicht massiv unter dem Krieg leiden bzw. zerstört werden (aufgrund
des Mittel-Zweck-Verhältnisses zwischen Krieg und Gemeinwohl). Zu dieser
Forderung passen spätere Gedanken des “Gerechten Kriegs”-Denkers Suárez zur
“Chance auf Erfolg”: Wenn der eigene Staat durch die Kosten eines an sich
“gerechten Krieges” ruiniert würde, ist man von der Pflicht, ihn zu führen,
dispensiert. (Angesichts der hohen politischen Kosten der Humanitären
Intervention, von denen z.B. Münkler spricht[232], könnte man aus diesem Ansatz vielleicht
ein Argument gegen die meisten solcher Einsätze gewinnen.)
*
Das auf den einzelnen
Staat bezogene Argument gilt auch für die Völkerrechtsgemeinschaft als Ganzes:
Auch ihr Gemeinwohl darf durch den Krieg nicht zerstört werden. In diesem Zusammenhang kritisiert Vitoria
die Herrscher seiner Zeit, z.B. Kaiser Karl V., die dem Gemeinwohl der
Christenheit durch ihre Kriegsführung seiner Meinung nach schaden. (Chomskys
modernes Argument, dass durch die ständigen militärischen Interventionen des
Westens eine Bedrohung kleiner Dritte-Welt-Staaten entsteht, die sich als
Reaktion zur - auch atomaren - Aufrüstung genötigt fühlen könnten, was wiederum
in der Gesamtheit negativ auf die globale Ordnung wirkt, geht von einem
ähnlichen Ansatz aus. Der umfassenden ethischen Beurteilung z.B. der
Humanitären Intervention, aber auch des “Krieges gegen den Terrorismus”, muss
auch eine umfassende Analyse nicht nur kriegerischer Einzelfälle, sondern auch
ihrer Wirkung auf die Weltordnung als Ganzes vorausgehen.)
2.) Gewalt als letztes Mittel.
Es ist nach Vitoria unerlaubt, Gründe und Gelegenheiten für den Krieg zu
suchen, vielmehr muss dem Frieden entgegengestrebt werden - wozu Vitoria die
Machthaber auch aufruft (ob sie seinem Aufruf folgen werden ist freilich eine
andere Frage). Die Forderung der “ultima ratio” ist u.a. aus dem Gebot der
Nächstenliebe ableitbar, das in Vitorias Interpretation Kriege nur dann
zulassen kann, wenn es eben kein anderes Mittel gibt. Bevor der Fürst sein
Urteil über den “gerechten Krieg”
fällt, muss er zudem die Gegenseite anhören und versuchen, sie zu verstehen,
d.h. er muss auf ihre Position eingehen. Erst wenn alle Möglichkeiten der
friedlichen Streitbeilegung ausgeschöpft sind, darf Krieg geführt werden. Das
Problem dieses an sich ehrenwerten Kriteriums erscheint mir, dass es schwer
überprüfbar ist - kann man seine Nichterfüllung nicht immer oder doch zumindest
meistens behaupten? Doch von der Anwendung der Gerechten-Kriegs-Theorie in der
Gegenwart soll später ausführlicher die Rede sein.
Es gibt nach Vitorias Meinung unverzichtbare Rechte der Menschen, deren
Verletzung eine Intervention notwendig machen und deren Wiederherstellung als
“gerechter Grund” dienen könnte. In unserem heutigen Verständnis würden wir
noch am ehesten den Menschenrechten eine solche Prioriät einräumen und eine
Humanitäre Intervention legitimieren. Vitoria selbst nennt allerdings andere
naturrechtliche Konzepte als die Menschenrechte, z.B. den freien Zugang zu
allen Ländern, die Freiheit des Handels etc., aber auch das christliche
Missionsrecht, d.h. das Recht, das Christentum in einem Land in freier Rede zu
verkünden (das christliche Missionsrecht würde uns heute als Kriegsgrund wohl
eher fragwürdig erscheinen). Der bloße andere Glaube eines Volkes ist für
Vitoria allerdings noch kein Grund, gegen dasselbige Krieg zu führen.[233] Es sei hervorgehoben, dass sich Vitorias
Philosophie und die heutige Legitimierung der Humanitären Intervention
insoferne strukturell ähnlich sind, weil sie beide davon ausgehen, dass die
Verletzung bestimmter naturrechtlicher Regeln eine militörische Intervention
legitimieren kann; das Verständnis der Art dieser Regeln hat sich über die Zeit
hinweg aber natürlich geändert .
Vitoria, das ist eine positive Seite seiner Lehre, ist sich darüber
bewusst, dass in einer Zeit der einander ohne übergeordnete Autorität
gegenüberstehenden Nationalstaaten zu Schwierigkeiten bei der Bestimmung des
“gerechten Grundes” kommen kann. Aus bösem Willen kann ein Fürst einen
gerechten Grund bloß vorgeben; er kann auch aufgrund eines Irrtums wähnen, die
Gerechtigkeit wäre auf seiner Seite. Das Volk und v.a. seine Gelehrten sind, um
solche Irrtümer zu minimieren, dazu verpflichtet, sich nach Maßgabe ihrer
Einsichtskraft, die vom Bildungsgrad, politischer Informiertheit und wohl auch
sozialer Herkunft abhängt, am Entscheidungsfindungsprozess hinsichtlich Krieg
und Frieden zu beteiligen. Der Fürst wird von Vitoria auch verpflichtet, den
Rat gelehrter Männer einzuholen. Die Forderung nach umfassender Partizipation
erscheint erstaunlich demokratisch und zeitgemäß.
Ein Soldat ist an sein Gewissen gebunden. Wenn ihm dieses gebietet, sich
an einem Krieg nicht zu beteiligen, ist die Nichtteilnahme moralisch bindend
(das gilt auch, wenn er dabei irrt; denn nach Meinung des christlichen Denkers
bindet selbst das irrende Gewissen). Wenn er aber an der Legitimität des
Krieges nur zweifelt (er sich also bloß nicht sicher ist), geht seine Gehorsamspflicht
gegenüber dem Fürsten vor. Zweifel bei den meisten führenden
Entscheidungsträgern bezüglich Krieg und Frieden sollten aber dazu führen, dass
es keinen Krieg gibt; das Risiko zu schaden ist zu groß, wenn man auch in
uneindeutigen Fällen militärisch handelt.[234] Über die Gewissensfrage im “gerechten
Krieg” und auch über Vitorias Meinung dazu findet man in einem späteren Kapitel
genauere Angaben.
6.6.5. Rechte Absicht - zur “Doktrin
der Doppelwirkung”
Besonders gut gelungen erscheint Vitorias Uminterpretation des
Kritieriums der “rechten Absicht”, das schon bei Augustinus eine Rolle spielt.
Während die Forderung nach “rechter Absicht” des Kriegsführenden bei früheren
Autoren rein gesinnungsethisch bleibt und sich damit auch jedweder empirischen
Überprüfbarkeit entzieht, muss der politische Machthaber bei Vitoria seine
“rechte Absicht” auch unter Beweis
stellen. Dies geschieht v.a. durch eine (relativ) menschliche Art der
Kriegsführung. Die Frage, ob jemand eine rechte Absicht hat oder nicht wird bei
Vitoria also zu der Frage, was im gerechten Krieg erlaubt ist und was nicht -
zur Frage also nach der “Hegung” des Krieges durch ein “ius in bello”.[235]
Moralisch verboten ist z.B. der Vernichtungskrieg.[236] Die im engeren Sinne beabsichtigte Tötung Unschuldiger ist auch absolut verboten. Wenn ein Krieg beendet werden könnte, indem man
z.B. der Forderung eines Feindes nachkommt, einen vollkommen unschuldigen
Menschen zu töten, darf man dies nach Vitoria nicht tun![237]
Eine “utilitaristische” Güterabwägung in dem Sinne, dass es das kleine
Übel ist, wenn einer an der Stelle von vielen stirbt, ist in diesem Fall seiner
Ansicht nach unzulässig; dies wird teilweise begründet mit dem Eigenwert jedes
Menschen gegenüber dem Gemeinwohl. Der Mensch ist nur im begrenzten Sinne ein
“Glied” der Gemeinschaft; während der Arm nur in Bezug auf den Körper existiert
und von ihm abgetrennt überhaupt nicht lebensfähig ist, stellt jeder Mensch in
gewisser Weise eine Art kleines Universum dar. Der Einzelmensch existiert zum
Teil auf die Gemeinschaft, zum Teil aber in Hinblick auf sich selbst hin.
Auf diese naturrechtliche Begründung folgt die ebenfalls
“utilitaristisch” klingende Einschätzung, dass sich in einer Welt, in welcher
der Einzelne nicht zählt, kein Unschuldiger sicher sein könnte, nicht einmal
selbst das nächste Opfer zu werden; niemand würde in einer solchen Welt leben
wollen.[238]
Die vorhersehbare, aber - im
engere Sinne - unbeabsichtige Tötung
Unschuldiger wird von Vitoria im Zuge von Kampfhandlungen im Sinne der
berühmt-berüchtigter Doktrin der
Doppelwirkung erlaubt, indem er den Willen des Tötenden differenziert und
die Verantwortung für die vorhersehbaren, aber unbeabsichtigten Schäden unter
extremen Bedingungen zurückweist.[239] In einem späteren Kapitel von Teil III wird
die Doktrin der Doppelwirkung noch ausführlicher thematisiert werden.
Lobenswert erscheint Vitorias Forderung nach Schutz des einfachen
Soldaten der anderen Partei, der aufgrund seiner mangelnden Einsicht glaubt, einen
gerechten Krieg zu führen und dadurch unschuldig ist. Vitoria gesteht also
nicht nur Zivilisten, sondern auch Kämpfenden prinzipiell Schutz zu.[240]
6.6.6. Zwei bedenkliche Konzepte:
“Recht auf Plünderung” und “Ewiger Krieg gegen den Islam”
Die Lehre des Francisco de Vitoria zu Krieg und Frieden mutet in
vielfacher Hinsicht erstaunlich modern an. Er vertritt naturrechtliche
Konzepte, die sich aus einem rein christlichen Kontext lösen lassen und
internationale Solidarität sowie globales Denken einfordern. Beachtlich ist
sein Eintreten für die Rechte der Indianer sowie seine Sensibilität für
Gewissensprobleme des einfachen Soldaten. Eine seiner bleibenden Leistung ist
ohne Zweifel, dass er die mittelalterliche thomasische Lehre vom “gerechten
Krieg” zumindest teilweise modernisiert und an die Erfordernisse der Neuzeit
angepasst hat.
Dennoch gibt es zwei bedenkliche, ja für die heutige Zeit fast
unverständliche Konzepte in seiner Philosophie: das “Recht auf Plünderung” und
den “Ewigen Krieg gegen den Islam”:
*
Recht auf Plünderung. Auch die möglichen Eigentumsschädigungen
der Feinde im Krieg werden bei Vitoria besprochen. Allgemein meint er dabei:
“Denjenigen, die einen gerechten Krieg führen, ist alles erlaubt, was notwendig
ist, um Friede und Sicherheit zu erlangen”. Die Plünderung erachtet er durchaus
als angemessenes Mittel zur Erlangung dieses Zieles: “Dies ist an sich nicht
unerlaubt, wenn es notwendig ist zur Kriegführung oder um die Feinde
abzuschrecken oder zur Stärkung des Mutes der Soldaten.”[241] Gegen diese Position ist mit Recht heftigst
argumentiert worden. Als zu bedenkende Einwände möchte ich folgende anführen:
1.) Ein solcherart zugestandenes “Recht auf Plünderung” wirkt in Vitorias
Philosophie, die sich ansonsten die Einhaltung zahlreicher “ius in
bello”-Regeln einmahnt, seltsam deplatziert. Es ist unvereinbar mit einer
menschlichen Art der Kriegsführung und auch mit dem ansonsten von Vitoria
eingeforderten absoluten Verbotes der beabsichtigten Tötung Unschuldiger. Nun
ist eine Plünderung ohne eine solcherart durchgeführte Tötung Unschuldiger nur
schwer denkbar, werden doch Plünderungen faktisch immer von Gewalttaten gegen
Zivilisten begleitet.
2.) Wenn Vitoria davon ausgeht, dass sich die “Moral” der Soldaten
verbessert, wenn sie nach Herzenslust plündern dürfen, ist er - sicherlich
unbeabsichtigterweise - gar nicht so weit entfernt von der
radikal-pazifistischen Ansicht, dass Soldaten nichts anderes seien als
raubgierige Verbrecher und Heere bewaffnete Räuberbanden. Eine solche Ansicht
würde aber die Lehre vom “gerechten Krieg” in gewisser Weise ad absurdum
führen. Und selbst wenn es so wäre: Ist eine Verbesserung der Stimmung in der
Truppe wirklich dermaßen wichtig, dass für sie Schwere Verletzungen der
Menschenrechte in Kauf genommen werden dürfen. Michael Walzer meint in einer
Nebenbemerkung in “Just and Unjust Wars”, dass man mit einer ähnlichen
Argumentation auch die Vergewaltigung im Krieg rechtfertigen könnte[242] - was aber wohl niemand ernsthaft wollen
wird.
3.) Es ist nur schwer vorstellbar, dass ein massives Unrecht wie die
Plünderung tatsächlich im Endeffent “Friede und Sicherheit” produziert.
Vielmehr ist genauso vorstellbar, dass aufgrund der durch sie verübten
Ungerechtigkeit Gegengewalt zu erwarten ist.
*
Ewiger Krieg gegen den Islam. In Vitorias Denken gibt er zahlreiche
offene Türen zur Kreuzzugsidee; so ruft er in seinen Schriften zu Frieden und
Eintracht zwischen den christlichen Fürsten auf und begründet dies u.a. damit,
dass es ihm notwendig erscheint, dem Islam in einem Kreuzzug geschlossen
entgegenzutreten.[243] Ein solches Konzept des Friedens (im Sinne
des Zusammenschlusses gegen einen anderen, neuen Feind) erscheint im Sinne
einer umfassenderen, die ganze Menschheit umfassenden Friedensidee
kritikwürdig.
Francisco de Vitoria hat sich sehr verdient gemacht bezüglich des
Schutzes der Indianer, für die er Mäßigung und Schonung fordert. Bei den
Moslems hebelt er allerdings viele der von ihm ansonsten postulierten
“Hegungen” des Krieges aus. Da er es für unglaubwürdig hält, dass die einfachen
moslemischen Soldaten die seiner Meinung nach offensichtlichen
Ungerechtigkeiten ihres Sultans nicht erkennnen, sind sie durch die Befolgung
der Befehle ebenfalls schuldig. Entsprechend fallen gegenüber den einfachen
moslemischen Soldaten auch Schutzpflichten weg.[244]
Der spanische Theologe ist auch davon überzeugt, dass der Krieg gegen den
Islam ewig dauert[245], da hier sowieso kein Friede möglich ist.
Entsprechend fallen ebenfalls Mäßigungen weg, die Vitoria ansonsten aus der Kriegsführung
in Hinblick auf den Frieden fordert. Entsprechend erlaubt er z.B. die
unterschiedslose Beraubung schuldiger und unschuldiger Moslems.[246] Die Praxis seiner Zeit, dass man schuldige
wie unschuldige Moslems im Gegensatz zu Christen in Gefangenschaft und
Sklaverei führen darf, hinterfragt Vitoria ebenfalls nicht, sondern nimmt sie
als zulässig an.[247]
In Vitorias Haltung zum Islam begegnen wir wieder einem der seit Platon
immer wieder in der Theorie des “gerechten Krieges” auftretenden Versuche, das
“ius in bello” auf eine bestimmte Gruppe zu begrenzen.
6.7. Das emanzipatorische Potenzial der “Gerechten Kriegs”-Lehre:
Bartolomé de Las Casas
6.7.1. Hintergrund des Werkes
Der im 16.Jahrhundert lebende und wirkende Dominikanermönch Bartolomé de
Las Casas, der im Laufe seines bewegten Lebens u.a. das Amt eines Bischofs von
Chiapa bekleiden sollte, kann mit Fug und Recht als einer der ersten
Menschenrechtsaktivisten überhaupt gelten. Aufgerüttelt von persönlichen
Erlebnissen von grausamen Behandlungen von Indianern im Zuge der spanischen
Eroberung (Conquista) Amerikas gab er seine ursprüngliche Existenz als
Landgutbesitzer und Nutznießer indianischer Zwangsarbeit (Encomendero) auf, um
sich stattdessen für die Rechte der Unterdrückten einzusetzen.
Er beklagte die Tatsache der Entvölkerung ganzer Landstriche durch
Massaker, menschenunwürdiger Zwangsarbeit und der Einschleppung von Krankheiten
und begann eine Jahrzehnte dauernde, mühevolle und nur mit geringen Erfolgen
belohnte politische Arbeit, im Zuge derer er in seinem bischöflichen
Wirkungskreis in der Neuen Welt, aber u.a. auch am spanischen Hof ein Art
“Lobbying” für die eingeborenen Völker betrieb.
Wichtig wurde seine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem spanischen Hoftheologen Juan Ginés
de Sepúlveda, der über Publikationen, aber v.a. im Jahre 1550 in einem Disput
in Valladolid vor einer königlichen Junta ausgetragen wurde. Während Sepúlveda
u.a. die Gerechte-Kriegs-Theorie dazu benutzte, um die spanische Conquista zu
legitimieren, bestritt Las Casas deren moralische Rechtmäßigkeit. Er benutzt im
Gegensatz zu seinem Widersacher die Gerechte-Kriegs-Theorie als Referenzrahmen,
um die Conquista moralisch zu verurteilen. In dem Streit Sepúlvedas versus Las
Casas zeigt sich deutlich die unterschiedliche “Verwendungsmöglichkeit” der
Theorie des “gerechten Krieges”: Sie kann als Apologetik militärischer
Vorgangsweise betrieben werden, aber auch kritisch-emanzipatorisches Potenzial
entfalten.
6.7.2. Die Conquista in der
Rechtfertigung von Sepúlveda
6.7.2.1. Letztes Mittel
Da Krieg notwendigerweise viel Unglück mit sich bringt, gilt auch für
Sepúlveda im Anschluss an die Tradition, dass er nur als “letztes Mittel”
geführt werden darf; d.h. Krieg muss vermieden werden, wenn er vermieden werden
kann. Entsprechend ist der Fürst moralisch verpflichtet, alle friedlichen
Lösungen auszuschöpfen. Diese Bedingung sah Sepúlveda durch eine den
Militäraktionen “vorausgehende Ermahnung” erfüllt. Die damalige Praxis sah
diesbezüglich so aus: Um der Theorie des “gerechten Krieges” formal zu genügen,
verlasen spanische Truppen vor ihrem Angriff das sogenannte “Requerimiento”. Es
handelte sich dabei um ein von Palacios Rubios im königlichen Auftrag
verfasstes Dokument folgenden Inhaltes: Im einem ersten Teil wurde die spanische
Herrschaft über den amerikanischen Kontinent proklamiert, und zwar Kraft einer
als Schenkungsurkunde gedeuteten Bulle des Papstes Alexanders VI. (des Vaters Cesare
Borgias). In einem zweiten Teil
wurde die Anerkennung des Papstes als Oberhaupt der Kirche und der ganzen Welt
gefordert und - aufgrund besagter Übertragung - die Anerkennung der spanischen
Herrschaft über Amerika. Bei Zustimmung dieser Forderungen sollten die Indianer
nach Sepúlveda zu Tributleistung und Frondienst verpflichtet werden, bei
Ablehnung sei eine gewaltsame Unterwerfung rechtmäßig. In späteren Schriften
relativierte Sepúlveda zudem sogar die unbedingte Notwendigkeit einer solchen
“vorausgehenden Ermahnung” in Fällen, da sie von den Eroberern für unnötig
gehalten wurde.[248]
6.7.2.2. Legitime Autorität
Das für die Führung eines “gerechten Krieges” nach Meinung der Tradition
notwendige Kriterium der “legitimen Autorität” ist nach Sepúlveda im Rahmen der
Conquista ebenfalls erfüllt. Unter Berufung auf Augustinus erklärt der spanische
Jurist und Theologe alle Kriege, die mit der Autorität Gottes geführt werden,
für gerecht; und aufgrund des päpstlichen Auftrages an die spanischen Könige,
Amerika zu unterwerfen, würden diese an einer solchen göttlichen Erlaubnis
partizipieren.[249]
6.7.2.3. Rechte Absicht
Über die “rechte Absicht” der spanischen Könige lässt Sepúlveda erst
keine Diskussion aufkommen; er hält sie für gegeben. Die mögliche Goldgier
einzelner Conquistadoren oder Soldaten hält er für die Gerechtigkeit des
Krieges nicht für hinderlich; diese seien lediglich ausführende Organe, die
Befehle befolgen; die Intention des Fürsten alleine sei relevant; und diese sei
gut.[250]
6.7.2.4. Gebotene Durchführung
Auch Sepúlveda erkennt die Notwendigkeit einer Mäßigung im Zuge der Kriegsführung
an, v.a. die Einhaltung des Diskriminations- und des
Proportionalitätsprinzipes. Im Unterschied zu Las Casas waren für ihn Verstöße
gegen dergleichen “ius in bello”-Regeln nicht ausreichend, um einen an sich
gerechten in einen ungerechten Krieg zu verwandeln - insbesonders dann nicht,
wenn dergleichen Verstöße nicht von der Autorität (wie z.B. dem König)
angeordnet waren, sondern “nur” von den ausführenden Organen (wie z.B. den
Conquistadoren oder Soldaten) verschuldet waren.[251]
6.7.2.5. Gerechter Grund
In seinem Hauptwerk führte Sepúlveda zudem lange Listen von “gerechten
Gründen” an, aus denen die Conquista gekämpft wurde, wobei die wichtigsten die
in Anknüpfung an Aristoteles behauptete Inferiorität der Indianer sowie die
schnellere Verbreitung der christlichen Religion durch die Eroberung waren.[252]
6.7.3. Las Casas’ Kritik an der
spanischen Conquista
6.7.3.1. Letztes Mittel
Im Gegensatz zu Sepúlveda beschreibt Las Casas die “vorausgehende
Ermahnung” des “Requerimiento” als das, was sie war, nämlich als bloße Farce,
die eher geeignet erschien, das Gewissen der Spanier schlecht und recht zu
beruhigen, als wirklich eine Erfüllung eines “ultima ratio”-Kriteriums zu sein.
Zunächst sah die damalige Praxis so aus, dass den Indianern das betreffende
Dokument meist auf Spanisch vorgelesen wurde und sie aber dieser Sprache nicht
mächtig waren. Las Casas verweist auf den Widersinn dieser Praxis und darauf,
dass auch nach der juristischen Lehre seiner Zeit keine Vorschrift eine Person
binden könne, wenn sie die Sprache, in der sie verfasst wurde, nicht
beherrscht.[253]
Aber selbst unter Voraussetzung der Sprachkenntnis könne, so Las Casas,
das Requerimiento die Indianer nicht binden. Er argumentiert mit einer
(hypothetischen) Landung moslemischer Gesandter in Amerika und einer Verkündung
ihrer Herrschaftsgewalt. “Wären die Indianer dann verpflichtet zu glauben?”,
fragt er die Christen seiner Zeit, und weiter: “Haben etwa die Spanier ein
größeres Zeugnis und wahrhaftigeren Beweis für den Inhalt ihres Requerimientos,
dass ihr Gott die Welt und die Menschen erschaffen habe, abgelegt als die
Mauren mit ihrem Mohammed?”[254]
Wie absurd die Verlesung der Unterwerfungsaufforderung in der damaligen
Praxis gehandhabt wurde, illustriert Las Casas zudem in seinem “Bericht von der
Verwüstung der westindischen Länder”. Als spanische Conquistadoren einen Ort
fanden, in dem sie Gold vermuteten, taten sie folgendes:
“Dann näherten sich diese unmenschlichen spanischen Räuber einem solchen
Orte bei Nachtzeit bis etwa auf eine halbe Meile, verkündigten oder verlasen
jene Befehle noch in der nämlichen Nacht unter sich selbst und riefen sodann:
ihr Caziquen und Indianer dieses auf dem Festland befindlichen Ortes! Wir tun
euch hiermit zu wissen, dass es nur Einen Gott, Einen Papst und Einen König von
Castilien gibt, welcher Herr von diesem Lande ist! Kommt augenblicklich herbei,
unterwerft euch ihm usw. Wo nicht, so wisset, dass wir euch bekriegen,
totschlagen, gefangen nehmen werden usw. Gegen vier Uhr des Morgens, wenn diese
Unschuldigen nebst ihren Weibern und Kindern noch schliefen, stürmten sie in
den Ort; warfen Feuer in die Häuser, die gewöhnlich nur aus Stroh waren,
verbrannten die Weiber und Kinder lebendig, dass viele kaum wussten wie ihnen
geschah, schlugen tot was sie wollten, und taten denjenigen, welche sie leben
ließen, alle nur erdenklichen Martern an, damit sie entweder noch mehr Gold,
als sie daselbst fanden, herbeischaffen, oder andere Ortschaften angeben
sollten, wo dergleichen zu finden sein; brandmarkten die, welche sie übrig
ließen, als Sklaven und suchten sodann, wenn das Feuer getilgt und erloschen
war, das Gold zusammen, welches sich in den Häusern befunden hatte.”[255]
Das von den Spaniern praktizierte Verfahren der “vorausgehenden
Ermahnung” machte den Krieg nach Las Casas nicht zu einem gerechten
Unterfangen, sondern verdiente “allen nur möglichen Schimpf und Spott und jede
(erdenkliche) Höllenstrafe”.[256]
6.7.3.2. Legitime Autorität
Las Casas spricht der Conquista insoferne die legitime Autorität ab, als
er den päpstlichen Anspruch auf Weltherrschaft zwar prinzipiell bejaht - eine
andere Argumentation wäre zur damaligen Zeit auch nicht opportun gewesen -,
aber in vielfacher Hinsicht einschränkt. Die wichtigste Einschränkung ist eine
Differenzierung päpstlicher Herrschaft “in actu” und “in potentia” - ein aus
der aristotelischen Metaphysik übernommenes Begriffspaar. Ungläubige, so Las
Casas, seien der päpstlichen Macht vor der freiwilligen Ablegung ihres
Taufversprechens noch nicht tatsächlich, sondern nur potentiell unterstellt;
die Belegung dieser Ansicht erfolgt mit Verweis auf verschiedene Bibelstellen.[257] Die Autorisierung der Conquista durch die
spanischen Könige in der Art, wie sie faktisch durchgeführt wurde, zieht Las
Casas u.a. durch Verweis auf Dokumente in Zweifel, in denen die entsprechenden
Monarchen zu Milde gegenüber den Indianern aufrufen.[258] Durch diese geschickte Interpretation
versucht Las Casas der Conquista die Sanktionierung durch legitime Autoritäten
abzusprechen, ohne sich mit eben jenen Autoritäten völlig zu überwerfen.
6.7.3.3. Rechte Absicht
Aus Gründen der politischen Klugheit beantwortet Las Casas nicht die
Frage nach den Intentionen der spanischen Krone. Er betont allerdings die
schlechte Intention der Conquistadoren im Gegensatz zu Sepúlveda sehr stark.
Diesen ginge es, so Las Casas, ausschließlich um den Erwerb von Gold: “Der
Grund, weshalb die Christen über so viele, über solch unzählige Seelen Tod und
Verderben gebracht haben, lag einzig darin, dass sie zu ihrem letzten Ziel das
Gold nahmen und sich in wenigen Tagen mit Reichtum vollstopften und es zu sehr
hohen Stellungen bringen wollten, die zu ihrer Person in keinem Verhältnis
standen.”[259] In seinem “Bericht” wird dieses Verhalten
durch zahllose Beispiele illustriert, etwa durch jenes des Feldherren Pedro de
Alvarado, der alle Indianer eines von ihm besetzten Landstriches nur allein aus
dem Grund umbringen ließ, weil sie wider Erwarten kein Gold besaßen[260]; aber auch zahllose schamlose Erpressungen
der indianischen Bevölkerung durch grausamste Folter ihrer Mitglieder werden
von Las Casas ausführlich beschrieben, um als wahre Absicht der Eroberer die
Goldgier hervorzuheben. Ein von Las Casas verurteilter Gouverneur tat sich z.B.
dadurch hervor, Indianer und ihre Angehörige in Massen einzufangen und auf
einbem umzäunten Platz einzusperren. Er zwang sie durch Vorenthaltung von
Nahrung und Trinken zur Zahlung von immensen Lösegeldern für sich und ihre
Familien. Die Freigelassenen wurden allerdings oftmals wieder eingefangen und
weiter auf dieselbe Art erpresst - und zwar so lange, bis sie gar nichts mehr
zahlen konnten; dann ließ er sie grausam verschmachten.[261]
6.7.3.4. Gebotene Durchführung
Auch nach Las Casas sind Kriege auf gebotene Art und Weise zu führen; im Unterschied
zu Sepúlveda wird bei ihm allerdings ein Krieg, in dem es permanente und
systematische Verletzung von “ius in bello”-Regeln gibt, zu einem ungerechten
Krieg - egal wie berechtigt das “ius ad bellum” auch sein mag.[262]
Die militärischen Eroberungen der Spanier verstießen nach Las Casas
zunächst gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Die Spanier setzten
überlegene Waffentechnik gegen die Indianer ein und verübten
Vergeltungsmaßnahmen, die das militärisch Notwendige weit überschritten.
Illustriert wird dies im “Bericht” etwa am Vorgehen auf Hispaniola:
“Nun fingen die Indianer an, auf Mittel zu denken, vermittelst derer sie
die Christen aus ihrem Land jagen konnten. Sie griffen demnach zu den Waffen,
die aber sehr schwach sind, nur leicht beschädigen, wenig Widerstand leisten,
noch weniger aber zur Verteidigung dienen. Daher kommt es, dass ihre Kriege nur
als Klopffechtereien und Kinderspiel zu betrachten sind. Die Spanier hingegen,
welche zu Pferd und mit Schwertern und Lanzen bewaffnet waren, richteten ein
gräuliches Gemetzel und Blutbad unter ihnen an. (...) Da nun die Indianer,
welches jedoch nur ein paarmal geschah, einige Christen in gerechtem und
heiligem Eifer erschlugen, so machten diese ein Gesetz unter sich, dass allemal
hundert Indianer umgebracht werden sollten, so oft ein Christ von ihnen getötet
würde.”[263]
Das Diskriminationsprinzip, das den Schutz von Nicht-Kombattanten wie
z.B. von Frauen und Kindern vorsieht, wurde von den Spaniern ebenfalls
systematisch verletzt, teilweise aus reinem Sadismus, teilweise aufgrund einer
terroristischen Strategie, nach der durch die Verbreitung von nackter Angst das
Land “befriedet” werden sollte. Las Casas berichtet in diesem Zusammenhang von
einem eigenen Erlebnis auf der Insel Kuba:
“Einmal, als wir hinauszogen, um zehn (spanische) Meilen von einem großen
Dorf Lebensmittel und andere Geschenke (von den Indianern) zu erhalten, gaben
sie uns, als wir dort ankamen, eine große Menge Fisch, Brot und andere Speisen
- und von allem, soviel sie nur konnten. Doch plötzlich fuhr der Teufel in die
Christen, sodass sie in meinem Beisein (ohne Motiv und ohne jeden Grund), mehr
als dreitausend Seelen, Männer, Frauen und Kinder, die rings um uns auf der
Erde saßen, niedermetzelten.”[264]
Auf Granada fand wiederum folgende Begebenheit statt: Der Befehlshaber
ließ seine Spanier alle verfügbaren Indianer auf einen öffentlichen Platz zu
bringen. Dort befahl er plötzlich und überraschend, alle zu enthaupten, sodass
etwa vier- bis fünfhundert Menschen getötet wurden. “Die Zeugen berichten, dass
er dadurch das Land zu beruhigen versucht habe.”[265]
Regelmäßig kam es zudem zu sexuellen Übergriffen auf indianische Frauen.
Las Casas berichtet z.B. von Vergewaltigungen zum Zwecke der Ertragssteigerung
beim Verkauf am Sklavenmarkt:
“Dieser verlorene Mensch rühmte und brüstete sich gegenüber einem ehrwürdigen
Geistlichen und sagte auf schamlose Weise, dass er danach strebe, so viele
Indianerinnen zu schwängern, wie er nur könne, um sie dann, wenn sie in anderen
Umständen seien, für mehr Geld als Sklavinnen verkaufen zu können.”[266]
Aber auch andere tragische Fälle standen an der Tagesordnung:
“Einst wollte ein sogenannter Christ ein Mädchen mit aller Gewalt zur
Unzucht zwingen; die Mutter aber widersetzte sich ihm und wollte ihr Kind ihm
aus den Händen reißen. Darauf zog er sein Schwert, hieb der Mutter die eine
Hand ab, und weil das Mädchen in sein Begehren nicht willigen wollte, brachte
er es mit vielen Dolchstichen ums Leben.”[267]
Dazu kamen fast unerträgliche Folterungen:
“Der Herr und König des Landes kam ihm (Anm. dem Conqustator, P.H.)
entgegen, brachte ihm Geschenke und erbot sich zu allen möglichen Diensten. Auf
der Stelle ließ er ihn aber gefangen nehmen, denn er stand in dem Rufe, dass er
viel Gold und Silber besitze. Damit er nun seine Schätze hergäbe, ließ der
Tyrann ihn folgendergestalt peinigen. Man legte ihn mit ausgestrecktem Körper
auf die Erde, band seine Hände an einen Pfahl, schloss seine Füße in den Stock
und hielt ihm einen Brand dicht an die Sohlen. Ein Junge musste dieselben von
Zeit zu Zeit mit einem in Öl getauchten Weihwedel benetzen, damit die Haut
recht durchbraten sollte. Neben ihm stand auf der einen Seite ein schrecklicher
Kerl, der mit gespannter Armbrust ihm nach dem Herzen zielte; auf der andern
stand wieder so ein Barbar, hielt einen grimmigen Hund, und hetzte denselben
auf ihn los, als wenn er ihn jeden Augenblick zerreißen sollte. So marterte man
ihn, damit er die vermeintlichen Schätze entdecken sollte, bis endlich ein
Franziskaner dazu kam, und ihn aus ihren Händen befreite; gleichwohl starb er
an den erlittenen Martern.”[268]
In seinem “Bericht” führt Las Casas zudem auch immer wieder völlig
sinnlose Gräuel an, die die Menschenverachtung der europäischen Eroberer
gegenüber den Indianern zum Ausdruck brachten, wie etwa ein Vorkommnis in
Yucatan:
“In diesem Reiche (...) pflegte ein gewisser Spanier mit seinen Hunden
Hirsche und Kaninchen zu fangen. Eines Tages fand er nichts zu jagen, und es
schien ihm, als hätten die Hunde Hunger. Da entriss er einen kleinen Jungen
seiner Mutter, schnitt ihm mit einem Dolch Arme und Beine ab und gab jedem Hund
seinen Teil davon. Nachdem sie nun diese Stücke aufgefressen hatten, warf er
das ganze Körperchen auf die Erde, damit die es zusammen verzehrten.”[269]
Durch die Anprangerung solcher und ähnlicher Exzesse zeigt Las Casas die
Absurdität auf, im Falle der Conquista der Neuen Welt von einem “gerechten
Krieg” zu sprechen.
6.7.3.5. Gerechter Grund
Las Casas bestreitet, dass von Seiten der Indianer eine Rechtsverletzung
(iniuria) gegenüber den Christen stattgefunden hätte - nach der
Gerechten-Kriegs-Theorie wäre dies aber die Voraussetzung für die moralische
Zulässigkeit einer Kriegsführung gegen sie.
“Auch ist es eine notorische und allgemein bekannte Wahrheit, die selbst
jene Tyrannen und Menschenwürger nicht leugnen können, dass nie ein Christ in
ganz Indien von den Indianern beleidigt ward. Sie begegneten vielmehr den
Spaniern so, als kämen sie vom Himmel, und taten dies so lange, bis sowohl sie,
als ihre Nachbarn, zuerst auf vielfältige Weise von ihnen gemisshandelt,
beraubt, gemartert, und alle nur möglichen Gewalttätigkeiten und Bedrückungen
an ihnen verübt worden waren.”[270]
Alle sogenannten “gerechten Gründe”, welche z.B. von Sepúlveda angeführt
wurden, hält Las Casas für nachträglich konstruiert und vorgeschoben. Die wahre
Absicht der Conquista war für ihn die Ausplünderung der Indianer und die
Gewinnung neuer Gebiete.
Gegen zwei der zahlreichen “causae iustae” Sepúlvedas, auf die hier nicht
alle eingegangen werden kann, wehrt sich Las Casas aber besonders. Zunächst
bestreitet er die unter Berufung auf Aristoteles in den Raum gestellte
Behauptung der “natürlichen Minderwertigkeit” der indianischen Völker, die eine
Versklavung angeblich moralisch begründen sollte. Stattdessen bemüht er sich in
zahlreichen kulturanthropologischen Studien den hohen zivilisatorischen Stand
der indianischen Reiche herauszuarbeiten, deren politische Organisationsform er
den europäischen sogar in einiger Hinsicht für überlegen hält.[271]
Dass sich durch die gewaltsame Eroberung Amerikas das Christentum
schneller und nachhaltiger verbreiten würde, bestreitet Las Casas zudem
vehement. Die einzig legitime Methode der Verbreitung des Evangeliums ist für
ihn jene der Gewaltlosigkeit; durch die Schandtaten der Spanier würde, so meint
er, dem Ansehen der Religion in der Neuen Welt nachhaltig geschadet. Er
illustriert dies in seinem “Bericht” am Beispiel eines gefangenen indianischen
Adeligen, der, empört durch an seinem Volk verübten brutalen Verbrechen, den
Spaniern Widerstand geleistet hatte. Vor seiner Hinrichtung versuchte ein
Priester, ihn zum Christentum zu bekehren; er erzählte ihm allerlei von Jesus
und den Heiligen und versprach dem Indianer im Fall seines Glaubens ewigen
Frieden im Himmel; widirgenfalls drohte er ihm Höllenstrafen an.
“Der Cazique dachte hierüber ein wenig nach, und fragte sodann den
Geistlichen, ob denn auch Christen in den Himmel kämen. Allerdings, sagte der
Geistliche, kommen alle guten Christen hinein! Sogleich, und ohne weiteres
Bedenken, erwiderte der Cazique, dort wolle er nicht hin, sondern lieber in die
Hölle, damit er nur dergleichen grausame Leute nicht mehr sehen, noch da sich
aufhalten dürfe, wo sie zugegen wären. So beförderten die Spanier, welche sich
nach Indien begaben, die Ehre Gottes und unserer Religion!”[272]
Interessant und berücksichtigenswert erscheint darüberhinaus, dass
Sepúlveda die Conquista als eine Humanitäre Intervention zu tarnen gedachte,
indem er sie durch die Verhinderung indianischer Menschenopfer zu legitimieren
versuchte - durch ein Eingreifen wurden durch die Spanier unschuldige Leben
gerettet. Las Casas, der gegen Menschenopfer ist und ihre Existenz im Rahmen
indianischer Kulte nicht bestritt, hielt dieser Argumentation entgegen, dass
das durch Spanier in Amerika begangene Unrecht und Zahl ihrer Opfer in keinem
Verhältnis zu den wenigen Geretteten stand. In moderner Sprache würden wir
wahrscheinlich sagen, dass eine Humanitäre Intervention zum Schutz der
Menschenrechte, die selbst unproportional viele Menschenrechte verletzt, nicht
mehr als “humanitär” gelten kann.[273]
Insgesamt bestreitet Las Casas jedwede Legitimität der Conquista. Dennoch
gibt es für ihn so etwas wie einen “gerechten Krieg”; und dieser wird in seiner
Sicht von den Indianern gegen Spanien geführt, wobei - aufgrund der
hoffnungslosen militärischen Unterlegenheit der Eingeborenen - einzig das
Kriterium der “Chance auf Erfolg” nicht erfüllt werden kann. Dennoch meint Las
Casas:
“Und ich weiß durch zuverlässige und unfehlbare Kunde, dass die Indianer
immer einen sehr gerechten Krieg gegen die Christen, die Christen aber nicht
einen einzigen gerechten Krieg gegen die Indianer geführt haben, vielmehr sind
sie alle diabolisch und äußerst ungerecht gewesen. (...) Dasselbe bestätige ich
für alle bisher in Indien stattgefundenen Kriege.”[274]
Der “gerechte Krieg” der Indianer wird bei Las Casas aus dem
Verteidigungsrecht der lex naturalis abgeleitet. Dass sie nicht an das
Christentum glauben, die Las Casas an sich für die bessere Religion hält,
ändert nichts an ihrem moralischen Recht, für ihr Volk, ihr Land und auch für
ihren Kult, an dem ihr Gewissen hängt, einzustehen.
6.8. Vom Recht des Krieges und des Friedens: Hugo Grotius
6.8.1. Leben und Werk[275]
Hugo de Groot - sein Nachname ist v.a. bekannt in der latinisierten Form
“Grotius” - wurde 1583 in der holländischen Stadt Delft als Spross einer
angesehenen und wohlhabenden Familie geboren. Sein Vater war Rechtsanwalt,
später Bürgermeister und Universitätskurator von Delft; einer seiner Onkeln war
ebenfalls Jurist und Professor an der damals noch jungen Universität Leiden.
Dort begann Hugo Grotius früh seine umfassenden Studien, die v.a. historische,
philologische, juristische und theologische Fragestellungen umfassten. Er tat
sich schon früh als eine Art “Wunderknabe” hervor und entwickelte sich im Laufe
seines Lebens zu einem fundierten Kenner der Antike sowie der Geschichte seiner
Heimat Holland und zu einem außergewöhnlich bibelfesten, relativ undogmatischen
Christen, der oftmals dem Gedanken der Wiedervereinigung aller christlichen
Bekenntnisse nachhing. Nach seiner juristischen Promotion wurde er zunächst
Anwalt, stieg aber einige Zeit später zu einem führenden Politiker auf; er
besaß schließlich sogar Sitz und Stimme in der maßgeblichsten politischen
Versammlung der Niederlande, den “Generalstaaten”.
Im Jahr 1619 erfolgte allerdings sein Sturz aus religiösen Gründen; im
Gegensatz zu den fanatischen Calvinisten seines Landes hatte Grotius gegen die Prädestinationslehre
Stellung bezogen - jene von Augustinus ausgehende Meinung, Gott hätte den
gesamten Weltplan inklusive des Verhaltens der einzelnen Menschen bis ins
letzte Detail vorherbestimmt - und stattdessen für die Existenz einer
menschlichen Willensfreiheit plädiert. Diese Überzeugung brachte dem schon
damals international bekannten Gelehrten eine Entfernung aus allen Ämtern, eine
Einziehung seiner Besitzungen sowie eine Verurteilung zu lebenslanger Haft ein.
Nach zwei Jahren konnte er mit Hilfe seiner Gattin Maria, die ihn in einer
Bücherkiste aus dem Gefängnis schmuggelte, aus dieser entfliehen. Die zum
großen Teil in der Festung Löwestein an der Maas abgebüßte Zeit der
Gefangenschaft war trotz dem mit ihr verbundenen Leid intellektuell und literarisch
sehr produktiv gewesen; er verfasste dort eine “Einführung in die holländische
Rechtswissenschaft” - das erste Standardwerk dieser Art - und auch große Teile
seines zu Lebzeiten erfolgreichsten Buches “Über die Wahrheit der christlichen
Religion” (De veritate religionis christianae). Dieses Buch, das den
praktischen Zweck verfolgte, die Wahrheit des Christentums gegenüber
nicht-christlichen Religionen wie Islam und Judentum in erbaulichen Worten
darzulegen, um den Glauben v.a. von Reisenden eine Stütze zu geben, wurde
damals eine Art weltweiter Bestseller.
Mittlerweise ist die Bedeutung dieser und ähnlicher Werke allerdings
stark in den Hintergrund getreten. Grotius’ Ruhm speist sich heute v.a. aus der
kleineren Schrift über die Freiheit der Meere, in dem er - ganz im Sinne seiner
Heimat, der ständig durch stärkere Nachbarn bedrohten Handelsnation Holland -
den ausschließlichen Besitz- und Nutzungsrechte des hohen Meeres durch einzelne
Großmächte (wie Portugal, Spanien und später Großbritannien) entgegentrat und
stattdessen die Öffnung derselben für die ganze Menschheit forderte. Grotius’
Lehrmeinung hat sich historisch durchgesetzt und gehört heute zum
völkerrechtlichen Grundbestand (das “Hohe Meer” ist internationaler
Gemeinschaftsraum). Noch weit bedeutender ist allerdings sein Werk “Über das
Recht des Krieges und des Friedens” (De jure belli ac pacis), welches als erste
wissenschaftliche Grundlegung des Völkerrechts seinem Autor in der Fachwelt bis
heute den Ehrennamen “Vater des Völkerrechtes” eintrug. Mit dieser umfassenden
Arbeit, die sich v.a. um Fragen rund um den “gerechten Krieg” dreht,
beeinflusste er das klassische völkerrechtliche System, das den Ordnungsrahmen
Europas vom Westfälischen Frieden (1648) bis ca. zur Zeit des 1.Weltkrieges (1914-1918)
darstellte, maßgeblich.
An die Flucht aus dem Gefängnis schloss eine lange Zeit im Exil an, die
Grotius zunächst v.a. als Gelehrter in Frankreich zubrachte; von der
französischen Krone erhielt er sogar eine Pension. Der mit den Jahren ständig
größer werdende subtile Druck auf den Protestanten und (trotz Verbannung aus
seiner Heimat) holländischen Patrioten, zum katholischen Glauben überzutreten
sowie politisch gegen die Niederlande zu agieren, veranlasste ihn schließlich
dazu, Frankreich vorübergehend zu verlassen. Bald kehrte er allerdings in einer
hohen Position wieder dorthin zurück - die schwedische Krone ernannte ihn
nämlich zu ihrem Botschafter in Paris und damit zu einem der wichtigsten
Diplomaten im Europa seiner Zeit - man muss in diesem Zusammenhang wissen, dass
Schweden damals eine bedeutende Großmacht war und als Verbündeter Frankreichs
im damals v.a. in Deutschland tobenden Dreißigjährigen Krieg militärisch aktiv
war. Grotius’ Aufgabe bestand in der Koordinierung des französisch-schwedischen
Bündnisses.
Nach seiner Abberufung aus diesem ein Jahrzehnt lang (1635-1645)
ausgeübten Amt sollte er eigentlich Verwendung als schwedischer Gesandter bei
den epochemachenden Friedensverhandlungen im westfälischen Osnabrück finden; er
starb aber kurze Zeit später im Alter von 62 Jahren auf der Anreise dorthin.
Sein wissenschaftliches Schaffen sollte sich aber langfristig für die
europäische Völkerrechtsordnung als prägender erweisen, als es sein
persönliches politisches bzw. diplomatisches Engagement je hätte sein können.
6.8.2. Motivation: Eindämmung und
Hegung des Krieges
Man kann davon ausgehen, dass Grotius’ Werk von den Gräueln des
Dreißigjährigen Krieges massiv beeinflusst war. Das wird durch eine Bemerkung
aus der Vorrede seines Hauptwerkes klar:
“Ich sah in den christlichen Ländern eine entartete Kriegsführung, deren
sich selbst rohe Völker geschämt hätten. Man greift aus unbedeutenden oder gar
keinen Gründen zu den Waffen, und hat man sie einmal ergriffen, so wird weder
das göttliche noch das menschliche Recht geachtet, gleichsam als ob auf Befehl
die Wut zu allen Verbrechen losgelassen worden wäre...”[276]
Diesen Schrecken gilt es nun Abhilfe zu schaffen: “Da ich selbst (...)
überzeugt war, dass unter den Völkern ein gemeines Recht sowohl für den Krieg
überhaupt als innerhalb desselben besteht, so bestimmten mich viele und
erhebliche Gründe zur Abfassung eines Werkes darüber.”[277]
Eine ausdrückliche Erwähnung des sinngemäß angesprochenen Dreißigjährigen
Krieges erfolgt allerdings im ganzen Werk “De jure belli ac pacis” nicht,
ebensowenig wie im Text Schlüsse über Ereignisse der damaligen Gegenwart
gezogen werden. Dieses erstaunliche Schweigen erklärt sich einerseits durch den
Anspruch auf “zeitlose Gültigkeit” seiner Ausführungen, andererseits aber auch
dadurch, dass Grotius durch zu deutliche Aussagen zur Tagespolitik weder das
Wohlwollen Frankreichs, noch dasjenige Schwedens aufs Spiel setzen wollte.[278] Grotius wollte mit seinem Werk nicht die
prinzipielle Abschaffung des Krieges erreichen; er hätte dies als
unrealistisches Unterfangen angesehen. Worum es ihm hauptsächlich ging, war
eine Eindämmung der Kriege insoferne, dass ungerechte Kriege verhütet werden
sollten; außerdem sollte eine Hegung und Versittlichung des Krieges erfolgen,
sodass in ihm fundamentale Rechtsregeln Befolgung finden konnten.[279]
6.8.3. Allgemeines zum gerechten
Krieg
Die Frage, ob es so etwas wie einen “gerechten Krieg” überhaupt geben
kann, wird von Grotius - im Anschluss an andere Klassiker (wie z.B. Aristoteles,
Cicero, Augustinus etc.) und bestimmte Bibelinterpretationen - positiv
beantwortet.[280] Viele dieser Argumente, v.a. die
Auslegungen von Passagen aus der Heiligen Schrift, sollen hier übersprungen
werden, weil erstens manche davon (z.B. die Stelle rund um Johannes den Täufer
und die Rat erbittenden Soldaten) bereits genannt wurden und zweitens der
Nachweis bestimmter moralischer Richtlinien in der Bibel allein heute nicht
mehr dieselbe Überzeugungskraft besitzt wie noch in der Frühen Neuzeit. Daher
soll eine Konzentration auf die mehr philosophische Beweisführung erfolgen.
Ganz von der religiösen Weltanschauung zu trennen ist sie freilich nicht, denn
im Mittelpunkt dieser steht seine Überzeugung von der Existenz eines
Naturrechts, die er v.a. in der “Vorrede” seines Hauptwerkes zum Ausdruck
bringt.[281]
Dort argumentiert er v.a. gegen den antiken Philosophen Karneades, der
als Skeptiker bezüglich der Moral und Realist bezüglich der Politik den
Menschen lediglich als Wesen betrachtet, das seinen Eigennutz maximiert.
Innerstaatliche Gesetze sind für ihn nichts anderes als Regeln, die aus einem
“aufgeklärten”, langfristig betrachteten Eigeninteresse im Zuge einer
zwischenmenschlichen Übereinkunft entstanden sind und entsprechend von Region
zu Region und Zeit zu Zeit stark variieren. Auch die Staaten folgen faktisch
einer Politik des Eigennutzes und werden daher das nur schwer erzwingbare
Völkerrecht immer mit Füßen treten; in gewisser Weise wären sie auch Narren,
wenn sie anders handeln würden. Grotius hält dieser Sichtweise entgegen, dass
auch das Völkerrecht so wie innerstaatliches Recht aus langfristigem Eigennutz
befolgt werden sollte, aber darüber hinaus eben auch deshalb, weil es sehr wohl
so etwas wie ein natürliches Recht gibt, dessen Grundbestand - bei aller
Verschiedenheit ihrer Interpretationen - ewig und unveränderlich ist, genauso
wie Gott, dessen Manifestation es ist.[282] Das natürliche Recht wirkt v.a. durch und
in den Menschen in der Welt; und diese Menschen sind nach Grotius mehr als bloß
eigennützige Wesen. Vielmehr wohnen ihnen soziale Neigungen und Tugenden inne,
die sie zur Gemeinschaftsbildung befähigen. Dass es ein solches Naturrecht
gibt, zeigt sich für Grotius aus Beobachtungen der menschlichen Natur - etwa
aus den sozialen Neigungen des Menschen, aus dem Glauben an Gott, den er aus
Vernunfts- und Offenbarungsgründen für zwingend hält und aus einem gewissen
“consensus sapientium” an allen Orten und zu allen Zeiten. Das Völkerrecht ist
in gewisser Weise ein “angewandtes Naturrecht”.[283] Es ist einerseits von Menschen in Verträgen
und Gewohnheitshandlungen ausformuliert, besitzt also einen “positiven” Teil,
beruht aber auf besagter ewiger Moral, die das Universum durchwaltet.
Die Anwendung von Gewalt ist nach Grotius nicht in jedem Fall gegen die
Natur des Menschen. In der “Vorrede” seines Hauptwerkes lehnt er den
unbedingten Pazifismus eines Erasmus von Rotterdam ausdrücklich als übertrieben
hat. Eine Beobachtung der von Gott geschaffenen und daher moralisch
sanktionierten menschlichen Natur zeigt seiner Ansicht nach, dass die Anwendung
von Gewalt mit ihr durchaus wesensmäßig verbunden ist.
“Unter den Naturtrieben ist nun
keiner, welcher dem Krieg entgegenstände; vielmehr sind alle ihm günstig.”[284]
Menschen wie Tiere besitzen von Natur aus Mittel und Wege, sich gegen
Feinde gewaltsam zur Wehr zu setzen. Dazu gehört eine gewisse emotionale
Grundstruktur, aber auch bestimmte natürliche “Waffen” - der Stier besitzt
Hörner, der Löwe Zähne, der Mensch Hände, mit denen er Waffen anfertigen und
halten kann. Und diese Möglichkeiten sind auch nicht ohne Grund zugeteilt
worden: Dies geschah u.a. zum Zwecke der Erhaltung und Verteidigung des Lebens.[285]
(Man kann an dieser Stelle natürlich die Frage stellen, ob hier nicht
eine Verwechselung von Ursache und Wirkung vorliegt. In Voltaires “Candide”
wird eine solche Argumentationslinie satirisch konterkariert durch die absurde
Feststellung, der Mensch hätte von der Natur eine Nase erhalten, damit eine
Brille auf sie passen würde. Ist es wirklich so, dass z.B. der Stier Hörner von
der Natur wie von einer zentralen Planungsbehörde quasi “zugeteilt bekam”, um
den von ihr vorher erkannten und definierten Zweck des Kampfes zu erfüllen?
Oder war es nicht vielmehr so, dass die Tiere, die in ihrer Umwelt mit der
nackten Realität des Kampfes konfrontiert waren, diese Waffen im Laufe ihrer
Evolutionsgeschichte zum Zwecke des besseren Überlebens nach und nach
entwickeln mussten und dass das Vorhandensein dieser Möglichkeiten im übrigen
auch nichts darüber aussagt, ob der durch sie erfüllte Zweck “gut” oder “böse”
ist? Wer kann wirklich ohne weiteres sagen, dass die in der Natur vorgefundenen
Fakten bzw. Ist-Zustände auch normativ bzw. als Sollens-Zustände zu
begrüßen sind? Der schottische Philosoph David Hume forderte später in dem nach
ihm benannten “Hume’schen Gesetz” das strenge Auseinanderhalten von Fakten und
Normen, von Sein und Sollen).
Wie dem auch sei, Kampf bzw. Krieg ist für Grotius Teil der von Gott
geschaffenen und bejahten natürlichen Ordung: “Nach dem Naturrecht, zu dem auch
das Völkerrecht gehört, ergibt sich also zur Genüge, dass nicht alle Kriege
missbilligt werden können.”[286]
Gewalt darf aber nicht beliebig angewandt werden; gewisse
Gewaltanwendungen sind vielmehr im Einklang mit Natur und Naturrecht, andere
nicht. Wichtig ist dabei die Hinordnung auf bestimmte Ziele. Besondere
Erwähnung finden dabei bei Grotius Gemeinschaftlichkeit und Frieden:
“Die Vernunft und die Natur der Gemeinschaft (...) verbieten nicht jede
Gewalt, sondern nur die, welche der Gemeinschaft widerstreitet, d.h. welche das
Recht der anderen verletzt.”[287]
“Der Krieg (wird) wegen des Friedens (begonnen)...Der Krieg selbst wird
uns dann zum Frieden als seinem Ziel führen.”[288]
Krieg ist also nicht als Zweck, sondern nur als Mittel zum Zweck
moralisch zu vertreten. Der Friede (im Sinne von Rechtsfriede) wird gegenüber
dem Krieg moralisch priorisiert; gleichzeitig gewinnt der Krieg nur in Hinblick
auf den mit ihm zu erreichenden Frieden moralischen Wert.[289] Das Ziel des Friedens ist bei der
Kriegsführung entsprechend immer im Auge zu behalten, was sich auch auf die Art
und Weise auswirken muss, wie der
Krieg geführt wird.
Wichtig - auch für die spätere Völkerrechtsentwicklung - wurde die Frage,
ob ein Krieg auf beiden Seiten gerecht sein kann. Grotius hat sie im Prinzip
verneint: Wenn es einen Streit zu einer moralischen Frage zwischen zwei
Parteien gibt, dann hat nach Grotius in der Sache die eine Recht und die andere
nicht. Es kann allerdings vorkommen - und hier ähnelt Grotius’ Meinung
derjenigen de Vitorias -, dass beide Seiten im guten Glauben für ihre Sache
kämpfen; und in gewisser Weise kann dies auch die (objektiv) “ungerechte”
Partei (subjektiv) “unschuldig” machen - ganz im Sinne der christlichen Lehre
ist nach Grotius für die moralische Schuld eines Menschen in erster Linie seine
Gesinnung und nicht so sehr seine Handlung entscheidend. Und zu all dem kommt
noch ein weiterer Aspekt: Auch ein in der Ursache
ungerechter Krieg kann in Hinblick auf seine Wirkung insoferne “rechtens” sein, weil selbst ein ungerechter
Krieg gewisse Rechtsfolgen nach sich ziehen kann.[290]
6.8.4. Zum “ius ad bellum”
6.8.4.1. Rechtsverletzung als
gerechter Grund
Kriege, die um des reinen Nutzens willen begonnen werden, lehnt Grotius
als verbrecherisch ab[291]; sie sind nicht besser als bloße Raubzüge
von Räuberbanden, nur eben im größeren Stil - eine Sichtweise des Augustinus
wird hier erneuert, der die Feldzüge Alexanders des Großen, da es ihnen an
Gerechtigkeit ermangelte, auf eine moralische Stufe mit den Taten eines Räubers
stellte.
Allgemein gilt: “Einen gerechten Grund zum Kriege kann nur eine
Rechtsverletzung abgeben.”[292] Ausdrücklich nennt Grotius drei
hauptsächliche gerechte Gründe: die Verteidigung (v.a. menschlichen Lebens),
die Wiedererlangung des genommenen Eigentums und die Bestrafung Schuldiger.[293] Man darf also in diesen Fällen Störungen
des Rechts, die auch Friedensbrüche sind, entgegentreten, und - auch mit Gewalt
- den ursprünglichen Rechts- und Friedenszustand wieder herstellen.
Eng verknüpft mit der Bestimmung des “gerechten Grundes” sind auch die
Kriterien der “rechten Absicht”, der “Chance auf Erfolg” und des “Letzten
Mittels”.
6.8.4.2. Rechte Absicht
Grotius ist sich darüber bewusst, dass Rechtsgründe oft nur vorgeschoben
werden, um einen Krieg zu führen, den man eigentlich aus anderen ganz Gründen
(wie z.B. Gewinn von politischem Einfluss oder wirtschaftlichen Vorteilen)
will. Ein solches Vorgehen ist verfehlt:
“Oft ist auch ein gerechter Grund für den Krieg vorhanden, aber durch die
Absicht des Handelnden wird die Handlung fehlerhaft. Dies geschieht, (...) wenn
ein anderes Motiv als das Recht den Entschluss bestimmt, (...) z.B. Ehrgeiz
oder ein privater oder öffentlicher Vorteil, der von dem Krieg, auch abgesehen
von seiner gerechten Ursache, erwartet wird...”[294]
Das Problem dabei, so richtig die obige Feststellung mag, ist aus meiner
Sicht natürlich dasjenige der Beweisbarkeit: Es ist in der politischen Praxis
sehr schwierig, Gesinnungen eindeutig nachzuweisen; und die Theorie des
“gerechten Krieges” hat meiner Meinung nach mit dem traurigen Faktum zu
kämpfen, dass jemand, der “gerechte Gründe” für einen Krieg sucht, diese auch
finden wird.
6.8.4.3. Chance auf Erfolg -
Proportionalität
Das Vorliegen eines “gerechten Grundes” kann einen Krieg legitimieren,
verpflichtet aber nicht unbedingt dazu. Vielmehr sind auch andere Aspekte
mitzuberücksichtigen, v.a. welcher Schaden für das eigene Gemeinwesen zu
erwarten ist:
“Jedoch sind Herrscher nicht verpflichtet, schon immer einen Krieg zu
beginnen, wenn (...) ein Grund zum gerechten Krieg vorliegt, vielmehr nur dann,
wenn dies ohne Nachteil für die Untertanen oder mindestens für ihre Mehrheit
geschehen kann. Denn das Amt des Herrschers hat mehr das Ganze als den Teil im
Auge, und je größer der Teil ist, desto mehr nähert er sich dem Ganzen.”[295]
Es besteht also keine Verpflichtung eines Politikers, sein Volk durch
einen aussichtslosen Krieg ins Verderben zu stürzen, so gerecht er auch immer
sein mag; vielmehr darf er eben genau dies nicht. (Das moralische Problem der
Hinzunahme eines Erfolgs- und damit Machtkriteriums ist natürlich, dass sehr
schwache Staaten gegen wesentlich stärkere Gegner per definitionem keine
gerechten Kriege führen können, so sehr das Recht auch auf ihrer Seite sein
mag. Wie sollen diese nun ihr Recht durchsetzen?)
Dazu kommt, dass jeder Krieg - selbst ein gerechter - großen Schaden
nicht nur beim eigenen Volk, sondern auch beim Feind anrichtet (der ja auch
Mensch ist) und es daher oftmals moralisch besser ist, auf das eigene Recht zu
verzichten, um Krieg zu vermeiden. Die eigenen Forderungen dürfen also nicht
“mittels großer Nachteile anderer” verfolgt werden.[296] Grotius zitiert einen antiken Klassiker,
der meint: “Man solle nicht nur fragen, ob man von denen beleidigt worden sei,
gegen die man Krieg beginnen wolle, sondern auch, wieviel das Vorgefallene wert
sei.”[297] Mit einem anderen Klassiker fordert er
vielmehr eine Abwägung des durch den Krieg produzierten und des vermiedenen
Schadens im Sinne einer Proportionalität: “Wenn die Erreichung des Guten
weniger wahrscheinlich als das Schlechte ist, so ist es besser, davon
abzustehen.”[298]
6.8.4.4. Letztes Mittel
Mit Cicero teilt Grotius uneingeschränkt die Meinung, dass Problemlösen
durch Worte dem Menschen angemessen ist, Probelmlösen durch Gewalt aber dem
Tiere, weswegen friedliche Lösungen anzustreben sind[299]; Krieg ist nur als “letztes Mittel”
zulässig, wobei sich natürlich in der politischen Praxis die Frage stellt, ob
das Kriterium der “Letztheit” nicht in derselben Weise behauptet werden kann
wie der “gerechte Grund”.
6.8.4.5. Gerechte und ungerechte
Gründe: Beispiele
Als konkrete Beispiele für gerechte Kriegsgründe führt Grotius den Schutz
der Staatsgrenzen und die Wahrung der Unverletzlichkeit von Gesandten an.[300] Auch die Verweigerung der Durchreise zu
friedliche Zwecke und die Sperrung der Handelswege sind gerechte Kriegsgründe:
“Der Durchgang ist aber nicht bloß für Menschen, sondern auch für Waren
zu gestatten, denn niemand darf den Handel des einen Volkes mit einem anderen
entfernteren verhindern...”[301]
Viele immer wieder angeführte Kriegsgründe werden von Grotius allerdings
in Frage gestellt. Religions- und missionarische Kriege hält er z.B. für unzulässig,
wobei er neben den Kreuzzügen auch v.a. die spanische Conquista im Auge hat:
“Es besteht kein Recht, gegen Völker Kriege zu führen, weil sie die christliche
Religion nicht annehmen wollen.”[302]
“Die Absicht, barbarischen Völkern die Zivilisation zu bringen, sei nur
ein Vorwand gewesen, unter dem sich die eigenen Habgier verbarg.”[303]
Wie würde Grotius nun, dies ist für vorliegende Dissertation besonders
interessant, zur Humanitären Intervention
einerseits und zum Präventivkrieg
andererseits stehen?
Zunächst ist als Vorbemerkung zu sagen, dass Grotius die
Internationalisierung von moralischen Streitfragen - ob sich diese um
Menschenrechte oder sonstige Gründe wie Verteidigung drehen - prinzipiell nicht
für unzulässig hält:
“... nach dem Naturrecht (kann) ein jeder nicht nur sein eigenes, sondern
auch fremdes Recht geltend machen. Wenn also für jemand eine Sache gerecht ist,
so ist sie es auch für die, welche ihm zu Hilfe kommen.”
Ein Staat kann also z.B. einem anderen Staat durchaus in seiner Verteidigung
zu Hilfe eilen, selbst wenn er ansonsten vom Angriff nicht wirklich betroffen
ist. Der Aspekt, dass man die Rechte anderer auch als nicht direkt Betroffener
einer Aggression geltend machen kann, ist wohl auch in Hinblick auf die
Humanitäre Intervention wichtig.
Zu Widerstandsbewegungen des Volkes gegen seine Obrigkeit besitzt Grotius
folgende Ansicht: Es fällt ihm als Kind seiner Zeit sichtlich schwer, dem Volk
so etwas wie ein allgemeines “Widerstandrecht” einzuräumen und schreibt lang
und breit über die Notwendigkeit des Gehorsams der Untertanen.[304] Jedoch ringt er sich für besonders
schwerwiegende Fälle dann doch dazu durch; in seinem Hauptwerk steht, es “geht
die Herrschaft verloren, wenn der König in feindlicher Absicht das ganze Volk
in das Verderben führt. (...) denn der Wille zu herrschen und der Wille zu
verderben können nicht zugleich nebeneinander bestehen. Wer sich deshalb zum
Feind des ganzen Volkes erklärt, der entsagt damit der Herrschaft.”[305] Und Grotius fügt hinzu: “Doch kann dies
kaum bei einem König vorkommen, der seiner Sinne mächtig ist und nur über ein Volk herrscht. Wenn er aber über
mehrere herrscht, so kann es vorkommen, dass er zugunsten des einen das andere
verderben will...”[306] Genau dies ist z.B. die Grundsituation einer
obrigkeitlich geplanten und durchgeführten ethnischen Säuberung, gegen die das
betroffene Volk also Widerstand leisten kann. Und unter gewissen Bedingungen
dürfen ihm Außenstehende bei seinem Kampf helfen:
“Wenn aber das Unrecht so klar ist, wie es von Busiris, Phalaris, dem
Thrakier Diomedes gegen ihre Untertanen verübt wurde, und es kein gerechter
Mann billigte, so ist das Recht der menschlichen Gesellschaft nicht gehemmt. So
griffen Constantin gegen Maxentius und Licinius und andere Kaiser gegen die
Perser zu den Waffen, oder drohten damit, um sie von Gewalttaten gegen die
Christen abzuhalten.”[307]
Und weiter: “Auch wenn man zugibt, dass die Untertanen selbst bei
höchstem Druck die Waffen gegen ihr Staatsoberhaupt nicht ergreifen dürfen
(worüber selbst die Verteidiger der königlichen Gewalt zweifelhaft sind, so
folgt daraus noch nicht, dass auch kein anderer für sie die Waffen ergreifen
darf.”[308] Ganz im Gegenteil hält Grotius ausländische
Mächte für besonders geeignet, ein anderes Volk vor den Missetaten seiner
Herrscher zu beschirmen - und zwar für viel geeigneter als die Opfer! Der Grund
für diese aus heutiger Sicht zunächst seltsam wirkende Haltung: Bürger eines
Landes stehen im Gegensatz zur ausländischen Interventionsmacht in einem durch
Eide begründete Treueverhältnis zu ihrer Regierung, gegen das sie durch offenen
Widerstand verstoßen würden.[309]
Den Präventivkrieg hingegen lehnt Grotius mit klaren und eindeutigen
Worten ab:
“In keinem Falle aber ist es zulässig, (...) dass nach dem Völkerrecht
ein Krieg begonnen werden dürfe, um das Anwachsen einer Macht, welche später
schädlich werden könnte, zu hindern. (...) Aber dass die Möglichkeit, Gewalt zu
erleiden, schon das Recht, Gewalt zu gebrauchen, gebe, ist ohne allen gerechten
Grund. Das menschliche Leben ist so, dass eine vollkommene Sicherheit niemals
vorhanden ist. Gegen ungewisse Übel muss der Schutz bei der göttlichen
Vorsehung oder durch unschädliche Bürgschaften gesucht werden, aber nicht durch
Gewalt.”[310]
Die einzige Einschränkung, die Grotius dabei trifft, ist, dass das
Entgegentreten des Anwachsens einer Macht als ergänzendes Argument zu den
“gerechten Gründen” bei der Kriegsplanung in Betracht gezogen werden darf. Ein
solches Kalkül ist aber höchstens von der Klugheit geboten, entbehrt aber des
moralischen Charakters und darf auch nicht hauptsächlich ausschlaggebend für
den Kriegseintritt sein.
6.8.5. Zur Kriegserklärung
Die offizielle Kriegserklärung ist im grotianischen System weitaus mehr
als ein überflüssiger Formalakt, von dem man einfach so absehen kann. Ganz im
Gegenteil: Sie ist für Grotius eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass man
von einem “gerechten Krieg” sprechen kann. Nur im Ausnahmefall kann sie
unterbleiben, nämlich v.a. in einer Situation der unmittelbaren Abwehr von Gewalt
- bei der Verteidigung also.
“Das Naturrecht verlangt keine Kriegsankündigung, wenn eine angedrohte
Gewalt abgehalten oder eine Strafe von jemand eingetrieben werden soll, der uns
Schaden zugefügt hat.”[311]
Wenn also z.B. ein Feind in das eigene Land einfällt und man sich dagegen
wehrt, ist dies auch ohne Kriegserklärung legitim - ebenso wenn man jene
eigenen Gebiete zurückerobert, die feindliche Streitkräfte besetzt halten. In
allen anderen Fällen, v.a. bei offensiverem Vorgehen, ist eine Kriegserklärung
aber notwendig. Doch auch in Fällen, wo sie nicht unbedingt notwendig ist,
bleibt eine Kriegserklärung nach Ansicht des “Vaters des Völkerrechts” immer
wünschenswert:
“Aber auch da, wo das Naturrecht keine Kriegsankündigung vorschreibt, ist
es lobenswert und angebracht, wenn sie geschieht...”[312]
Welche Gründe führt Grotius für die Wichtigkeit der Kriegserklärung an?
Bei Lektüre des entsprechenden Kapitels seines Hauptwerkes (Buch III, Kapitel
3) kann man folgende drei Argumente finden:
*
Die offizielle Kriegserklärung
bietet, indem sie Begründungen, Forderungen, Bedingungen etc. enthält, dem
Feind die Chance, den Konflikt durch Entgegenkommen friedlich zu beenden und
den Krieg doch noch zu vermeiden.[313]
*
Die offizielle
Kriegserklärung sorgt dafür, dass einwandfrei feststeht, dass ein bestimmter
Krieg kein bloß privates Unternehmen ist, sondern tatsächlich vom betreffenden
Volk bzw. von den zuständigen Obrigkeiten - der legitimen Autorität, wenn man
so will - geführt wird.[314]
*
Die offizielle
Kriegserklärung zieht gewisse wichtige Rechtswirkungen nach sich.[315] Die wichtigste dabei ist nach Einschätzung
von Filadelfo Linares “die Begründung der Existenz von rechtlich
Gleichgestellten, genannt ‘Feinden’ ”, mit denen man in rechtliche Beziehungen
treten kann.[316] Grotius stellt fest, dass hierin der
elementare Unterschied zwischen einer Kriegsführung gegen Staaten und gegen
bloße Räuberbanden liegt.[317]
Dem Argument, dass eine Kriegserklärung deshalb notwendig sei, weil
nichts heimlich oder hinterlistig geschehen dürfe, misst Grotius allerdings
keine Bedeutung bei. Dies sei, wie die manchmal vorhandene Vorgehensweise, dem
Feind Ort und Zeit einer Schlacht anzukündigen, bloß ein Appell an ein gewisses
Ehrgefühl, hätte aber keine rechtliche Bedeutung.[318] Prinzipiell ist die Kriegserklärung
unmittelbar wirksam, aber wenn der spezielle Fall es fordert - etwa wenn ein
gewisses Verhalten verlangt wird (Grotius nennt ausdrücklich die Rückgabe von
Sachen oder die Bestrafung des Verletzters) -, dann ist dem Feind eine gewisse
Erfüllungsfrist nach Billigkeit einzuräumen.[319]
Die Herstellung eines aktuellen Bezuges erscheint wichtig: Man kann in
der gegenwärtigen Politik mancher westlicher Länder und insbesonders der USA
beobachten, dass geführte Kriege oftmals nicht mehr erklärt werden.[320] Aus der Perspektive der Theorie des
“gerechten Krieges” ist ein solches Verhalten bedenklich, weil die Führung von
Kriegen nur einer “legitimen Autorität” erlaubt ist, die in demokratischen
Ländern nun einmal von der Verfassung bestimmt wird.
Möglicherweise hängt diese zweifelhafte Neuerung auch damit zusammen,
dass der Westen die von ihm geführten Kriege nicht mehr als Kriege gegen
Gleichwertige betrachtet, sondern gegen moralisch unterlegene
“Schurkenstaaten”, Terroristen und dergleichen. In einer solchen Sichtweise
zeigt sich einerseits die Ablöse einer Völkerrechtsordnung, in der einander
moralisch und rechtlich gleichgestellte Staaten mit Gewaltmonopol einander als
Hauptakteure des politischen Geschens gegenüberstehen durch eine weitgehend
unklarere Situation, in der nicht-staatliche Akteure eine immer größere Rolle
spielen. Andererseits könnte sie auch das Produkt einer gewissen Anmaßung sein,
die in der Weigerung besteht, in seinen Gegnern etwas ehrenhafteres zu sehen
als eine bloße zu vernichtende “Achse des Bösen”.
6.8.6. Was ist im Krieg nicht
erlaubt? Zum “ius in bello”
Bereits oben wurde festgestellt, dass eine wichtige Motivation von
Grotius’ Hauptwerk darin lag, den Gräueln der Kriegsführung seiner Zeit
entgegenzutreten. Entsprechend definiert er es als eine seiner Aufgaben, “die
laxen Sitten und Freiheiten, die in der Kriegsführung eingerissen sind, auf das
von der Natur erlaubte Maß zurückzuführen”[321] und widmet dem “ius in bello” den gesamten
dritten Teil von “De jure belli ac pacis”. In diesem Abschnitt sollen, um den
Rahmen dieser Kurzdarstellung nicht zu sprengen, nur einige wenige Schwerpunkte
der grotianischen Überlegungen herausgegriffen und erwähnt werden.
Die militärische Vorgehensweise ist auch in einem gerechten Krieg
moralischen Beschränkungen unterworfen. Wenn Menschen ungerecht handeln, darf
unter Umständen Krieg gegen sie geführt werden; aber selbst dann bleiben ihnen
gegenüber gewisse Pflichten bestehen. Werden diese verletzt, wird der gerechte
Krieg zu einem ungerechten. Wichtig ist maßvolles Handeln. Grotius zitiert
zustimmend einen Klassiker, der meint: “Auch die, welche sich rächen, können
ungerecht werden, wenn sie das Maß überschreiten. Wer bei der Strafe es so weit
treibt, dass sie unbillig wird, begeht ein zweites Unrecht.”[322]
V.a. zwei Beschränkungen der Kriegsführung sind wichtig: Zunächst muss es
eine Art Prinzip der Diskrimierung
geben, d.h. eine Unterscheidung zwischen Schuldigen und Unschuldigen muss
getätigt werden. Dies bedeutet z.B. einen besonderen Schutz der im Kampfgebiet
lebenden Kinder, aber auch alter Menschen und Frauen.[323] Grotius verurteilt besonders die
Vergewaltigung “als den Ausfluss einer zügellosen Begierde, die weder mit
Sicherheit noch mit einer Bestrafung etwas zu tun habe und deshalb im Kriege
wie im Frieden nicht straflos bleiben darf.”[324]
Dazu kommt die Beachtung einer gewissen Zweckmäßigkeit der Vorgehensweise bzw. Proportionalität von Mittel und
Zweck. Ist das eingesetzte Mittel wirklich dem zu erreichenden Zweck
angemessen? Oder richtet man einen Schaden an, der für den zu erreichenden
Zweck nicht wirklich notwendig war oder der einfach zu groß ist, um ihn durch
den Zweck zu rechtfertigen? Was bringt es z.B., um nur ein Beispiel zu nennen,
Tempel oder öffentliche Bauwerke zu zerstören, wenn dies den Feind doch nicht
schwächer oder den Sieg wahrscheinlicher macht?[325]
Krieg bleibt bei Grotius, wie oben festgestellt, immer auf den Frieden
hingeordnet. Bei der Kriegsführung ist entsprechend die künftige dauerhafte
Friedensordnung zu beachten. Nicht zuletzt deshalb, aber auch aus religiösen
Gründen, betont er die Wichtigkeit von Milde, Nachsicht und Verzeihen gegenüber
den Besiegten.
Erwähnenswert, weil unbedingt aktuell, erscheinen auch viele von ihm
getroffene Sonderbestimmungen, z.B. das Verbot bestimmter besonders
heimtückischer Kampfmittel - er spricht von “Gift”, heute kann man sicherlich
alle chemischen und biologischen Waffen unter das von ihm Gemeinte
zusammenfassen[326]. Grotius’ Verdammung der Vergiftung von
Gewässern könnte man in heutiger Zeit ebenfalls noch weiter fassen; es ist
zweifellos in seinem Sinne, wenn das heutige Völkerrecht alle Formen von
“ökologischer Kriegsführung”, die auf dauerhafte Zerstörung eines Lebensraumes
ausgerichtet sind, verbietet.
6.9. Die Entwicklung von Hugo Grotius bis zur Gegenwart im Überblick
Dieser Abschnitt, der die Entwicklung der Gerechten-Kriegs-Theorie von
Grotius bis zur Gegenwart behandelt, soll bewusst sehr kurz gehalten werden.
Dies hat folgenden Grund: Zunächst einmal sei auf das Kapitel 3 in Teil I der vorliegenden
Arbeit verwiesen (“Humanitäre Intervention und Völkerrecht”). Dort ist bereits
die Entwicklung des Völkerrechts seit Grotius angesprochen und in groben Zügen
skizziert worden. Während das Mittelalter die Gerechte-Kriegs-Theorie in den
Mittelpunkt stellte, gab es einen massiven Paradigmenwechsel zu Beginn der
Frühen Neuzeit. Grotius, dessen Werk einen so großen Einfluss auf das
Klassische Völkerrecht haben sollte, war einer der letzten großen Vertreter des
Gedanken des “gerechten Krieges”. Seine Nachfolger rangen sich zu einer
wesentlich “moralfreien” Sicht durch: Der Gedanke eines “gerechten Krieges auf
beiden Seiten” obsiegte, seine Möglichkeit wurde bejaht. In einer Zeit der
Schaffung einer Vielzahl souveräner Nationalstaaten, die sich als quasi
unabhängige machtpolitiche Akteure gegenüberstanden, wurde Krieg immer
“neutraler” gesehen. Krieg galt bald generell als legitimes Mittel eines
Staates, seine Standpunkte gegenüber anderen durchzusetzen; seine
“Gerechtigkeit” oder “Ungerechtigkeit” im einzelnen Falll stand immer weniger
zur Debatte. Erst unter dem Eindruck der beiden Weltkriege wechselten die
Paradigmata wieder und brachten eine Ächtung und schließlich ein
völkerrechtliches Verbot der Anwendung und Androhung von Gewalt in
internationalen Beziehungen hervor. Zwischen dem Westfälischen Frieden (1648)
und dem 1.Weltkrieg (1914-1918) liegt ohne Zweifel keine große Zeit für die
Gerechte-Kriegs-Theorie, die erst kürzlich wieder eine massive Renaissance
erlebt. Dennoch riss die Tradition nicht ganz ab: Der Vollständigkeit halber
muss erwähnt werden, dass auch die Neuzeit eine Tradition “protestantischer”
Gerechter-Krieg-Theorien hervorgebracht hat - so äußerten sich z.B. Martin
Luther oder John Calvin in ihren Schriften zum Thema “gerechter Krieg”.[327]
Die Entwicklung von Ende des 2.Weltkrieges im Jahre 1945 bis zur
Auflösung der Sowjetunion und damit dem Ende des Ost-West-Konfliktes 1991 kann
u.a. anhand dreier Themen skizziert werden_
*
Zunächst beschäftigten
sich Theoretiker des “gerechten Krieges” mit dem 2.Weltkrieg. Für den
U.S.-amerikanischen Juden Michael Walzer und sein in den 70er-Jahren des
20.Jahrhunderts erschienenes Buch “Just and Unjust Wars” ist der Kampf gegen
die Nazis (aus alliierter Perspektive) ohne Zweifel ein Prototyp des gerechten
Krieges (unsere - mitteleuropäische - Perspektive ist wohl eher geneigt, den
2.Weltkrieg, der uns von der nationalsozialistischen Obrigkeit ebenfalls als
“gerecht” verkauft wurde, allenfalls als Anstoß zu Pazifismus anstatt zu
Gerechtem-Kriegs-Denken zu sehen). Entsprechend ziehen sich durch sein Werk
Auseinandersetzungen mit betreffenden Krieg. Thematisiert muss in jeder
Auseinandersetzung mit dem 2.Weltkrieg auch jene Eigendynamik werden, die ein
schlimmer Krieg entfaltet. Im Kampf gegen einen grausamen und skrupellosen
Gegner griffen auch die Alliierten zu bedenklichen Mitteln (Atombombenabwurf
von Hiroshima, Bombardierung von Dresden). Auch auf diese Aspekte wurde immer
wieder Bezug genommen.
*
Inbesonders von Walzer
erfolgte zudem eine heftige Kritik am Vietnamkrieg, der v.a. in der
U.S.-amerikanischen Gesellschaft zum Inbegriff des “ungerechten Krieges” werden
sollte. Die “Gerechte Kriegs”-Theorie wurde z.B. für Walzer zum Referenzrahmen,
aus dem Argumente gegen besagten Krieg gewonnen werden konnten. Anhand des
Exempels Vietnamkrieg wurde also das kritisch-emanzipatorische Potenzial der
“Gerechten Kriegs”-Theorie entfaltet und in der damaligen Tagespolitik auch
umgesetzt und zur Geltung gebracht.
*
Ebenfalls thematisiert
wurde der Ost-West-Konflikt im Rahmen der “Gerechten Kriegs”-Theorie.
Angesichts des Kalten Krieges und der ungeheuren Zerstörungskraft der neuen
Waffe der Atombombe stellte sich damals v.a. die Frage, ob die
Gerechte-Kriegs-Theorie noch als zeitgemäß betrachtet werden konnte. Eine Massenvernichtungswaffe
dieser Art verstößt alleine durch ihre Existenz, d.h. wesenmäßig gegen z.B. das
Diskriminationsprinzip. Eine Atombombe vernichtet ganze Landstriche, sie tötet
unterschiedslos. Hannah Arendt hielt entsprechend den Pazifismus für die einzig
vernünftig gangbare Lösung. Der durch einen weltweiten atomaren Krieg
ausgelöste Schaden wäre einfach zu groß, als dass irgendein traditionelles
Kriegsziel es rechtfertigen könnte.[328] Dennoch gab es eine Diskussion vor dem
Hintergrund der Gerechten-Kriegs-Theorie, die sich um die Legitimität der
Abschreckungsstrategie und die Zulässigkeit eines strategisch und räumlich
begrenzten Atomkrieges drehte.[329]
Das Werk der zwei zeitgenössischen Hauptvertreter der
Gerechten-Kriegs-Theorie - neben dem bereits erwähnten Michael Walzer (“Just
and Unjust Wars”) ist dies der ebenfalls U.S.-amerikanische Gegenwartsphilosph
und Demokratietheoretiker John Rawls (“Law of Peoples”) - werden aufgrund ihrer
Wichtigkeit anschließend in seperaten Kapiteln gewürdigt werden, auf die an
dieser Stelle verwiesen wird.
Spätestens nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes traten die “neuen
Kriege” in den Vordergrund; ihrer gegenwärtigen Erscheinungsform ist ein
Anfangskapitel der vorliegenden Arbeit gewidmet. Krieg ist nach dem Wegfall der
Gefahr eines nuklearen Holocausts offenbar wieder für viele Akteure eine
lohnende Option geworden[330]; und Arendts Diagnose, dass sich Krieg
nicht mehr auszahlt, ist mit aller Wahrscheinlichkeit überholt. Es ist in der
heutigen “science community” und auch im öffentlichen politischen Diskurs
wieder ein verstärkter Rückgriff auf die Theorie des “gerechten Krieges” zu
beobachten, z.B. im Zusammenhang der Legitimierung der “Humanitären
Intervention” und des “Krieges gegen den Terror”. Die mit dieser Renaissance zusammenhängenden
Fragen stehen, wie im einleitenden Teil dargelegt, im Mittelpunkt der
vorliegenden Dissertation.
7. John
Rawls: Ein Liberaler auf Kriegskurs
7.1. Das
“Recht der Völker”: Grundidee des Werkes
Als eines
seiner letzten Werke kurz vor seinem Tod[331] publizierte der U.S.-Amerikaner John Rawls, einer der
bedeutendsten politischen Philosophen unserer Gegenwart, eine Abhandlung über
das “Recht der Völker”. In diesem Buch geht es ihm um die Erweiterung seiner
bisherigen Konzeptionen von politischer und sozialer Gerechtigkeit - in seinen
bahnbrechenden Studien “Theorie der Gerechtigkeit” und “Politischer
Liberalismus” hatte er die Grundlagen einer liberalen Demokratie entworfen,
d.h. er beschäftigte sich dort mit den ethischen bzw. politischen Prinzipien,
die eine Demokratie in ihrem Inneren leiten sollen. Die Grundidee des “Rechts
der Völker” ist die Übertragung seiner liberal-demokratischen Konzepte auf das
Feld der Internationalen Politik, also quasi “nach außen”. Auch die
Internationale Gemeinschaft, so Rawls, sollte sich von moralischen Ideen leiten
lassen, die geeignet sind, ein sozial gerechtes und friedliches Zusammenleben
einer Vielzahl von Völkern zu gewährleisten.
Dabei
folgt Rawls, wie er selbst schreibt[332], den Spuren Kants und seiner 1795 erschienen Schrift
“Zum ewigen Frieden”. Obwohl er dabei betont, dass seine Konzepte zum
politischen Liberalismus unabhängig von Kants Vorstellungen zur praktischen
Vernunft bestehen können[333], stellt er sich doch schon allein durch seine häufigen
Verweise auf Kant in eine gewisse Tradition mit ihm. Dabei soll aber nicht
übersehen werden, dass Kants Friedensschrift zwar als Vorläufer der modernen
“Theorie des demokratischen Friedens” zu begreifen ist, die Rawls für unbedingt
richtig hält und auf der er nicht unwesentliche Teile seiner Argumentation
aufbaut, dass man dort aber meines Wissens nach vergeblich nach einer
Legitimation der “Humanitären Intervention” sucht, die Rawls aber geben will.[334]
Sein Werk
orientiert sich, wie er selbst meint, an zwei Leitideen:
“Die eine
ist, dass die großen Übel in der menschlichen Geschichte - ungerechte Kriege
und Unterdrückung, religiöse Verfolgung und die Verweigerung der
Gewissensfreiheit, Hungersnot und Armut, von Völker- und Massenmord ganz zu
schweigen - eine Folge der politischen Ungerechtigkeit mit der ihr eigenen
Grausamkeit und Hartherzigkeit ist. (...) Die andere Leitidee ist (...), dass
diese Übel verschwinden werden, sobald die schlimmsten Formen der politischen
Ungerechtigkeit durch gerechte (...) Formen der Gesellschaftspolitik und durch
die Einrichtung gerechter (...) Institutionen ausgeräumt worden sind.”[335]
7.2.
Urzustand als fiktiver Ausgangspunkt
Rawls versucht
im Vorfeld der Klärung der oben skizzierten Hauptfrage zu bestimmen, was denn
überhaupt die Gerechtigkeitsgrundsätze der internationalen Gemeinschaft seien
und er tut dies, indem er sein Modell einer gerechten Gesellschaft auf die
Völkerrechtsgemeinschaft überträgt. Die Rawls’sche Grundidee[336] der “Theorie der Gerechtigkeit” lautet - stark
vereinfacht und gekürzt - folgendermaßen: Unsere Sicht auf Gerechtigkeit (d.h.
Verteilungsgerechtigkeit) wird meistens dadurch getrübt, dass wir aufgrund
unseres eigenen sozialen Standpunktes parteiisch sind. Wenn es darum geht, zu
bewerten, ob z.B. ein Solidaritätsbeitrag der Reichen gegenüber den Armen
gerecht ist, wird der Reiche dagegen argumentieren, der Arme hingegen dafür -
und zwar entsprechend seines persönlichen Vorteils, denn der eine müsste es
zahlen, der andere würde es erhalten. Was ist aber - abgesehen von diesem
egoistischen Standpunkt - “gerecht”? Nur rational denkende Menschen, die aber
über wesentliche Charakteristika ihrer selbst nicht Bescheid wüssten - die also
z.B. ihr Alter, ihren sozialen Stand, ihre Ethnie etc. nicht kennen würden -
könnten unparteiisch bestimmen, was Gerechtigkeit ist. Diese vom “Schleier des
Nichtwissens” befangenen Menschen sind natürlich fiktiv, d.h. es gibt sie
nicht; die Annahme ihrer Existenz ist kontrafaktisch. Dennoch: Wenn wir
bestimmen könnten, worauf sich solcherart geartete Menschen einigen würden, wüssten wir, was Gerechtigkeit
ist. Wir hätten dann Maßstäbe zur Hand, die insoferne erstrebenswert wären,
weil sie von vernünftigen Menschen in einer fairen Ausgangssituation festgelegt
würden. Rawls meint in weiterer Folge, dass sich die besagten Menschen auf
einen Grundstock gleicher politischer Grundrechte und soziale Chancengleichheit
für alle entscheiden würden, mit einem zumindest minimalen sozialen
Auffangsnetz für die Schwächsten der Gesellschaft. Diese Entscheidung würde
nicht zuletzt deshalb getroffen werden, weil die im “Schleier des Nichtwissens”
befangenen Menschen nicht wüssten, ob sie nun zu dieser oder zu jener Gruppe
gehören. Sie würden das schlimmste Risiko für sich selbst zu minimieren suchen,
indem sie für die schwächsten Gruppen sorgen, für den möglichen Fall, zu dieser
zu gehören.
Nun
überträgt Rawls dieses Modell, das sich zunächst nur auf die innerstaatlichen
Gerechtigkeitsgrundsätze bezieht, auch auf die internationale Gemeinschaft.[337] Abgesandte der Staaten treffen sich, um das Völkerrecht
festzulegen; sie sind vom “Schleier des Nichtwissens” befangen, wissen daher
nichts von der konkreten Situation ihres eigenen Staates, also z.B. ob dieser
groß oder klein ist, von einer bestimmten Regelung Vorteile hätte oder nicht
etc. Wie würde ein von solchen Menschen festgelegtes Völkerrecht aussehen?
Er meint,
die von “Schleier des Nichtwissens” befangenen Menschen des Urzustandes würden
im Falle des Völkerrechtes durchaus bekannte Gerechtigkeitsgrundsätze wählen.
Die wichtigsten fasst Rawls in acht Prinzipien zusammen, die allerdings keinen
Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Diese lauten:
“1.Völker
sind frei und unabhängig und ihre Freiheit und Unabhängigkeit müssen von
anderen Völkern geachtet werden.
2. Völker
müssen Verträge und eingegangene Verpflichtungen erfüllen.
3. Völker
sind gleich und müssen an Übereinkünften, die sie binden sollen, beteiligt sein.
4. Völkern
obliegt eine Pflicht der Nichteinmischung.
5. Völker
haben das Recht auf Selbstverteidigung, aber kein Recht, Kriege aus anderen
Gründen als denen der Selbstverteidigung zu führen.
6. Völker
müssen die Menschenrechte achten.
7. Völker
müssen, wenn sie Krieg führen, bestimmte Einschränkungen beachten.
8. Völker
sind verpflichtet, anderen Völkern zu helfen, wenn diese unter ungünstigen
Bedingungen leben, welche verhindern, dass sie eine gerechte oder achtbare
politische und soziale Ordnung haben.”[338]
Den
Grundsatz der Nichteinmischung - artikuliert in der vierten Regel - muss nach
Rawls allerdings “offensichtlich qualifiziert werden, wenn es um
Schurkenstaaten und um schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen geht.”[339] Der Grundsatz passt nämlich zu einer Gemeinschaft
demokratischer Völker, versagt aber angesichts humanitärer Katastrophen. Und so
meint Rawls: “Das Recht eines Volkes auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung
schützt es nicht vor einer solchen Verurteilung und in schwerwiegenden Fällen nicht
einmal vor zwangsweisen Intervention durch andere Völker.”[340] Er ist für ihn also ziemlich sicher, dass sich die
fiktiven Menschen des Urzustandes bei ihrer Entscheidungsfindung nicht durch
das Argument der möglichen Missbrauchsanfälligkeit der Humanitären Intervention
beirren lassen, das in Rawls’ Schrift zum “Recht der Völker” kein wirkliches
Thema ist.
7.3.
Klassifizierung politischer Einheiten
John Rawls
unterscheidet fünf politische Einheiten bzw. Grundstrukturen, nach denen die
Gesellschaften verschiedener Völkern organisiert sein können und die in der
Internationalen Politik eine Rolle spielen. Zuerst die Aufzählung: Es gibt
“liberale” Völker, “achtbare” Völker (beide bezeichnet er zusammengenommen auch
als “wohlgeordnet”), “durch ungünstige Umstände belastete Gesellschaften”,
Systeme des “wohlwollenden Absolutismus” sowie sogenannte “Schurkenstaaten”.
Liberale
Systeme, also echte Demokratien mit einem hohen Standard an individueller
Freiheit, Menschenrechts- und Minderheitenschautz sowie politischen
Partizipationsmöglichkeiten, stehen für Rawls moralisch am höchsten. Achtbare
Völker sind von ihnen zu tolerieren. An einem fiktiven Beispiel namens
“Kazanistan”[341] entwirft Rawls eine Art Idealbild eines aufgeklärten
Volkes, das als “positive” Form einer islamischen Gesellschaft herhalten muss.
In dieser Gesellschaft ist die Idee individueller Rechte nicht so entwickelt
wie in liberalen Systemen, sondern es gibt eher Gemeinwohlvorstellungen; die
politische Vertretung des einzelnen erfolgt durch Gruppen (Familien, Stämme,
Stände etc.) Den verschiedenen Gruppen, auch den Minderheiten, werden
allerdings Partizipationsmöglichkeiten eingeräumt; und wenngleich die Rechte
der Minderheiten nicht so groß ist wie die der Mehrheit, so wird z.B. keine
Religion verfolgt. Neben wenigstens einem gewissen Respekt vor den
Menschenrechten ist keine aggressive Außenpolitik vorhanden. Ein “modus
vivendi” des Zusammenlebens von liberalen mit dergestalt achtbaren Völkern ist
möglich.
Während
über “wohlwollend absolutistische” Systeme kaum Äußerungen erfolgen, entwickelt
Rawls Gedanken zur internationalen Solidarität mit “durch besondere Umstände
belasteten Gesellschaften”, die er prinzipiell für notwendig achtet
(“Wohlgeordnete Völker haben eine Pflicht, belastete Gesellschaften zu
unterstützen”).[342] Diese Hilfe ist aber nicht grenzenlos, sondern hat auf
kluge Weise zu erfolgen - es geht v.a. um eine gewissen “Hilfe zur
Selbsthilfe”.
Zahlreiche
Gedanken widmet Rawls den sogenannten “Schurkenstaaten”, die es seiner Ansicht
nach zu bekämpfen gilt. Sie zeichnen sich durch Missachtung der Menschenrechte
und aggressive Außenpolitik aus. Sie weigern sich, einem vernünftiges Recht der
Völker zu folgen.
“Die
Weigerung, solche Staaten zu tolerieren, ist eine Konsequenz des Liberalismus und
der Achtbarkeit. Wenn die politische Konzeption des politischen Liberalismus
vernünftig ist, und wenn darüber hinaus die von uns unternommenen Schritte zur
Ausarbeitung eines Rechts der Völker ebenfalls vernünftig sind, dann sind
liberale und achtbare Völker nach dem Recht der Völker berechtigt,
Schurkenstaaten nicht zu tolerieren. Liberale und achtbare Völker haben sehr
gute Gründe für ihre Einstellung. Schurkenstaaten sind aggressiv und
gefährlich; alle Völker sind besser geschützt und sicherer, wenn solche Staaten
sich ändern oder gezwungen werden, sich zu ändern. Andernfalls wirken sie tief
greifend in Richtung eines internationalen Klimas der Macht und der Gewalt.”[343]
Gedanken
darüber, dass der Begriff des “Schurkenstaates” als polemisches Etikett und
politischer Kampfbegriff missbraucht werden könnte, finden sich bei Rawls
ebensowenig wie die Angabe der Institution, die als Letztinstanz entscheidet,
welcher Staat ein Schurkenstaat ist und welcher nicht. Es ist doch nicht wohl
allein die U.S.-amerikanische Regierung, die diese richterliche Befugnis
besitzt?
7.4
Demokratischer Friede
John Rawls
gesamte Argumentation stützt sich wesentlich auf die Annahme der Gültigkeit der
“Theorie des demokratischen Friedens”. Damit stellt er sich, wie von ihm nicht anders
zu erwarten, in eine Tradition des liberalen Denkens über Internationale
Politik. Während Theorien des “Realismus” davon ausgehen, dass die Art der
Regierungsform wenig bis gar keinen Einfluss auf das Verhalten eines Staates in
der Internationalen Politik hat, vermeinen liberale, idealistische Theorien
einen Zusammenhang zwischen Regierungsform und Wahrscheinlichkeit eines
Konfliktausbruches erkennen zu können.[344] Die “Theorie des demokratischen Friedens” findet einen
frühen Vertreter in Immanuel Kant, der in seiner Friedensschrift die Errichtung
von - wie er es in seiner Begrifflichkeit ausdrückte - “republikanischen”
Regierungsformen forderte. Er meint, dass das Volk, wenn es die Entscheidung
über Krieg und Frieden zu treffen hat, wesentlich zögerlicher für den Krieg
eintreten wird als ein z.B. absolutistischer König und begründet dies damit,
dass das Volk auch die Schäden und Risken des Krieges zu tragen hat, ein
Alleinherrscher allerdings sein Luxusleben mit oder ohne Krieg führen kann -
früher nannte man Krieg auch den “Sport der Könige”.
“Wenn (wie
es in dieser Verfassung nicht anders sein kann) die Beistimmung der
Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ob Krieg sein solle, oder
nicht, so ist nichts natürlicher, als dass, da sie alle Drangsale des Krieges
über sich selbst beschließen müssten (als da sind: selbst zu fechten, die
Kosten des Krieges aus ihrer eigenen Habe herzugeben; die die Verwüstungen, die
er hinter sich lässt, kümmerlich zu verbessern; zum Übermaße des Übels endlich
noch den Frieden selbst verbitternde, die (wegen naher, immer neuer Kriege) zu
tilgende Schuldenlast selbst zu übernehmen, sie sich sehr bedenken werden, ein
so schlimmes Spiel anzufangen: dahingegen in einer Verfassung, wo der Untertan
nicht Staatsbürger, die also nicht republikanisch ist, es die unbedenklichste
Sache von der Welt ist, weil das Oberhaupt nicht Staatsgenosse, sondern
Staatseigentümer ist, an seinen Tafeln, Jagden, Lustschlössern, Hoffesten
u.dgl. durch den Krieg nicht das mindeste einbüßt, diesen also wie eine Art von
Lustpartie aus unbedeutenden Anlässen beschließen und der Anständigkeit wegen
dem dazu allezeit fertigen diplomatischen Korps die Rechtfertigung desselben
gleichgültig überlassen wird.”[345]
Man
beachte in diesem Zusammenhang, dass Kant die Friedfertigkeit von (heute würden
wir sagen) demokratisch eingerichteten Staaten nicht verabsolutiert, sondern
nur für wahrscheinlicher hält (Rawls scheint aus meiner Sicht die These absolut
zu setzen).
Auch in
den USA hat die These des “demokratischen Friedens” durchaus Tradition. So war
U.S.-Präsident John Madison einer ihrer Anhänger, als er 1792 meinte, dass die
Verbreitung republikanischer Institutionen Kriege reduzieren und die neue
Ordnung nicht zuletzt durch größere Offenheit und einen anderen Politikstil die
gesamte bisherige Diplomatie revolutionieren könnte. Auch in neueren Zeiten
schlossen sich U.S.-amerikanische Politiker dieser Sichtweise an. So erklärte
Bill Clinton in einer Rede zur Lage der Nation im Jahre 1994: “Democracys don’t
attack each other.” Dann
fuhr er fort zu erklären: “ultimately the best strategy to insure our security
and to build a durable peace is to support the advance of democracy elsewhere.”[346]
John Rawls
schließt sich all diesen Argumenten an und geht noch über sie hinaus.
Demokratie verleiht nach seiner Ansicht der Internationalen Gemeinschaft
Stabilität, und zwar “Stabilität aus den richtigen Gründen”.[347] Im Unterschied zu einer Stabilität, die aufgrund eines
bloßen Machtgleichgewichtes entsteht, handelt es sich um eine Form von
Stabilität, die von einer gerechten Ordnung und einer guten inneren Überzeugung
hervorgebracht wird. Rawls glaubt fest an die Möglichkeit “moralischen
Lernens”.[348]
Demokratischen
und Handel treibenden Völkern fehlt nach Rawls zudem der Grund zur
Kriegsführung. “Dafür spricht unter anderem, dass sie, was immer ihnen an
Gütern fehlen mag, einfacher und billiger durch Handel erwerben können und dass
sie als liberale konstitutionelle Demokratien nicht danach streben werden,
andere Völker zu einer Staatsreligion oder einer anderen herrschenden
umfassenden Lehre zu bekehren.”[349] Dass Konkurrenz im Handel möglicherweise auch ein
konflikt- und kriegsförderndes Potenzial besitzt, meint Rawls nicht.
Entsprechend nennt er liberale Völker auch “befriedete Völker”. “Diese Völker
achten ein gemeinsames Prinzip legitimer Herrschaft, und werden nicht vom
leidenschaftlichen Streben nach Macht und Ehre beherrscht oder von dem
berauschenden Stolz des Herrschens. Leidenschaften wie diese mögen den Adel und
die untere Aristokratie bewegen, sich ihre soziale Stellung und ihren Platz an
der Sonne zu verdienen; aber diese Klasse (...) hat in einer konstitutionellen
Ordnung keine Macht. Solche Ordnungen sind nicht darauf aus, andere
Gesellschaften zu einer Religion zu bekehren, weil liberale Völker aufgrund
ihrer Verfassung keine Staatsreligion haben (...) Der Wunsch, andere zu
beherrschen, das Streben nach Ehre und der Reiz der Eroberung sowie das
Vergnügen, Macht über andere auszuüben, bringen sie nicht gegen andere Völker
auf. Da alle in dieser Weise befriedet sind, haben sie nichts, worüber sie
einen Krieg führen können.”[350]
Dass
Demokratien dennoch unter Umständen bereit sind, Kriege zu führen wird - fast
schon ein wenig bedrohlich - dennoch hinzugefügt, denn es ist notwendig
“Schurkenstaaten...im Zaume zu halten”.[351] Realisten setzen an diesem Punkt oftmals mit ihrer
Kritik ein und bezweifeln öffentlich die Bereitschaft von Demokratien, die
Menschenleben ihrer Bürger für “edle” Ziele wie Menschenrechte oder soziale
Gerechtigkeit in anderen Ländern aufs Spiel zu setzen.[352]
Rawls
versucht in der weiteren Abhandlung historische Gegenargumente zur Theorie des
“demokratischen Friedens” zu entkräften.[353] So beharrt er darauf, dass z.B. antike Demokratien (die
durchaus gegeneinander Kriege geführt haben) nicht den Anforderungen eines
modernen Demokratieverständnisses genügen (so gab es etwa in Athen und Sparta
die Sklaverei). Die Interventionen der USA im 20.Jahrhundert, die - wie im Fall
Chile - demokratische Strukturen zerstörten und rechtsgerichtete Diktaturen an
die Macht brachten, lässt Rawls ebenfalls nicht gelten - sie seien von Eliten
als Geheimoperationen und unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt worden.
Dass sie möglich waren, zeigt also weniger, dass gut organisierte Demokratien
doch gegeneinander Kriege führen, sondern eher, dass bestehende Demokratien
durch schlechte Organisation defekt sind. Problematisch an der Theorie des
“demokratischen Friedens” scheint folgender Umstand: Es ist für Verteidiger der
Theorie möglich, sie gegen Gegenargumente quasi “abzuschotten”, indem jede
ihrer historischen Widerlegungen relativiert wird. Dem konkreten Beispiel
zweier gegeneinander kämpfender Demokratien kann man schnell die Behauptung
entgegensetzen, dass es sich bei einem der Krieg führenden Staaten gar nicht um
“wahre” Demokratien gehandelt hat. Eine häufige Berufung auf dieses Argument
macht eine Falsifizierung der Theorie des “demokratischen Friedens” aber
unmöglich; doch mit der prinzipiellen empirischen Falsifizierbarkeit fällt -
legt man Popper’sche Begrifflichkeit zugrunde - auch die Wissenschaftlichkeit
einer Theorie. Da die Theorie des “demokratischen Friedens” daher insgesamt nur
schwer falsifizierbar ist, stellt sich die ernste Frage, ob es sich bei ihr
nicht letztlich um eine bloße Ideologie handelt.
7.5.
Kritik der Souveränität
Rawls
spricht in seiner Schrift ausschließlich von “Völkern” und nicht von “Staaten”.
Dies hat den Sinn und Zweck sein Denken von Annahmen des Klassischen
Völkerrechtes abzugrenzen, die zwischen dem Westfälischen Frieden (1648) und
dem 1.Weltkrieg (1914-1918) in Europa vorherrschend waren und die teilweise
noch heute nachwirken. In diesen traditionellen Vorstellungen wurde dem Staat
eine fast absolute Souveränität für seine äußeren und inneren Angelegenheiten
zugestanden. Nach außen besaß jeder Staat das Recht, Kriege zu führen und auf
diese Art seine Rechtsstandpunkte durchzusetzen. Nach innen konnte der Staat
weitgehend selbst entscheiden, wie er seine Bürger behandelt. Rawls meint dazu:
“Aus meiner Sicht ist die Gewährung dieser Autonomie ein Fehler.”[354] Stattdessen meint er, dass in einem zeitgemäßen Recht
der Völker die Souveränität umformuliert werden muss: Die Kriegsführung soll
nicht generell gestattet sein, sondern nur unter bestimmten normativen
Bedingungen; die Staaten sollen nicht das Recht haben, mit ihrem Volk beliebig
verfahren zu können, sondern müssen auf die Respektierung grundlegender
Menschenrechte verpflichtet werden.
7.6. Die
gerechte Kriegsführung
Neben einem
Idealzustandes des “Rechtes der Völker” konzipiert John Rawls auch eine
“nichtideale Theorie”, die sich mit den Problemen beschäftigt, “die sich aus
den nichtidealen Bedingungen unserer Welt mit ihren großen Ungerechtigkeiten
und weitverbreiteten Übeln ergeben.”[355] Diese Übel machen nach Rawls unter Umständen einen
“gerechten Krieg” notwendig - als eine Art Korrekturmechanismus, der zu mehr
Moralität führen soll. Er plädiert für das “Recht wohlgeordneter Völker zur
Kriegsführung”.
Dieses
umfasst u.a. das Recht auf Selbstverteidigung, das freilich jeder Gesellschaft
(auch z.B. einer “wohlwollend-absolutistischen”) zukommt, “die nicht aggressiv
ist und die Menschenrechte ehrt”.[356] Diese Formulierung impliziert, dass sogenannten
Schurkenstaaten das Recht auf Selbstverteidigung nicht zukommt. Ist das
wirklich so? Man kann Diktatoren eines Dritten-Welt-Landes oftmals viele
moralische Vergehen vorwerfen (von Menschenrechtsverletzungen bis hin zu
aggressiver Außenpolitik) - doch wäre es sinnvoll, die Verteidigung des eigenen
Staates gegen eine ausländische Militärintervention in die Liste der
Anklagepunkte eines Kriegsverbrechertribunals aufzunehmen? Ist es nicht die
Pflicht selbst einer schlechten Regierung, den eigenen Staat zu verteidigen?
In
Hinblick auf die Ziele des “gerechten Krieges” gilt auf jeden Fall:
“Wohlgeordnete,
liberale und achtbare Gesellschaften beginnen keinen Krieg gegeneinander, sie
führen nur dann Kriege, wenn sie aufrichtigerweise und begründetermaßen davon
überzeugt sind, dass ihr Schutz und ihre Sicherheit durch die expansionistische
Politik von Schurkenstaaten ernsthaft gefährdet sind.”[357]
Die
Erlangung wirtschaftlicher Vorteile, der Aufbau eines Weltreiches oder ähnliche
“rationale” Ziele sind nach Rawls keine Gründe für einen “gerechten Krieg”,
sondern das Programm eines Schurkenstaates. In einem “gerechten Krieg” geht es
vielmehr um die Verteidigung liberaler Institutionen und einer entsprechenden
Völkerrechtsordnung. Die Humanitäre Intervention ist zur Verteidigung der
Menschenrechte zulässig.[358]
“Ein
Schurkenstaat, der diese Rechte verletzt, muss verurteilt werden und kann in
schwerwiegenden Fällen zwangsmäßigen Sanktionen und sogar Interventionen
unterworfen werden.”[359]
Menschenrechte
müssen - im Sinne eines “ius in bello” - von der einen “gerechten Krieg”
führenden Partei respektiert werden. Neben prinzipiellen moralischen Gründen
ist dies wichtig, um “feindlichen Soldaten und Zivilisten den Inhalt dieser
Rechte am Beispiel ihrer eigenen Behandlung zu lehren.”[360] Dem traditionellen Diskriminationsprinzip wird von
Rawls insoferne Rechnung getragen, als seiner Ansicht nach in der Planung und
Durchführung eines gerechten Krieges eine Unterscheidung zwischen Führern,
Soldaten und Zivilsten eines Schurkenstaates gemacht werden muss. Die Hauptverantwortung
für einen Krieg liegt bei den Führern einer Gesellschaft, während die meisten
Soldaten und Zivilisten auch als Opfer betrachtet werden können.[361] Entsprechend liegt eine gestufte Verantwortung vor, die
in der Kriegsführung berücksichtigt werden muss.
Zivilisten
sind also im Krieg zu schützen. Von Michael Walzer übernimmt John Rawls
allerdings den Begriff der “supreme emergency” - der äußersten Notlage. Es ist
im Zusammenhang des Textes und einer Fussnote[362] klar, dass sich sein Begriff von dieser weitgehend mit
der in “Just and Unjust Wars” vertretenen Ansicht deckt. Es ist also “unter
gewissen besonderen Umständen” erlaubt “die strenge Geltung des Status’ von
Zivilisten aufzuheben, der normalerweise ausschließt, dass sie in Kriegen
direkt angegriffen werden.”[363] Der Abwurf von Brandbomben über Tokyo wird zwar genauso
verurteilt wie jener der beiden Atombomben über Japan und die Bombardierung
Dresdens, die stattfand, als die deutsche Niederlage bereits klar war. Die
Bedrohung der zivilisierten Welt durch den Nationalsozialismus war aber so
nachhaltig, dass zu gewissen Zeiten - als diese Ideologie die Welt dominierte
und ein Sieg über sie mit anderen Mitteln nicht in Sicht erschien - die
verzweifelt für die Demokratie Kämpfenden von der moralischen Forderung des
Schutzes der Zivilisten entbunden werden konnten, so dies ihren Sieg
wahrscheinlicher machte.
Das aus
dem Liberalismus abgeleitete “Recht der Völker” unterscheidet sich nach Rawls
von der christlichen Naturrechtslehre in genau diesem Punkt: Während das
göttliche Gebot die Tötung Unschuldiger in jedem Fall verbietet, “lässt (der
politische Liberalismus) die Ausnahme der äußersten Notlage zu.”[364] Es stellt sich die Frage, ob dieser historische
Fortschritt begrüßenswert ist oder nicht.
7.7. Der
ideale Staatsmann
Im “Recht
der Völker” entwirft Rawls das Ideal eines Staatsmannes, ähnlich dem Ideal
eines tugendhaften Menschen. “Staatsmänner sind Präsidenten oder
Premierminister oder andere hohe Beamte, die durch die exemplarische Ausübung
ihres Amtes und ihre Führerschaft Stärke, Klugheit und Mut beweisen. Sie führen
ihr Volk in stürmischen und gefährlichen Zeiten.” Und weiter im selben
pathetischen Stil: “Der Politiker schaut auf die nächste Wahl, der Staatsmann
auf die nächste Generation...Der Staatsmann sieht tiefer und weiter als die
anderen und erfasst, was getan werden muss.”[365]
Als Tribut
an den amerikanischen Patriotismus werden natürlich Washington und Lincoln ohne
weitere Begründung als Staatsmänner bezeichnet (für Amerikaner ist dies auch
wohl unhinterfragbar; inwieweit hier eine nachträgliche Idealisierung vorliegt,
sei dahingestellt. Lincolns Politik der Rückeroberung der sezessionistischen
Südstaaten[366] etwa war unter seinen Zeitgenossen keineswegs unumstritten).
Diese beiden werden dann mit einigen Negativbeispielen konterkariert, z.B.
richtigerweise mit Hitler, der zwar nach Rawls den Lauf der Geschichte
veränderte, aber aufgrund seiner üblen Politik kein Staatsmann war.
Napoleon
wird von Rawls dabei in einem Atemzug mit Hitler genannt; der Rang des
Staatsmannes wird auch ihm ohne weitere Erklärung abgesprochen. Dies ist für
mich eigentlich weniger verständlich, da Napoleons Politik zwar in vielen
Punkten moralisch kritikwürdig war (er war im Inneren seines Reiches ein
Diktator und entschied außenpolitische Fragen hauptsächlich auf militärischem
Weg), er aber keine dem Holocaust zur Seite zu stellenden Verbrechen zu
verantworten hat, man ihm auch einige Leistungen zugestehen kann (für die
damalige Zeit außerordentlich moderne Gesetzgebungswerke wie der Code Napleon)
und er - zumindest mir - auch von seinen persönlichen Charaktereigenschaften in
vielerlei bewundernswerter als der reaktionäre Kleinbürger Hitler erscheint.
Bismarck wird von Rawls wohl zurecht für seine Gewaltpolitik kritisiert.
Wie die
historischen Bewertungen einzelner Personen auch immer ausfallen mögen - in
einer Sache wird Rawls aber in einer Sache sehr konkret: Der ideale Staatsmann
muss seiner Meinung nach bereit sein, “einen gerechten Krieg zur Verteidigung
einer liberalen demokratischen Ordnung zu führen”.[367] Dies entspräche der Erwartung der Bürger an einen
gewählten Premierminister oder Präsidenten. Absolute Pazifisten, die Krieg
prinzipiell und unter allen Umständen ablehnen (wie z.B. die Quäker) müssen
nach Rawls von einer Bewerbung um die höchsten Ämter in einer Demokratie
ausgeschlossen werden. Ein Politiker muss auf das Wohl des gesamten
demokratischen Gemeinwesens sehen, für das die Kriegsführung unter Umständen
notwendig ist; absolute Pazifisten erkennen dies nicht und sind daher für die
höchsten Ämter im Staat ungeeignet.
Rawls’
diesbezügliche Bemerkungen entbehren nicht einer gewissen Problematik. Zunächst
einmal ist die entsprechende Frage wohl nicht so dringend. Wann ist in den
letzten fünfzig Jahren eine Demokratie untergegangen, weil sich ihr absolut
pazifistischer Präsident geweigert hätte, sie gegen eine äußere Bedrohung zu
verteidigen? Ist es zudem nicht denkbar und sogar sehr wahrscheinlich, dass ein
absoluter Pazifist, der in ein Regierungsamt kommt, sich sehr schnell zu einem
bedingten Pazifisten wandelt und seinen Standpunkt modifiziert, schon alleine
aus dem Zwang der politischen Verhältnisse heraus und aufgrund des Druckes der
ihn umgebenden und beeinflussenden Bürokratie?[368] Es ist wohl nicht notwendig, von vornherein Menschen
aufgrund ihrer Überzeugungen von politischen Ämtern auszuschließen, solange
sich Überzeugungen bei der Übernahme eines Regierungsamtes und den daraus
resultierenden Erfahrungen ändern können.
Außerdem
erscheint die Umsetzung der allgemeinen Rawls’schen Feststellungen in die
politische Praxis schwierig. Welche Behörde oder welche Einrichtung bestimmt,
ab wann die pazifistische Einstellung eines Kandidaten zu weit geht und er von der
Bewerbung um ein Amt ausgeschlossen werden muss? Ist es von hier aus nicht nur
mehr ein kleiner Schritt zu Amtsmissbrauch, Gesinnungsschnüffelei und
obrigkeitlicher Bevormundung? Zuletzt: Widerspricht Rawls sich nicht selbst,
wenn er einerseits meint, die Bürger würden unter Umständen Kriegsführung von
ihrer Regierung verlangen, andererseits er aber absolute Pazifisten von der
Wahl von vornherein ausgeschlossen sehen will? Wenn die Bürger wirklich keine
absolute Pazifisten wünschen,
erscheint dies doch Garantie genug, dass diese unter demokratischen Bedingungen
nicht gewählt werden.
Welches
Risiko ist zudem größer, was geschah in der Geschichte schon öfter? Dass eine
Regierung ein Volk zugrundegerichtet hat, weil es seine Verteidigung
verweigerte oder weil es dieses in einen vermeintlich “gerechten Krieg” treiben
musste, der dann in eine Katastrophe ausartete? Die Gefahr, die der
Selbstbehauptung des Staates von pazifistischer Seite “droht” ist
möglicherweise geringer als jene, die Kriegstreiber aller Epochen zu
verantworten haben.
7.8.
Kritik des Realismus
John Rawls
nimmt in seiner Arbeit zum “Recht der Völker” an zahlreichen Stellen gegen
jenes Paradigma der internationalen Beziehungen Stellung, das man allgemein als
“Realismus” bezeichnet. Die typische Sichtweise - die u.a. vom griechischen
Historiker Thukydides vorskizziert wurde - der realistischen Theorien ist, dass
“die Weltpolitik in einem Zustand globaler Anarchie nach wie vor durch einen
Kampf der Staaten um Macht, Einfluss und Wohlstand gekennzeichnet ist.”[369] Staaten werden auch als die wesentlichen politischen
Akteure betrachtet; sie werden als nach der “Staatsräson” Handelnde betrachtet,
d.h. nach dieser Sichtweise geht es Staaten um die Maximierung ihres
Eigeninteresses (Gewinn von Macht, Ressourcen, Territorium), das in einem
glasklaren, rationalen Kalkül und unter Absehung von moralischen Überlegungen
verfolgt wird.
John Rawls
lehnt ein solches politisches Handeln aus normativen Gründen ab. Stattdessen
fordert er politisches Handeln nach einer - auch moralische Gesichtspunkte
berücksichtigenden - Vernunft, nicht
bloß der - rein auf Maximierung des Eigennutzes bedachte - Rationalität. Rawls hält es für möglich, dass gerechte liberale
Völker - er spricht bewusst von Völkern als Hauptakteuren der internationalen
Gemeinschaft und nicht von Staaten - “ihre vitalen Interessen so beschränken,
wie es durch das Vernünftige gefordert wird.”[370] Dabei wird v.a. die Bedeutung des Kriteriums der Reziprozität hervorgehoben, das eine Achtung auf
Gegenseitigkeit im Umgang miteinander einfordert.[371] Durch die Anwendung von Gerechtigkeitsprinzipien im
Rahmen der internationalen Beziehungen entsteht “Stabilität aus den richtigen
Gründen” und nicht bloß die einzig vom Realismus für möglich gehaltene
Stabilität der internationalen Gemeinschaft aus Gründen des
Machtgleichgewichtes von Staaten.
Dem
negativen Menschenbild des Realismus (das von der Dominanz des Egoismus im
Einzelmenschen ausgeht) setzt Rawls die Möglichkeit des “moralischen Lernens”
entgegen: Im Laufe der Zeit können Einzelmenschen (und auch Völker) die -
langfristig gedachte - Vorteilhaftigkeit moralischer Regeln erkennen und sich
entsprechend danach richten; auch gegenseitiges Vertrauen kann entwickelt
werden. Die Menschen, so Rawls, sind vielleicht nicht gut, aber
besserungsfähig.[372] Und so hält er die Durchsetzung der “realistischen
Utopie” einer gerechteren Weltordnung für möglich. Auch schlimmste in der
Geschichte vorhandene Übel wie z.B. der Holocaust sollten uns von einem solchen
Glauben an eine bessere Welt nicht abhalten:
“Wir
dürfen es jedoch nicht zulassen, dass diese großen Übel der Vergangenheit und
Gegenwart unsere Hoffnungen untergraben, dass unsere Gesellschaft einmal zu
einer weltweiten Gesellschaft liberaler und achtbarer Völker gehören wird.
Andernfalls würde auch uns das falsche, böse und dämonische Handeln anderer
zerstören und deren Sieg besiegeln. Wir müssen vielmehr unsere Hoffnung stärken
und bekräftigen, indem wir eine vernünftige und arbeitsfähige Konzeption des
politisch Rechten und der Gerechtigkeit entwickeln, die sich auf die
Beziehungen zwischen Völkern erstreckt.”[373]
Ein
Argument, das John Rawls gegen das negative Menschenbild des Realismus
vorbringt könnte man so umschreiben, dass es nicht zutreffen kann, weil es nicht zutreffen darf. Und obwohl er am Anfang seines
Buches sich eigentlich zu einer realistischen Betrachtung des Menschen bekennt[374], lässt er sich gegen Ende zu folgender erstaunlicher
Bemerkung hinreißen:
“Wenn eine
annehmbar gerechte Gesellschaft der Völker, deren Mitglieder ihre Macht
vernünftigen Zielen unterordnen, nicht möglich ist, und Menschen im Großen und
Ganzen amoralisch, wenn nicht unheilbar zynisch und egozentrisch sind, müsste
man sich mit Kant fragen, ob es sich für Menschen lohnt, auf Erden zu leben.”[375]
Hier
stellt sich tatsächlich die bange Frage: Lohnt es sich nun oder hat es, wie
Kant in den “Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre” meint, einen
“Wert”, “dass Menschen auf Erden leben”?[376]
Es spricht
vieles dafür, die Frage zu bejahen, selbst wenn sein Wesen nicht die von Rawls
erhoffte Tugensdhaftigkeit besäße, sondern der Realismus im Recht wäre. Der
Mensch ist eben so, wie er ist - und trotz seiner Schwächen das Maß aller
Dinge, auch das der politischen Moral. Und wenn sein Wesen den Anforderungen
eines bestimmten Moralsystems nicht genügen sollte, ist dies meiner Meinung
nach noch lang kein Grund, über den Wert seines Daseins zu räsonnieren oder ihn
gar gedanklich von Erden vertilgen zu wollen, sondern viel eher ein Grund, ein
entsprechendes Gedankengebäude entweder in manchen Teilen zu ändern oder aber
ganz zu verwerfen. Der Mensch hingegen sollte doch wohl von keinem Moralsystem
verworfen werden, dass für sich den Anspruch erhebt, “menschlich” zu sein.
Auch
andere bange Fragen drängen sich bei Lektüre des besprochenen Textes auf: Das
Spätwerk des John Rawls über das sogenannte “Recht der Völker” - ist es nicht
in der Gesamtheit oberflächlicher, kriegerischer und weniger menschlich als
sein einstiger von Pazifismus durchdrungener, großartiger Entwurf der
liberal-demokratischen Gesellschaft seiner “Theorie der Gerechtigkeit? Wohin
ist jene Sympathie verschwunden, die sein Hauptwerk noch für den Pazifismus
erkennen ließ? Folgt Rawls’ späte Philosophie nicht genau jener falschen
Richtung, in welche - nach der Ansicht vieler Kritiker - die Politik seines
Heimatlandes, des einstigen Hortes der Freiheit und der Menschenrechte, zu
entgleiten droht? Ist die Entwicklung der Rawls’schen Philosophie damit nicht -
im negativsten Sinne des Wortes - Zeitgeist?
8. Carl Schmitt versus Michael Walzer
8.1. Warum ein Vergleich?
Michael Walzer publizierte in den 70ern ein Werk, das in vielfacher
Hinsicht bis heute als “Klassiker” der Gerechten-Kriegs-Theorie gelten kann: “Just
and Unjust Wars”. Jeder historische Abriss der Gerechten-Krieg-Theorie ohne
Bezugnahme auf Walzers Werk wäre unvollständig. In diesem Kapitel soll dieses
Werk aber auf eine besondere Art dargestellt werden, nämlich in
Gegenüberstellung mit dem eines Mannes, der in vielfacher Hinsicht als sein
“natürlicher Antipode” gelten kann: Carl Schmitt. Dass auch auf seine Ansichten
werden im gegenwärtigen Diskurs rund um die Humanitäre Intervention immer
wieder zurückgegriffen werden, lässt sich schon alleine an dem Umstand
illustrieren, dass Jürgen Habermas seinen bekannten und in der Einleitung kurz
besprochenen Aufsatz zum Kosovo-Krieg mit einem Schlagwort Schmitts betitelt
(“Humanität, Bestialität”) und auch im Text mehrmals auf den auf die Nachwelt
einflussreichen, aber zutiefst reaktionären Denkers eingeht. Aus dem Vergleich
sollen Informationen gewonnen werden, die dann in die Conclusio des Teil II
einfließen.
8.2. Die Lehre Carl Schmitts
8.2.1. Politik als Feindschaft
In seiner Schrift “Der Begriff des Politischen” sucht Carl Schmitt nach
einem Gegensatzpaar, welches das Politische seinem Wesen nach charakterisiert.
Für den Bereich der Moral z.B. wäre ein solches Gegensatzpaar “Gut - Böse”; für
die Ökonomie “Rentabel - Unrentabel”. Für die Politik liegt die wesentliche
Unterscheidung, schreibt er, beim Gegensatzpaar “Freund und Feind”.[377] Politik ist Feindschaft, zumindest nach
Carl Schmitt.
Schmitt versucht seine Begriffsbestimmung u.a. dadurch zu untermauern,
dass er auf den polemischen Charakter aller politischer Begriffe hinweist.[378] Und tatsächlich fällt es nicht schwer,
solche Polemiken finden. Die radikale Einteilung der Welt in “Bourgeoisie” und
“Proletarier” durch die Marxisten wäre z.B. zu nennen - die kommunistischen
Begriffe sind im Prinzip Kampfbegriffe. Aber man muss nur die aktuellen
Zeitungen lesen, um viel bessere Beispiele für eine polemische Diktion gegen
politische Feinde zu finden.
Schmitts Ansicht, dass Politik Feindschaft sei, wirkt für den heutigen
Leser zunächst abstoßend; sind doch die heute allgemein anerkannten und auch
von der Politik zu verteidigenden Werte z.B. Friede, und damit Versöhnung,
Verständigung etc. Aber der Grundgedanke, dass Politik Feindschaft und jede
politische Bewegung daher in gewisser Weise zunächst eine Gegenbewegung ist,
scheint bei näherem Nachdenken dennoch nicht unplausibel. Die “Grünen” in
Österreich, denen das doch politisch sehr “rechte” Denken Carl Schmitts
sicherlich fern steht, sind ein gutes Beispiel dafür: Letzlich wurde diese
politische Gruppierung von der Anti-Atomkraft-Bewegung und dem Kampf gegen das
geplante Wasserkraftwerk Hainburg hervorgebracht; es handelte sich also
zunächst um eine Gegenbewegung. Auch in der Internationalen Politik findet man
Beispiele für das Grundmuster “Politik als Feindschaft”: Die NATO formte sich
historisch als Antwort auf die Bedrohung Europas durch die Sowjetunion; sie
entstand aus einem Kampf gegen einen Feind und befindet sich wahrscheinlich
nicht zuletzt deshalb in einer gewissen Sinnkrise, weil ihr der alte Feind abhanden
gekommen ist.
Wer ist nun der politische “Feind” nach Schmitt? Er ist nicht unbedingt
der Hässliche, nicht unbedingt der wirtschaftliche Konkurrent, auch nicht
unbedingt der Böse, obwohl ihm solche Attribute von der eigenen Propaganda
wahrscheinlich gerne zugeschrieben werden. Er ist vielmehr in erster Linie “der
andere, der Fremde”.[379] Die Freund-Feind-Dichotomie ist also mit
einer Vorstellung von der Homogenität eines Volkskörpers verknüpft.[380] Warum ist dieser andere, dieser Fremde, ein
bekämpfenswerter Feind? Warum muss man jemanden anfeinden und bekämpfen, nur
weil er anders ist als man selbst?
Weil dieser andere, so Schmitt, “die Negation der eigenen Art der
Existenz bedeutet und deshalb abgewehrt und bekämpft wird, um die eigene,
seinsmäßige Art von Leben zu bewahren”.[381] Schmitts Ansichten sind, wie man sieht,
nicht unbedingt der Inbegriff der Toleranz der Andersartigkeit. Eben diese
Andersartigkeit muss nach Schmitt bekämpft werden, damit die eigene Lebensweise
behauptet werden kann. Die eigene Lebensweise zu überdenken wäre für ihn
wahrscheinlich Kapitulation; Offenheit und Toleranz anderen Kulturen gegenüber
wahrscheinlich entweder Heuchelei oder Landesverrat. Schmitt wäre sicher auch
kein Anhänger der “multikulturellen Gesellschaft”. Dass man mit seinen
Argumenten auch die Vernichtung des “anderen” rechtfertigen kann - zum Thema
“Schmitts Antisemitismus” ist weiter unten noch die Rede -, stimmt im Zeitalter
nach Auschwitz bedenklich.[382] Ebenso ist bedenklich, dass Schmitts
Ansicht auch zum Extremismus neigt, betont er doch auch, dass je intensiver
diese Feindschaft gefühlt und gelebt ist, umso mehr Politik realisiert wird.[383]
8.2.2. Gegen Pazifismus und
“diskriminierenden Kriegsbegriff”
Dass Carl Schmitts Ausführungen ein dynamischer, konfliktbetonter und
sicher kein pazifistischer Politikbegriff zugrundeliegt, sieht man nicht
zuletzt daran, dass er dem aus der Feindschaft resultierenden “Kampf” in der
Politik eine beträchtliche Bedeutung zuschreibt. “Denn zum Begriff des Feindes
gehört die im Bereich des Realen liegende Eventualität eines Kampfes”.[384] Ein solcher Kampf enthält auch die reale
Möglichkeit des Tötens und kann so zu einem echten Krieg eskalieren. Ein Krieg
muss “als reale Möglichkeit vorhanden bleiben, solange der Begriff des Feindes
einen Sinn hat.”[385] Das heißt nicht, dass es immer faktisch
Krieg gibt. Das heißt aber, dass er potenziell immer vorhanden ist. Es kann
also auch tausend Jahre Frieden in der Politik in dem Sinne geben, dass keine bewaffneten
Auseinandersetzungen stattfinden. Aber es kann niemals eine Zeit in der Politik
geben, wo bewaffnete Auseinandersetzungen nicht zumindest möglich sind, wo sie
wie ein Damokles-Schwert über den Köpfen der Menschen schweben. Krieg ist nach
Schmitt also nicht Ziel der Politik, weswegen er sich gegen den Vorwurf des
Militarismus oder Bellizismus verwehrt[386], aber eben immer reale Möglichkeit.
Um Schmitts Thesen zum “diskriminierenden Kriegsbegriff” ausreichend
würdigen können, muss man auf den Wandel vom “klassischen” zum “modernen”
Völkerrecht eingehen. Schmitt lebte zur Zeit dieses Wandels, dieses
Heraubildens einer neuen Völkerrechtsordnung, die sich heute schon wesentlich
weiter entfaltet hat als zu Schmitts philosophischer “Blütezeit”. Das klassische
Völkerrecht stellte die Souveränität der Staaten in den Mittelpunkt seiner
Überlegungen; zu dieser Souveränität gehörte für das klassische Völkerrecht
auch das ius belli, das Recht, Kriege zu führen. Es kann kein Zweifel bestehen,
dass auch Schmitt diese Ansicht teilt.[387] Die Grundtendenz der Veränderung vom
klassischen zum modernen Völkerrecht beschreibt Otto Kimminich so: “Krieg und
Frieden waren die beiden Rechtszustände, die im klassischen Völkerrecht ohne
Werturteil nebeneinandergestellt wurden. Erst die im 20.Jahrhundert entstehende
neue Völkerrechtsordnung hat die Erhaltung des Friedens zur obersten
Rechtspflicht gemacht.”[388]
Die souveränen Staaten, die keine höhere Gewalt über sich duldeten,
durften im klassischen Völkerrecht zum Krieg als Mittel der Rechtsdurchsetzung
greifen; es wurde strikt zwischen den beiden Rechtszuständen “Krieg” und
“Frieden” und entsprechend auch zwischen einem “Kriegsrecht” und einem
“Friedensrecht” unterschieden. Der Krieg wurde als legitim angesehen und
ethisch neutral bewertet. Aus all dem wird insbesonders ersichtlich, dass das
klassische Völkerrecht nicht auf Kriegsverhütung angelegt war (allerdings gab
es Versuche, die negativen Auswirkungen des Krieges zu begrenzen, es wurde also
eine “Hegung” des Krieges betrieben, in dem gewisse Praktiken im Krieg verboten
wurden, z.B. Übergriffe auf die Zivilbevölkerung oder Zerstörung von
Kulturgütern).
Aber der Krieg als Gesamtheit war nicht verboten; und so konnte sich mit
ihm keine Strafvorstellung verbinden. Der erste Weltkrieg hat dieser Sichtweise
ein Ende gesetzt. Durch die immer schrecklichere Wirkung zeigenden
Massenvernichtungswaffen und die unglaublichen Tötungskapazität der modernen
industriellen Gesellschaften wurde die Perspektive des klassischen Völkerrechts
fragwürdig; und so “erwuchs der feste Wille, dem System des klassischen
Völkerrechts ein Ende zu bereiten und das Kriegsverbot an die Stelle der
Kriegsfreiheit zu setzen.”[389]
Im Zentrum des modernen Völkerrechts steht das v.a. in der UN-Charta
formulierte “Allgemeine Gewaltverbot”, also das Verbot der Anwendung oder
Androhung von Gewalt in internationalen Beziehungen, und seine Kehrseite, die
allgemeine Friedenspflicht, also die Pflicht der Staaten, internationale
Streitigkeiten auf freidlichem Wege beizulegen. Nach Kimminich ist vom Recht
der souveränen Staaten zum Kriege nichts mehr übriggeblieben. Die Staaten haben
nicht mehr die Möglichkeit, Krieg oder Frieden zu wählen, sondern sind Kraft
des allgemeinen Völkerrechts verpflichtet, den Frieden zu erhalten.[390]
Um den Weltfrieden zu schützen, erdachten die Schöpfer der Vereinten
Nationen, der Nachfolgeorganisation des früheren Völkerbundes, das System der
“kollektiven Sicherheit”. Die Grundidee lautet: “alle Mitglieder der Vereinten
Nationen würden sich im Falle eines Friedensbruchs gegen den Aggressor wenden
und ihn niederzwingen.”[391] Dieses System funktioniert in der
gegenwärtigen Weltpolitik nur bedingt. Wesentlich effizienter sind regionale
Systeme der kollektiven Verteidigung, die auch durch Art.51 der UN-Charta abgedeckt
sind.[392] Auch Methoden der friedlichen
Streitbeilegung wurden entwickelt, z.B. wurde der Internationale Gerichtshof
als unabhängige Institution der UNO geschaffen; Staaten können sich an ihn
wenden, um ihre Streitigkeiten per Schiedsspruch auf der Basis des Völkerrechts
entscheiden zu lassen - wobei die Wahrnehmung der internationalen
Schiedsgerichtsbarkeit noch eine freiwillige sein muss.[393] Die Bestrafung von Völkerrechtsverbrechern
wird vom modernen Völkerrecht auch immer weiter entwickelt, wie man am Beispiel
des Internationalen Kriegsverbrechertribunals in Den Haag sieht, das
Völkerrechtsverletzungen in Jugoslawien seit 1991 verfolgt, unschwer erkennen
kann. Und ausgehend von der Logik des modernen Völkerrechts, das den Krieg als
Verbrechen ansieht, muss Kriegsführung, insbesonders, wenn sie grausame
Dimensionen annimmt, auch bestraft werden. Und tatsächlich muss das System der
weltweiten Friedenssicherung “Stückwerk bleiben, solange noch irgendwo Menschen
an verantwortlicher Stelle handeln, die der Meinung sind, sie könnten sich den
Folgen einer Missachtung des Rechts ohne weiteres entziehen.”[394]
Schmitt ist wie gesagt ein Kritiker dieser Völkerrechtsentwicklung; er
lehnt den modernen Völkerrechtsbegriff vom “Krieg als Verbrechen” ab und nennt diesen
Begriff den “diskriminierenden Kriegsbegriff”. Was stört den deutschen Denker,
der zeitweise mit dem Nazitum sympathisierte und im Laufe seiner Schriften
immer wieder mit einiger Empörung z.B. gegen die Sanktionen des Völkerbundes
gegen Italien im Zuge des Abessinienkriegs[395] und gegen Verurteilung der Gesetze
Hitler-Deutschlands in der völkerrechtlichen Fachliteratur Partei ergreift?[396] (Dyzenhaus spricht in diesen und ähnlichen
Zusammenhängen von der “vollendeten Speichelleckerei” gegenüber den Nazis).[397]
Schmitt kritisiert u.a., dass das moderne Völkerrecht der Neutralität den
Boden entzieht, die seiner Meinung nach jedoch unbedingt Sinn macht. Die
Neutralität ist ein Produkt des klassischen Völkerrechts. Sie beruht auf der
Idee, dass sich der Staat - moralisch indifferent - für Krieg oder Frieden
entscheiden kann. Neutralität ist die Entscheidung für den Frieden im Sinne
einer generellen Nicht-Einmischung in andere Konflikte. Wie kann man aber
neutral bleiben, wenn derjenige, der einen Krieg gegen einen anderen Staat
begonnen hat, nun ein internationaler Kriegsverbrecher ist? Ist man dann nicht
moralisch verpflichtet, Partei zu ergreifen? Kann man neutral sein in dem
Sinne, dass man beschließt, dem “Opfer” gegen den “Täter” nicht zu helfen?
“Gegenüber dem Friedensbrecher gibt es keine Neutralität”, schreibt Schmitt.[398] Tatsächlich steckt in diesem Argument auch
nach Kimminichs Meinung ein diskussionswürdiger Kern.[399]
Damit gibt man aber die positiven politischen Möglichkeiten aus der Hand,
welche die Neutralität bietet. Außerdem riskiert man, meint Schmitt, durch den
“diskriminierenden Kriegsbegriff” und die de facto Abschaffung der Neutralität
bisher unbekannte Ausweitungen des Krieges.
Im Prinzip wird durch das moderne Völkerrecht der herkömmliche Begriff des
Krieges abgeschafft, so Schmitt. Im Prinzip gäbe es nunmehr Polizeiaktionen
eines internationalen Bundes im Sinne einer “kollektiven Sicherheit” auf der
einen Seite und verbrecherische Kriegsführung auf der anderen Seite (sieht man
von den widerwillig tolerierten Kriegen ab).[400]
Die “Entnationalisierung” des Krieges führt nach Schmitt auch zur
“Aufspaltung der bisherigen völkerrechtlichen Voraussetzung einer inneren,
geschlossenen Einheit des staatlich organisierten Volkes.”[401] Denn in der Regel wird von der
internationalen Welt unterschieden zwischen Regierenden und Regierten, wobei
erstere als verbrecherisch charakterisiert werden. So wird nach Schmitt die
Einheit des jeweiligen politischen Gebildes aufgelöst. Und er zitiert den
amerikanischen Präsidenten Wilson, der im Zuge des Kriegseintritts der USA
gegen Deutschland proklamierte: “Wir haben keinen Streit mit dem deutschen
Volk.”[402] Schmitt sieht die Zerstörung des Gedankens
der völkischen Einheit und der Aufhetzung der Regierten gegen die Regierenden
als perfid an.
Neben den “internationalen Polizeiaktionen” im Namen des Friedens stört
Schmitt auch zweifellos, dass das moderne Völkerrecht die
Menschenrechtssituation in einem Staat nicht als dessen innere Angelegenheit
ansieht, sondern als Angelegenheit aller Staaten; und es stört ihn zweifellos,
dass unter gewissen Umständen auch Interventionen möglich sind.[403] Schmitt lehnt diese Aktionen nicht zuletzt
deshalb ab, weil ein Krieg im Namen des Friedens oder im Namen der
Menschenrechte eine Moralisierung des Krieges darstellt. Diese hält Schmitt für
gefährlich, weil sie zur Dämonisierung, Entwertung und letztendlich grausamen
Behandlung des Gegners führt. Genau dies ist auch das Problem der
Rechtfertigung eines Krieges mit dem Hinweis, es der der “endgültig letzte
Krieg der Menschheit”.[404]
“Solche Kriege sind notwendigerweise besonders intensive und
unmenschliche Kriege, weil sie, über das Politische hinausgehend, den Feind
gleichzeitig in moralischen und anderen Kategorien herabsetzen und zum
unmenschlichen Scheusal machen müssen, das nicht nur abgewehrt, sondern
definitiv vernichtet werden muss, also nicht mehr nur ein in seine Grenzen
zurückzuweisender Feind ist.”[405] Dadurch ist auch eine Zivilisierung und
Hegung des Krieges, wie im klassischen Völkerrecht versucht, endgültig außer
Kraft gesetzt.
Letztlich vermutet Schmitt hinter dem modernen Völkerrecht einen
“universalistischen Herrschaftsanspruch auf Neuordnung der Welt”.[406] Sogar einen “totalen Weltkrieg” hält
Schmitt aus diesen und anderen Gründen für den Widerstand gegen den
“diskriminierenden Kriegsbegriff” des modernen Völkerrechts für gerechtfertigt.[407] Hier wird erneut der problematische
Charakter von Schmitts Schriften ersichtlich. Es stellt sich die Frage, ob hier
nicht ein Nazi-Denker die bösen Absichten der eigenen Bewegung anderen
unterstellt.
Dennoch drängt sich aie Frage auf, ob in Schmitts (in seiner
nationalsozialistischen Grundtendenz zweifellos abzulehnendem) Denken nicht
vielleicht doch ein diskussionswürdiger Kern steckt. Wird die Neutralität durch
das moderne Völkerrecht aus den Angeln gehoben? Ist eine Hegung des Krieges
noch möglich oder führt eine Kriegsführung im Namen der Menschenrechte
möglicherweise zu einer unnötigen Dämonisierung des Gegners, die den Konflikt
eher verschärft als mindert? Besteht die Gefahr, dass manche Staaten hinter der
Berufung auf die höheren Prinzipien des Friedens und der Menschenrechte, für
die sie angeblich Krieg führen, tatsächlich einen imperialistischen
“Herrschaftsanspruch” verbergen könnten?
Zumindest auf die zweite Frage nach der Hegung des Krieges bemüht sich
Otto Kimminich zu antworten. Er schreibt, dass heute trotz Kriegsverbot noch
immer Krieg geführt werden kann, sei es im Verteidigungsfall oder aufgrund
einer internationalen Intervention. Dann hielte das moderne Völkerrecht noch
immer das vom klassischen Völkerrecht übernommene humanitäre Kriegsrecht
bereit. Dieses hat noch immer Gültigkeit.
“Für (den Kriegsfall) hält das Völkerrecht auch heute noch das ius in
bello bereit, das Rechtsregeln für die Kriegsführung und die Behandlung der
Kombattanten und Nichtkombattanten im Kriege, die Stellung der Neutralen, den
Schutz von Kulturgütern und so weiter enthält. Die mildernde und
konfliktbegrenzende Kraft der Völkerrechtsnormen besteht daher nach wie vor.”[408]
Allerdings schränkt er zugunsten Schmitts ein:
“Allerdings kann nicht geleugnet werden, dass die
Aggressor-Verteidiger-Position, in der nach der theoretischen Konstruktion
allein noch Kriege möglich sind, die Staaten in die Versuchung führt, sich
selbst jeweils als im Recht befindlichen Verteidiger herauszustellen und den
Kriegsgegner als Völkerrechtsbrecher zu brandmarken. In dieser Situation liegt
wiederum die weitere Versuchung nahe, dem Rechtsbrecher die Wohltaten des
humanitären Völkerrechts vorzuenthalten.”[409]
Diese Versuchung liegt nahe, Kimminich betont aber (und dies spricht
gegen Schmitt), dass das Völkerrecht dies nicht zulassen würde. Auch die
Zivilbevölkerung und die Soldaten des zum Aggressor gestempelten Staates haben
Anspruch auf Schutz durch das humanitäre Völkerrecht.
Wird dieser Schutz vorenthalten, “...beruht daher die Verschärfung des
Konflikts nicht auf einer Anwendung des Rechts, sondern geradezu auf einer
Missachtung des Rechts.”[410]
“Wer Menschheit sagt, will betrügen”
Eng mit Schmitts Kritik des Pazifismus verbunden ist auch seine Kritik
aller humanistischen Ideen, also aller Ideen, die sich an der “Menschheit”
orientieren. Sehr berühmt ist in diesem Zusammenhang Carl Schmitts Äußerung
“Wer Menschheit sagt, will betrügen”, ein eigentlich Proudhon entlehnter Satz.[411] Was meint er damit?
Die Menschheit kann nach Schmitts Ansicht keine Kriege führen, denn sie
hat keine Feinde, zumindest nicht auf diesem Planeten. Der Begriff der
Menschheit und der des Feindes schließen einander aus, weil der Feind ja nicht
aufhört, Mensch zu sein. Dass Kriege im Namen der Menschheit geführt werden,
ist entweder falsch, oder heißt nur, dass ein Staat oder eine Staatengruppe
einen Feind bekämpft und dies im Namen der “Menschheit” zu tun in Anspruch
nimmt. Eine machtpolitsche Gruppierung missbraucht den Begriff also, um sich
selbst auf Kosten des Gegners mit der “Menschheit” zu identifizieren. Carl
Schmitt bezeichnet den Begriff “Menschheit” als “besonders brauchbares
ideologisches Instrument imperialistischer Expansion und in ihrer
ethisch-humanitären ein spezifisches Vehikel des ökonomischen Imperialismus.”[412]
Die Beschlagnahme des Wortes “Menschheit” kann nach Schmitt unmenschliche
Konsequenzen haben, nämlichen den “schrecklichen Anspruch”, “dass dem Feind die
Qualität des Menschen abgesprochen” wird, “dass er hors-la-loi und hors
l’humanité erklärt und dadurch der Krieg zur äußersten Unmenschlichkeit
getrieben werden soll.”[413] Der Feind wird also im Namen der Menschheit
entmenschlicht; und in der Folge werden auch Unmenschlichkeiten an ihm begangen
werden, so Schmitt; dies ist die einzige praktische Bedeutung des Begriffes.
Ansonsten handelt es sich beim Begriff “Menschheit” um eine universale, soziale
Idealkonstruktion, die aufgrund des Mangels eines Freund-Feind-Schemas aller
praktischen Politik entzieht.
Sich unter Berufung auf humanistische Ideen dem Freund-Feind-Gegensatz
entziehen zu wollen, hält Schmitt für aussichtslos und dumm. Ich zitiere
diesbezüglich seine Meinung, diesmal etwas länger, weil ich micht ausdrücklich
nicht mit dieser Formulierung identifizieren kann:
“Entfällt diese Unterscheidung, so entfällt das politische Leben
überhaupt. Es steht einem politisch existierenden Volk keineswegs frei, durch
beschwörende Proklamationen dieser schicksalvollen Unterscheidung zu entgehen.
Erklärt ein Teil des Volkes, keinen Feind mehr zu kennen, so stellt er sich
nach Lage der Sache auf die Seite der Feinde und hilft ihnen, aber die
Unterscheidung von Freund und Feind ist damit nicht aufgehoben. Behaupten die
Bürger eines Staates von sich, dass sie persönlich keine Feinde haben, so hat
das mit der Frage nichts zu tun, denn ein Privatmann hat keine politischen
Feinde; er kann mit solchen Erklärungen höchstens sagen wollen, dass er sich
aus der politischen Gesamtheit, zu welcher er seinem Dasein nach gehört,
herausstellen und nur noch als Privatmann leben möchte.
Es wäre nach Schmitt ferner ein Irrtum zu glauben, ein Volk könnte durch
eine Freundschaftserklärung an alle Welt oder dadurch, dass es sich freiwillig
entwaffnet, die Unterscheidung von Freund und Feind beseitigen. Auf diese Weise
wird die Welt nicht entpolitisiert und nicht in einen Zustand reiner Moralität,
reiner Rechtlichkeit oder reiner Wirtschaftlichkeit versetzt. Wenn ein Volk die
Mühen und das Risiko der politischen Existenz fürchtet, so wird sich eben ein
anderes Volk finden, das ihm diese Mühen abnimmt, indem es seinen ‘Schutz gegen
äußere Feinde’ und damit die politische Herrschaft übernimmt; der Schutzherr
bestimmt dann den Feind, kraft des ewigen Zusammenhangs von Schutz und
Gehorsam.”
Eine solche Ideologie hat uns schon zweifellos zahlreiche vermeidbare
Kriege beschert: Schmitt ist gegen Abrüstung, gegen Humanismus, für das “Wenn
du nicht für mich bist, dann bist du gegen mich”. Für ihn ist der, welcher sich
nicht die Feindbilder seiner Umgebung zueigen machen will, und der
innerlicheinen Rest der von Schmitt so verpönten “Menschlichkeit” bewahrt, ein
Verräter.
8.2.3. Ablehnung der Weltstaatsidee
Einen Weltstaat kann es nach Schmitt nicht geben, denn in einer Welt mit
nur einem Staat gäbe es keine feindlichen Staaten, daher keine Feindschaft,
daher keine Politik, daher auch keinen Staat, daher auch keinen Welt“staat”.[414] Selbst, wenn es gelänge, die ganze Welt in
eine Verwaltungseinheit zu fassen, wäre noch immer keine einheitliche
Menschheit hergestellt; die Bewohner einer Mietskaserne und die Gasbezieher
desselben Gaswerkes werden auch gemeinsam verwaltet und haben ansonsten nichts
miteinander zu tun. Außerdem: Welche Menschen werden diesen “Weltstaat”
beherrschen?[415] Wird die Entscheidung darüber so einfach
getroffen werden, ohne Krieg? Kann der “Weltstaat” den “Weltfrieden”
garantieren? Schließlich will ja jeder gern die Welt beherrschen...
Von der Idee eines Kant’schen Friedensbundes[416], eines Staatenbundes also, der den Frieden
zwischen den Mitgliedern durch gemeinsame Institutionen sichert, hält Schmitt
ebenfalls nichts. Wer garantiert, dass ein Bund von, sagen wir, fünfzehn oder
neunzehn Staaten trotz seiner Friedensbeteuerungen und ursprünglichen
Friedensabsichten, nicht seinerseits imperialistisch würde? Ein solcher “Bund”
könnte zu einem “Bündnis” umfunktioniert und ein Werkzeug des Imperialismus
werden.[417]
8.2.4. Die Idee der Menschenrechte
als Vehikel des Imperialismus
Die schlimmste Verwirrung entsteht nach Schmitt dann, wenn der Begriff
des Rechts analog zum Begriff des Friedens “politisch benutzt wird, um klares
Denken zu verhindern, die eigenen politischen Bestrebungen zu legitimieren und
den Gegner zu disqualifizieren oder zu demoralisieren.”[418] Naturrechtliche Überlegungen (z.B. die
Menschenrechte fallen darunter) seien besonders dazu geeignet,
Weltherrschaftsansprüche zu untermauern. Die Berufung auf “ein höheres und
richtigeres Recht” ist seiner Meinung nach eine leere Phrase, wenn sie nicht
den Sinn hat, dass bestimmte Menschen aufgrund dieser “höheren Ordnung” über
andere Menschen herrschen. Und dies sei daher auch die Hinterabsicht solcher
Gedanken, unterstellt Schmitt.[419]
8.2.5. Pluralismus: ja und nein
“Aus dem Begriffsmerkmal des Politischen folgt der Pluralismus der
Staatenwelt”.[420] Denn Politik braucht eben nach Schmitts
Definition einen Feind; damit die reale Möglichkeit einer Feindschaft gegeben
ist, müssen mindestens zwei Mächtegruppen gegeben sein. Wenn es eine in einem
“Weltstaat” geeinte Menschheit gäbe, würde der Feind verloren gehen und damit
das Politische. Politik aufhören zu existieren - und damit der Kern des
Staatlichen.
“Ob und wann dieser Zustand der Erde und der Menschheit eintreten wird,
weiß ich nicht. Vorläufig ist er nicht da.” Und es wäre eine unehrliche
Fiktion, ihn, “jenen idyllischen Endzustand der restlosen und endgültigen
Entpolitisierung” als vorhanden anzunehmen.[421] Daran, dass er die Idee des Weltstaates
aber letztlich für eine Illusion hält, lässt Schmitt genausowenig Zweifel wie
daran, dass dies seiner Meinung nach, wie oben gesagt, das Ende von Politik und
Staat überhaupt bedeuten würde. Es ist ebenfalls klar, dass Schmitt einen
solchen Zustand auch nicht als wünschenswert empfände. Der Verlust des
Kampfes wäre für ihn wahrscheinlich “the loss of all that is noble and
worthwhile; it is the loss of live itself.”[422]
Der Pluralismus der Staatenwelt ist für Schmitt also denknotwendig, um Politik
aufrechtzuerhalten - woher sollte man sonst seine Feinde nehmen? Aber
Pluralismus im Inneren des Staates hält er für ein Unding, für eine Auflösung
jedes Staates überhaupt. Denn für Schmitt ist ein funktionierender Staat, der
diesen Namen verdient, vor allem gekennzeichnet durch seine Einheit.
“Dass der Staat eine Einheit ist, und zwar eine maßgebende Einheit,
beruht auf seinem politischen Charakter. Eine pluralistische Theorie ist
entweder die Staatstheorie eines durch einen Föderalismus sozialer Verbände zur
Einheit gelangenden Staates oder aber nur eine Theorie der Auflösung oder
Widerlegung des Staates. Wenn sie dessen Einheit bestreitet und ihn als
‘politische Assoziation’ wesensgleich neben andere, z.B. religiöse oder
ökonomische Ansätze stellt, so muss sie vor allem die Frage nach dem
spezifischen Inhalt des Politischen beantworten.”[423]
Schmitt meint, dass die pluralistische Staatstheorie eben dabei versagt,
nämlich dem Politischen gerecht zu werden. Der Staat stellt eine Einheit dar,
die selbst völlig verschiedene Gruppen umgreift und durchdringt; und diese
Einheit wird nicht zuletzt durch das Freund-Feind-Schema gewährleistet.
“In Wahrheit gibt es keine politische ‘Gesellschaft’, oder ‘Assoziation’,
es gibt nur eine politische Einheit, eine politische ‘Gemeinschaft’. Die reale
Möglichkeit der Gruppierung von Freund und Feind genügt, um über das bloß
Gesellschaftlich-Assoziative hinaus eine maßgebende Einheit zu schaffen, die
etwas spezifisch anderes und gegenüber den übrigen Assoziationen etwas
Entscheidendes ist.”[424]
8.2.6. Der rational
unrechtfertigbare Krieg
Der Staat als politische Einheit verfügt nach Schmitt über das ius belli,
das Recht, Kriege zu führen. Es ist seine bedeutendste Machtbefugnis. Der Staat
darf nach Schmitt von seinen Angehörigen Todesbereitschaft und
Tötungsbereitschaft verlangen im Krieg mit den auf der “Feindesseite” stehenden
Menschen. Er darf auch in Krisenzeiten den “inneren Feind” definieren und mit
Gewalt unschädlich machen, um die Einheit zu bewahren.[425] Schmitts Staat ist, wie man sieht, sehr
friedliebend und tolerant.
In einem auf friedlichen Handel basierenden Staat, einer demokratischen
Industrie- und Konsumgesellschaft, meint Schmitt, macht ein solcher Krieg
keinen Sinn. Soll man von den Individuen verlangen, für den Wohlstand der
Überlebenden zu sterben? Oder für die “Konsumkraft der Enkel”? Einen Krieg im
Namen des Friedens oder der Menschlichkeit zu führen hält Schmitt wie gesagt
für Betrug.[426]
Krieg ist nach Schmitt - sieht man von seinem Argument ab, dass man den
Feind ja wegen seiner Andersartigkeit töten “muss” - überhaupt nicht
rechtfertigbar; und hier trifft er sich zweifellos mit den Pazifisten, nur dass
diese seine “einzige” Rechtfertigung zusätzlich auch nicht gelten lassen.
“Es gibt keinen rationalen Zweck, keine noch so richtige Norm, kein noch
so vorbildliches Programm, kein noch so schönes soziales Ideal, keine
Legitimität und Legalität, die es rechtfertigen könnte, dass Menschen sich
gegenseitig dafür töten.”[427] Krieg macht nur als Behauptung der eigenen
Existenz gegenüber dem “anderen” Sinn, der der Feind ist, eben weil er anders
ist.
8.2.7. Politische Theologie
Carl Schmitt ist ein sehr religiöser Denker, er würde sich selbst
christlich und katholisch nennen. Er interpretiert das Christentum aber auf
eine Art, die es nicht unbedingt als pazifistische und humanitäre Religion
erscheinen lassen. Sein Dogma, dass Politik Feindschaft ist und offenbar auch
sein soll, hält er z.B. durchaus für vereinbar mit dem christlichen Bibelspruch
“Liebet eure Feinde”.[428] Gemeint sei hier der “inimicus”, nicht der
“hostis”. Der “inimicus” ist der private Feind, mit ihm ist Versöhnung möglich
und sinnvoll; mit dem “hostis”, dem öffentlichen Feind, verhält sich alles ganz
anders. Auf ihn bezieht sich der Bibelspruch nach Schmitt nicht.
“Auch ist in dem tausendjährigen Kampf zwischen Christentum und Islam
niemals ein Christ auf den Gedanken gekommen, man müsse aus Liebe zu den
Sarazenen oder den Türken Europa, statt es zu verteidigen, dem Islam
ausliefern. Den Feind im politischen Sinn braucht man nicht persönlich zu
hassen, und erst in der Sphäre des Privaten hat es einen Sinn, seinen ‘Feind’,
d.h. seinen Gegner, zu lieben. Jene Bibelstelle (...) besagt vor allem nicht,
dass man die Feinde seines Volkes lieben und gegen sein eigenes Volk
unterstützen soll.”[429]
Schmitts Christ ist also nur “privat” mit versöhnlicher Liebe,
“politisch” aber mit unversöhnlicher Feindschaft erfüllt. Es stellt sich die
Frage, ob diese Differenzierung nicht sophistisch ist. Auf jeden Fall wird in
dieser Textstelle erneut jeder, der nicht in die feindselige Hetzkampagne und
die Kriegstreiberei der eigenen Nation einstimmt, in die Nähe eines
Landesverräters gerückt, der den Feind “gegen sein eigenes Volk unterstützt”.
Schmitts idealer Theologe hat das Freund-Feind-Schema ebenfalls stark
verinnerlicht. Er unterscheidet Erlöste von Nicht-Erlösten, Auserwählte von
Nicht-Auserwählten und teilt die Welt so in zwei einander gegenüberstehende,
sich ständig bekämpfende Gruppen - Freunde und Feinde eben. Aufgrund des Dogmas
der Erbsünde geht der Theologe von einem negativen Menschenbild aus; dieses
negative Menschenbild ist nach Schmitt Voraussetzung für wirklich politisches
Denken.
Der weltliche Humanist mit seinem positiven Menschenbild verneint
letztlich den Staat, weil dieser unter lauter guten Menschen eigentlich
überflüssig wäre. Der Zusammenhang zwischen “richtig” verstandener Theologie
und Politik im Sinne von Feindschaft ist daher gegeben.[430]
Entsprechend sind auch theologische und juristische Begrifflichkeit
miteinander zutiefst verwandt. “Alle prägnanten Begriffe der modernen
Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe.”[431] In diesem Zusammenhang wird der Begriff
z.B. des Staates als allmächtigen Gesetzgeber nur verständlich, wenn man ihn
mit dem Gottesbegriff in Bezug setzt. Insbesonders der Staat tritt im
juristischen und auch alltäglichen Verständnis in den Rollen auf, die
eigentlich Gott zukommen: als Wohltäter und Fürsorger, als Gnadeninstanz, als
gerechter Richter etc.[432] Erst mit dem Fortschreiten rein
naturwissenschaftlichen, atheistischen Denkens können Phänomene wie die
positive Rechtslehre von Hans Kelsen auftreten.[433] Im Prinzip ist aber Rechts- und
Staatswissenschaft für Schmitt nichts anderes als die konkrete politische
Umsetzung theologisch-philosophischer Ideen.
Der Ausnahmezustand ist für Schmitt das juristische Pendant des Wunders[434], weil in beiden die regulären Gesetze außer
Kraft gesetzt sind. Der Ausnahmezustand spielt für Schmitt nicht zuletzt
deshalb eine besondere Rolle, weil er die Souveränität auf Basis des
Ausnahmezustandes definiert. Das mit der politischen Einheit verknüpfte ius
belli gehört natürlich genauso zur Souveränität wie andere Merkmale; die
alleinige Definition als “höchste Macht” hält Schmitt aber noch für unzureichend.
Vielmehr gilt: “Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.”[435]
Der Souverän und wirkliche Herrscher des Staates ist also jener, der
feststellen kann, ob ein nationaler Notfall vorliegt und was dagegen zu tun
ist; er besitzt die Macht, die geltende Rechtsordnung ausser Kraft zu setzen;
er ist ein Teil der Rechtsordnung und steht doch außerhalb; er ist es, der die
maßgebliche politische Entscheidung trifft.
Der moderne Rechtsstaat, der die Außer-Kraft-Setzung der Rechtsordnung zu
vermeiden versucht und das modern-rationalistische Denken, das mit diesem
Extrem nichts anzufangen weiß, genießt Schmitts Sympathie zweifellos weniger
als der starke Mann, der sich über das Recht im Namen des Wohl des Staates
hinwegsetzt und der vor allem in Krisenzeiten gedeiht, genauso wie das
autoritäre Denken eines Carl Schmitt, das sich nicht umsonst nicht an der
normalen Situation, sondern am Ausnahmezustand orientiert.[436]
8.2.8. Schmitts Kritik an Hobbes
Thomas Hobbes war Carl Schmitts vielbewundertes Vorbild. In ihm sieht er
einen wahrhaft politischen Denker mit faszinierenden Einsichten. Aus der
eigenwilligen Lesart von Hobbes entwickelt Schmitt aber auch eine fundamentale
Kritik an ihm.
Schmitt stößt sich, und das ist seine Hauptkritik, vor allem an allen
Elementen des Individualismus, die in Hobbes Schriften vorkommen. Tatsächlich
ist Hobbes’ Philosophie trotz ihres autoritären Grundzuges insoferne wichtig
für die Demokratietheorie geworden, weil eben diese Elemente von späteren
Denkern rezipiert und weiter ausgebildet wurden. Aber für Schmitt sind diese
Elemente Hobbes’ größter Fehler. Er bewundert den Hobbes’schen Autoritarismus,
ist auch ohne Zweifel fasziniert von dem von Hobbes postulierten Zusammenhang
von Schutz und Gehorsam[437], hält aber den in Hobbes’ Denken
enthaltenen Individualismus (übrigens zurecht) für ein Einfallstor des
Liberalismus und der von ihm so verabscheuten Demokratie.
Der Individualismus Hobbes’ kann z.B. gezeigt werden, wenn man sich
verdeutlicht, dass im Hobbes’schen Naturzustand das sogenannte Naturrecht
existiert, also das Recht eines jeden Menschen, alles zu tun, was er will. Noch
vor der Gründung eines Staatswesens hat der Mensch nach Hobbes also gewisse
präexistierende Rechte; der Gedanke, den dann auch Locke formulierte, eben die
Aufgabe des Staates im Schutz dieser Rechte zu sehen, liegt bei einer solchen
Sichtweise nahe. Schmitt hingegen geht von einem normativen Vakuum vor der
Staatsgründung aus; seine Philosophie hat keinen Platz für vor der staatlichen
Ordnung präexistierende Rechte.[438] Aber auch nach der Schaffung einer
staatlichen Ordnung reserviert Hobbes dem Individuum gewisse zwar extrem eng
eingegrenzte, aber doch Freiheiten. Z.B. räumt Hobbes keinem Individuum das
Recht ein, den Befehlen der Obrigkeit Widerstand zu leisten; denken darf der
Einzelmensch aber über die Befehle, was er will, d.h. er muss sie nicht für
wahr halten. Das Recht auf Gedankenfreiheit lehnt Schmitt aber vehement ab; sie
erscheint ihm als Bruch im Hobbes’schen System, als Idee, die konsequent weitergedacht
und weiter ausformuliert in einem liberal-demokratischen System enden muss.[439] Dabei kommt - und hier schlägt wieder
Schmitts Antisemitismus durch - dem Judentum eine angeblich verhängnisvolle
Rolle in der weiteren Ausformulierung dieser gottlosen Idee der persönlichen
Freiheit zu, wären doch die Juden immer schon ein Feind des Leviathan gewesen
und hätten es seit jeher als wesentliche Aufgabe angesehen, diesen zu zähmen.[440] Schmitt lehnt solche Ideen, welche die
staatliche Gewalt seiner Meinung nach aushöhlen und unterminieren, sowie den
Individualismus grundsätzlich ab.[441] Er geht sogar soweit, die Schwächung der
Allgewalt des Staates durch liberale Ideen, die eben seiner Meinung nach von
den Juden ausgehen, mit der Tötung von Jesus Christus durch die Juden in
Zusammenhang zu bringen.[442]
Schmitts sehr eigenwillige Interpretation von Hobbes legt großen Wert auf
die Beobachtung, dass Hobbes nur dreimal das Wort “Leviathan” in seinem
berühmtesten Buch erwähnt; diese Stellen müssen, schließt Schmitt, besonders
entscheidend sein.
In der ersten dieser drei Stellen (am Beginn des “Leviathan”) wird der
Leviathan gleichzeitig als großer Mann und als große Maschine, also als
gigantischer, konstruierter Mechanismus aufgefasst. In der zweiten Stelle (in
Kapitel 17) nennt Hobbes den Leviathan den “sterblichen Gott”, dem die Menschen
Frieden und Schutz verdanken. In der dritten betreffenden Stelle (in Kapitel
28) sieht Hobbes den Leviathan in der Person des Regenten verkörpert; auch wird
auf die relevante Stelle im Alten Testament Bezug genommen, wo von der Macht
des Leviathan und seiner Rolle als “König der Stolzen” die Rede ist; er ist die
Macht, die in der Lage ist, alle kleineren Mächte in Schach zu halten.[443] Dies ist der mythische Rahmen, den Hobbes
für seine Theorie findet; und diese Bildersprache scheint Schmitt nicht
nebensächlich. Auch das Hobbes’sche Postulat “Jesus ist der Christ” zeigt ihn
nach Schmitt als einen zutiefst relgiösen Denker.[444] Was allerdings Schmitt für verfehlt an
diesen mystischen Bildern hält, ist, dass sie kein Freund-Feind-Schema schaffen
und daher den Kern des Politischen verfehlen.[445]
8.2.9. Schmitts Antisemitismus