Patrick Horvath

Zur Identitätsbildung Jugendlicher durch die neuen Medien

Seminararbeit in Medienpädagogik II bei Herrn Dr.Nilles

Sommersemester 1999, Universität Wien

 

1.) Welche Medien nutzen Jugendliche? In welcher Medienumwelt lebt die Jugend?

Man kann davon ausgehen, daß Medien im Alltag Jugendlicher eine dominante Rolle spielen. Dabei zeigt sich, daß die Medienumwelten, in denen Jugendliche leben, immer komplexer werden. Verschiedene Print- und audiovisuelle Medien gehören im privaten Bereich mittlerweile zur selbstverständlichen Alltagsausstattung und haben auch große Bedeutung für ihre Identitätsbildung. Die Allgegenwart der Medien und die Mediatisierung der Gesellschaft haben also auch nicht vor den Türen der Kinder- und Jugendzimmer haltgemacht.

Viele Jugendliche besitzen eine medienparkähnliche Ausstattung und konsumieren im Rahmen eines reichhaltigen Medienspektrums. Wie in allen Bevölkerungsgruppen erfreut sich das Fernsehen auch unter ihnen einer besonderen Beliebtheit und Bedeutung. Dabei sind v.a. zwei Entwicklungen zu beobachten: Einerseits die Veränderung des Fernsehens zum "Nebenbei-Medium", andererseits die immer größere Beliebtheit kommerzieller, aber insbesonders Musiksender (besonders MTV und VIVA).

Während Tageszeitungen, Zeitschriften und Illustrierte über eine hohe Reichweite unter Jugendlichen verfügen, ist doch die Bedeutung aufgrund des für sie verwendeten geringen Zeitbudgets gering. Wesentlich wichtiger sind auditive Medien aller Art, z.B. Radio, CD etc. Musik spielt eine zentrale Rolle und v.a. das Radio wird auch hauptsächlich zu diesem Zweck genutzt. Die Nutzung auditiver Medien übertrifft auch die Fernsehnutzung.

Eine wichtige Entwicklung ist ferner die steigende Bedeutung der Computermedien (PC, Spielkonsolen, Internet). Der Computer wird hauptsächlich zum Spielen genutzt. Internet-Surfen ist ganz besonders "in".

Wichtig für Jugendliche ist auch die Verwendung des Walkman. Dieses Medium scheint besonders die Individualität des Menschen zu fördern; vermag man mit seiner Hilfe doch prinzipiell jeden Ort zum individuellen, ich-bezogenen Medienort zu verwandeln. Weitere häufig genutzte Medienorte sind das Kino (vor allem in der Form des Kinocenters) und die Diskothek.

Im Gegensatz zu vielen Älteren haben Jugendliche (besonders männliche) keine Berührungsängste mit neuen Techniken und Medien. Sie gehen mit ihnen äußerst flexibel und souverän um und weisen eine hohe Mediennutzungskompetenz auf. Allerdings scheint sich die These vom "knowlegde gap" zu bestätigen, daß insbesonders Menschen gut mit neuen Medien umgehen können, die schon mit den alten gut zurechtkamen.

Wichtig erscheint aber vor allem, daß es plurale Medienwelten sind, in denen sich Jugendliche bewegen. Sie sind keineswegs an das Fernsehen allein gebunden (hier liegt, wie später ausgeführt, auch eine Kritik an Postmans Thesen).

Medien, v.a. das Fernsehen, sind für junge Menschen hauptsächlich Unterhaltungsmedien. Viele Jugendliche sind auch schon längst eine "Fast-Food-Sensualität" gewohnt, in der der rasante und schrille Wechsel von Sinn-, Ton- und Bildwelten zum Alltag gehört.

Darüber hinaus spielen Medien auch eine große Rolle bei der "Konstruktion der Wirklichkeit". Die Medien beeinflußen die Wahrnehmung der Realität; oftmals kann es auch zu einer Verwischung zwischen Medieninhalt und Realität kommen.

Ferchhoff schreibt über Jugendliche, die Medieninhalte rezipieren:

"Sie nutzen häufig mehreres gleichzeitig und sind Virtuosen der simultanen Vernetzung verschiedener, auch nichtmedialer Beschäftigungen. Mediale und nichtmediale Beschäftigungen können simultan ausgeführt werden, indem etwa allein oder mit anderen gespielt, debattiert oder gestritten, dabei ferngesehen, zwischendurch gelesen oder Musik gehört wird. Jugendliche sind mit dem ‘alles und zwar sofort’ aufgewachsen und dulden keinen längeren Schwebezustand zwischen Wunsch und Erfüllung. Das Sich-Bewegen in diesen bizarren, reizintensiven, vielgestaltigen medialen Repräsentationen von Wirklichkeit ist zu einer neuen Dimension von Jugend geworden. Der geschmeidige jugendliche Slalom-Seher ‘switcht’ - solange der Vorrat an Gags und guter Laune reicht - durch die Kanäle und reiht so Glücks- und Genußmomente an Glücks- und Genußmomente, Highlight an Highlight, Nervenkitzel an Nervenkitzel, Banales an Banales oder in einer Art ‘Verflachungsspirale’ Langeweile an Langeweile."

Ein solches Rezeptionsverhalten erscheint freilich als das blanke Gegenprogramm zum geduldigen Abwarten-Können und zur geduldigen, gelassenen Lebensplanung. Die Lebenstugenden haben sich verändert. Statt der alten Werte dominiert das Lebensgefühl des "Live fast, die young"; angesichts des allgegenwärtigen Todes durch Drogen, AIDS und Unfälle wird der erlebnisintensive "Kick" gesucht, der helfen soll, den Alltagstrott zu durchbrechen. Was zählt, ist die ekstasenhafte Feier des Augenblicks.

Jugend ist zunehmend auch Werbejugend. Die Werbung ist ein wesentlicher Teil der jugendlichen Medienumwelt. Dies wird u.a. dadurch plausibel, wenn man in Rechnung stellt, daß die meisten Menschen bereits im frühesten Kindheitsalter mit Werbung förmlich überflutet werden und Kinder wie Jugendliche bereits zu einer vielumworbenen und heiß begehrten Zielgruppe der Wirtschaft avanciert sind, wobei der Werbeaufwand immer gigantischer wird.

Werbung wird nicht nur von Jugendlichen häufig kosumiert, sondern ist auch in der Regel nicht unbeliebt. Man kann davon ausgehen, daß Jugendliche in der Regel äußerst "werbekompetent" sind, d.h. nicht immer nur die armen, verführten Wesen sind, die vollkommen unkritisch und hilflos den lockenden, bösen Buben gegenüberstehen. Sie sind durchaus in der Lage, individuell und souverän mit der Fülle der Angebote umzugehen und eine aktive und selektive Auseinandersetzung zu betreiben.

Freilich interessiert Jugendliche an der Werbung nicht so sehr das beworbene Produkt. Eine große Wirkung auf die Identitätsbildung jugendlicher Rezipienten hat vielmehr der mit dem Produkt verknüpften Lebensstil. Dies ist ja auch ein Ziel der Wirtschaft: Das Produkt mit einem bestimmten Lebensgefühl, einer bestimmten Erwartung, einem bestimmten Stil der Persönlichkeit "aufzuladen". Immerhin formen Jugendliche auch oftmals ihre Identität anhand von in der Werbung angepriesenen Produkten und Marken.

2.) Musik als heimliches "Leitmedium" der Jugend

Man kann davon ausgehen, daß moderne Musik das heimliche "Leitmedium" der Jugend ist. Nicht nur werden die auditiven Medien von allen am meisten genützt und dabei meistens zum Hören von Musik verwendet, sondern auch im Rahmen der visuellen Medien (wie Fernsehen) sind es Musiksender wie VIVA und MTV, die sich steigender Beliebtheit erfreuen. Musik, Musikvideos, Konzerte etc. dienen heute als identitätsstiftende Instanzen für weite Kreise Jugendlicher.

Mit der Musik wird oft eine Art "Gegenkultur". Oft spielt dabei Provokation und Selbstausdruck eine Rolle. Musik, die oftmals in Gleichaltrigengruppen rezipiert wird, bekommt die Bedeutung eines neuen Sozialisationsfaktors, der Erziehungsfunktionen übernimmt und hinter dem das Elternhaus zunehmend zurücktritt. Die Frage nach der eigenen Identität oder nach der Weltanschauung wird heute oftmals nicht mehr im Rahmen der Kernfamilie oder der Schule gestellt, sondern unter Einbeziehung anderer Instanzen.

"Die Musik erhält in diesem Kontext die Qualität einer Ersatzreligion im Sinne einer situativen Heilserfahrung ... Die im Klang inszenierten Emotionen symbolisieren das eigene Lebensgefühl. Für den Zeitraum ihres Konsums scheinen sich Antworten auf die für den Jugendlichen so bedeutsamen Fragen nach Identität und Sinn mitzuteilen."

Eine ähnliche Meinung vertritt dazu auch Jochen Hörisch, wenn er meint:

"Rockmusik ist die unwiderstehliche Glaubenspropaganda der westlichen Zivilisation. Sie bündelt die Energien des Kultes und des Marktes. Seit Elvis gibt es Pop-Stars als religiöse Ikonen (...) Und auch die kritische Subkultur wird religiös bedient: von Jimi Hendrix bis Kurt Cobain erstreckt sich die Reihe der Pop-Stars als Märtyrer des Kommerz. Die Fans pilgern zu den Weihestätten des Pop - heißen sie nun Graceland oder Neverland. Und seit Woodstock werden Open-Air-Konzerte als Kultveranstaltungen inszeniert."

Man kann durchaus davon ausgehen, daß Musik und Musikvideos Mythen in unserer ansonsten sehr durchrationalisierten Welt schaffen. Diese Mythen sind vielfach Bezugspunkte für Jugendliche, weil man unter Berücksichtigung dieser eigene Lebensstile erproben kann.

Nicht nur die Musik, auch der Text der Rock- und Poplieder kann die jugendliche Situtation thematisieren. Dabei geht es weniger um kritisch-argumentative Reflexion, sondern eher um emotionale Auseinandersetzungen, um Verständigung über den eigenen Lebensinhalt. Die kurzen Sätze, die wie zusammenhanglose Gedanken wirken, respektlos, provozierend und frech, haben fast Symbolcharakter. Mit Musik kann Konsens in der Kommunikation über Stimmungen und Erfahrungen der Alltagswelt hergestellt werden.

Wichtig für die Identitätsbildung ist oft auch die Person des Pop- und Rockstars:

"Er ist in den Augen der Jugendlichen derjenige, der es durch Genie, Arbeit und Glück geschafft hat, ganz oben zu stehen, der die Kompensation der eigenen Emotionen vollendet auszudrücken versteht und demzufolge offensichtlich Arbeit und Lebensgefühl in eins verbinden kann. Nichtentfremdete Arbeit bei gleichzeitgem uneingeschränkten Erfolg aber ist der Traum jedes Jugendlichen, der kaum für je einen von ihnen wahr wird. Daher bietet der Rockstar die Möglichkeit der vollkommenen Identifikation auf der Suche nach der eigenen Identität."

Zusammenfassend kann man die Formen der modernen Musik als mehr betrachten als bloß ein ästhetisches Phänomen. Vielmehr ist sie für viele Jugendliche in einer Gesellschaft mit unklaren Wertvorstellungen zu einer Sozialisationsinstanz, vielleicht auch zu einer Art Ersatzreligion geworden, die Lebensgefühle ausdrückt und beschreibt, mit den Stars Identifikationsobjekte bietet und Lebensstilkonzepte liefert, die für die eigenen Identitätsbildung übernommen werden können.

3.) Das "Verschwinden der Kindheit" (Postman)

Der durch seine kulturkritischen und oftmals bewahrpädagogischen Ansätze bekannte Amerikaner Neil Postman erregte großes Aufsehen mit seinen Thesen zu einem Phänomen, das er das "Verschwinden der Kindheit" nennt.

So behauptet Postman, daß Kinder aus der Darstellung des Fernsehens praktisch verschwunden seien. Er meint damit "echte Kinder", die sich auch wie Kinder verhalten. Natürlich sieht man noch Menschen, die jung an Jahren sind. Aber: "Ein aufmerksamer Zuschauer wird feststellen, daß sich die in Familienserien, Seifenopern und anderen populären Fernsehsparten auftretenden Kinder in ihren Interessen, ihrer Sprache, ihrer Kleidung und ihrer Sexualität kaum von den Erwachsenen unterscheiden, die in der gleichen Sendung erscheinen."

Aber auch in der Realität verschwimme die Unterscheidung zwischen Kind und Erwachsenem, z.B. hinsichtlich der Kriminalität - sowohl hinsichtlich der Täter als auch der Opfer. Es gibt heute kaum mehr ein Verbrechen, das man früher den Erwachsenen vorbehalten glaubte, das nicht auch immer mehr Kinder begehen. Postman nennt Beispiele von einem neunjährigen Knaben, der versuchte, eine Bank auszurauben, einem Dreizehnjährigen, der ein siebenjähriges Mädchen vergewaltigt hatte (ein ähnlicher Fall ist vor kurzem auch in Österreich passiert) oder einem brutalen Mord, der von Kindern eines ähnlichen Alters ausgeübt wurden. In den USA zeigt sich auch der Trend, das Jugendstrafrecht praktisch immer mehr aufzuweichen oder abzuschaffen. Kinder und Jugendliche, die z.B. in New York ein Gewaltverbrechen begehen, müssen damit rechnen, daß ihr Fall vor einem Erwachsenengerichtshof verhandelt und mit langjährigen Gefängnisstrafen geahndet wird. Gleichzeitig nehmen auch die Straftaten gegen Kinder zu, wie die Fälle von Kindesmißbrauch in der Familie zeigen. Auch dies nimmt Postman als Indiz dafür, daß der Glaube daran, daß ein Kind besonders geschützt werden soll, massiv zurückgeht. Es könnte freilich auch bedeuten, daß es diese Fälle schon immer gab und erst seit kurzem dieses Thema enttabuisiert wurde, sodaß öffentlich darüber gesprochen werden kann.

Auch das Sexualverhalten Jugendlicher gleicht sich nach Postman immer mehr dem der Erwachsenen an. So ist nach Postman die sexuelle Aktivität unter Frauen ab dreizehn in den letzten Jahrzehnten massiv gestiegen. Auch die Zahl der Teenager-Schwangerschaften steigt. Ein großes Problem der heutigen Zeit ist die Zunahme von Kindern, die selbst Kinder kriegen. Die Zahl der Jugendlichen, die an Geschlechtskrankheiten leiden, wird nach Postman ebenfalls immer größer. Und beim Konsum von Alkohol und Drogen gibt es zwischen Jugendlichen und Erwachsenen ohnehin kaum mehr nennenswerte Unterschiede. Erwachsenen und Kinder teilen in den USA auch denselben Geschmack hinsichtlich der beliebtesten Fersehsendungen.

Dazu kommt: Die Modebranche setzt Kinder (etwa zwölf- und dreizehnjährige Mädchen) als sexuell anziehende Models ein und leistet damit auch der sexuellen Ausbeutung der Kinder Vorschub. Auch in den Bereich des Spitzensports dringen Kinder immer häufiger vor - dort werden von ihnen zunehmend "erwachsene" Leistungen und erwachsenes Benehmen abverlangt (Disziplin, Einhalten von starren Regeln, eisernes Training etc.).

"Kinderkleidung", durch die sich Kinder eindeutig von Erwachsenen unterschieden, sind auch zunehmend verschwunden:

"Zwölfjährige Jungen tragen auf Geburtstagspartys Anzüge mit Weste, und sechzigjährige Männer tragen zum gleichen Anlaß Jeans. Elfjährige Mädchen laufen mit Stöckelabsätzen herum, und Turnschuhe, die früher ein eindeutiges Kennzeichen für die Zwanglosigkeit und Vitalität der Jugend waren, bedeuten heute angeblich das gleiche für Erwachsene...(Man) beobachtet auf den Straßen von New York und San Francisco erwachsene Frauen mit weißen Söckchen und imitierten Kinderlackschuhen...Wo die Vorstellung von Kindheit verblaßt, da verblassen auch deren symbolische Merkmale."

Das Verschwinden der Generationengrenze bedeutet nach Postman nicht nur, daß die Kinder den Erwachsenen ähnlicher werden, sondern auch diese den Kindern. So taucht nach Postman überall in der Gesellschaft (im Fernsehprogramm wie der Realität) neben dem Erwachsenen-Kind auch der Kind-Erwachsene auf. Die Kandidaten der Quizshows sind für Postman der Prototyp dieses Kind-Erwachsenen.

"Solche Quizsendungen sind eine Parodie auf das Klassenzimmer: kindliche Bewerber werden für Gehorsam und Altklugheit gebührend belohnt, ansonsten jedoch sämtlichen Demütigungen unterworfen, die traditionell das Schulkind zu erdulden hat."

Die übrigen Erwachsenen, die in den Fernsehsendungen gezeigt werden, ähneln auch in vielfacher Weise Kindern:

"Von wenigen Ausnahmen abgesehen, nehmen Erwachsene im Fernsehen ihre Arbeit nicht ernst (wenn sie überhaupt arbeiten), sie kümmern sich nicht um ihre Kinder und auch nicht um Politik, praktizieren keine Religion, repräsentieren keine Tradition, sind ohne Vorausblick und haben keine Pläne, führen keine ausgedehnten Gespräche miteinander und bringen unter gar keinen Umständen etwas zur Sprache, das einem Achtjährigen nicht vertraut wäre." Ein solches kindliches Verhalten der Erwachsenen, wie vom Fernsehen vorgemacht, nimmt auch immer mehr in der Realität überhand - worauf nach Postman auch die Zunahme der Auswüchse unserer seichten Unterhaltungsgesellschaft hindeutet.

Wodurch erklärt sich nach Postman dieses "Verschwinden der Kindheit"? Seiner Meinung nach ist "Kindheit" und "kindliches Verhalten" keine biologische Notwendigkeit, sondern ein Produkt der Kultur und Gesellschaft. Er bemüht sich um den aufwendigen historischen Nachweis, daß die Vorstellung von einem qualitativen Unterschied zwischen Kind und Erwachsenem dem Mittelalter vollkommen fremd war. Man betrachtete Kinder als kleine Erwachsene. Die Idee, daß Kinder eines besonderen Schutzes bedürften, war dem Mittelalter ebenfalls fremd. Erst die Neuzeit brachte hier nach Postman Veränderungen. Vor allem die Verbreitung der Fähigkeiten des Lesens und Schreibens, also die Zunahme an Literalität, schuf ein Bewußtsein, daß Kindheit und Erwachsenenalter sich qualitativ voneinander unterscheiden. Das hat vor allem mit einer bestimmten Fähigkeit zu tun, die man erst mühsam auf dem Weg zum Erwachsenenalter erwerben mußte (Lesen und Schreiben) Außerdem entstanden Tabus und Geheimnisse (etwa um die Sexualität), die man den Kindern "zu ihrem Schutz" vorenthielt. Nun, meint Postman, würden diese beiden Punkte durch die neuen Medien immer mehr relativiert. Die Kulturtechnik des Lesens und Schreibens verliere aufgrund des Fernsehens an Bedeutung. Um aber intellektuell an die Welt des Fernsehens Anschluß zu finden, bedarf es nicht viel. Während Lesen und Schreiben als Kulturtechnik einen Unterschied zwischen Kind und Erwachsenem schafft, heben neue Informationsmedien diese auf. Das Fernsehen bewahrt auch keine Tabus und Geheimnisse, sondern konfrontiert Kinder und Jugendliche tagtäglich mit Homosexualität, Sadomasochismus, Inzest etc., die in keiner Talkshow fehlen dürfen. Das Fernsehen ist nach Postman eine Art Zerstörer der Kindheit.

Meine Kritik an Postman ist folgende:

Seine Ansätze tragen den Charakter der Bewahrpädagogik; und auch wenn er es leugnet, laufen seine Ausführungen auf die Ansicht heraus: Das böse Fernsehen zerstört die Kindheit, rettet unsere Kleinen! Ob eine so eindeutige Dämonisierung eines Mediums wirklich der Wahrheit entspricht, ist für mich sehr fraglich.

Postman urteilt auf der Basis gewisser "bürgerlicher" Werte. Seine Ideale sind, trotz all seiner höflichen Verbeugungen vor der Frauenbewegung, folgende: die bürgerliche Familie; die Frau als Mutter, die, jungfräulich in die Ehe gegangen, ihre Kinder liebevoll umsorgt; der Jugendliche, der nicht weiß, wo die Babies herkommen, weil jede Ausprägung von Sexualität vor ihm tabuisiert und verheimlicht wird; die humanistische Bildung, in der fröhliche, herumtollende Kinder mithilfe von Lateinvokabeln zu Verwaltungsbeamten mit Ärmelschonern herangezogen werden, die selten lachen und sich in ihren hochweisen Gesprächen des vorgeblichen Ernstes des Lebens bewußt sind. Aus der Perspektive dieser Werte freilich leben wir in einer Verfallsgesellschaft, wobei sich aber die Frage stellt, ob diese Werte noch zeitgemäß sind. Es ist mir keine Textstelle bei Postman bekannt, in der er, statt die Gesellschaft zu verurteilen, einmal seine eigenen Werte hinterfragt, auf deren Basis er den Stab über ihr bricht. Was ist so schlimm daran, wenn Jugendliche früher mit Sexualität konfrontiert werden? Worin liegt die Katastrophe, wenn die umständlichen, höflichen Umgangsformen auch bei Erwachsenen im Schwinden begriffen sind? Ich kann damit leben.

Ich glaube ferner, daß die heutige Medienumwelt, die ja nicht nur aus dem Fernsehen besteht, dem Menschen durchaus eine hohe Kompetenz abverlangt; ich denke in diesem Zusammenhang etwa an Internet, Computer oder CD-ROM. Daß Jugendliche diese Kompetenz oftmals stärker als Erwachsene besitzen, sagt weniger über die Verderbnis der Jugend als über die mangelnde Flexibilität mancher Erwachsener aus. Ich glaube auch, daß die Kulturtechnik Lesen und Schreiben nach wie vor wichtig bleiben und auch von Fernsehen nicht abgeschafft wird und wurde. Ich z.B. sah in meiner Kindheit und Jugend gerne fern, beherrsche das Lesen und Schreiben aber trotzdem.

Dennoch erscheint es mir plausibel, davon auszugehen, daß die neuen Medien ein "Verschwimmen der traditionellen Generationengrenzen" bewirkten, was wiederum Auswirkungen auf die Identitätsbildung von Kindern und Jugendlichen in der gegenwärtigen Medienumwelt hat. Sieht man von der von ihm verbreiteten Katastrophenstimmung ab, könnte Postmans Analyse sogar in vielfacher Hinsicht richtig sein.

4.) Die "Patchwork-Identität" (Ferchhoff)

"Über Musik, Werbung, Konsum und Mode ausdifferenzierte, also multimedial präsentierte Lebensstile von Jugendlichen übernehmen für viele Jugendliche quasi identitätsstiftende Funktion. Sie treten an die Stelle der - durch unaufhaltsame Erosion - geschwächten identitätsstiftenden Funktionen gemeinschaftlicher Traditionen, Strukturen, Einrichtungen, Institutionen und traditional-kollektiver Lebensformen."

Angesichts der modernen Entwicklungen, meint Ferchhoff, ist die Struktur einer individuellen Biographie nicht mehr teleologisch sofort deutbar. Identität scheint heute nicht mehr ihre abschließende Gewißheit in einem eindeutig feststehenden und endgültigen "persönlichen Ich" zu finden - wodurch der Begriff der Identität wiederum problematisch wird.

Die Sinnsetzung des Lebens folgt keiner vertrauten Übereinkunft mehr. Die Chronologie des Lebens wird aufgeweicht; es zeichnet sich keine klare Gestalt mehr ab. Man kann diese neue Entwicklung, die Identitätsbildung mit neuen Unklarheiten belegt, als Sinnleere und Krise beklagen; zielführender scheint es wahrscheinlich aber, die neuen Möglichkeiten an Freiheit hinsichtlich der Selbstdefinition zu erkennen und zu nützen.

Nicht nur wird Identitätsbildung für Jugendliche aufgrund des Zusammenbruchs alter Werte und Übereinkünfte schwieriger - sie will auch nicht enden. Keinesfalls ist sie heutzutage mit dem Eintritt in die Geschlechtsreife oder der Großjährigkeit abgeschlossen.

"Identität besitzt keinen konsistenten ‘Wesenskern’ im Sinne eines stabilen Sinn-Mittelpunkts, sondern scheint heute vielmehr Augenblicks-, Situations- oder Patchworkidentität zu sein."

Insbesonders bei Jugendlichen entwickelt sich in diesem Zusammenhang ein experimenteller Umgang mit dem Versuch, die eigene Persönlichkeit zu definieren und einen Sinn im Leben zu finden. Dabei werden verschiedene Lebensentwürfe ausprobiert. Solche Lebensentwürfe und übernommene Stilelemente werden oftmals von Video-Clips im Fernsehen, Pop-Musik, Computerspielen oder Filmen transportiert und dann übernommen. Dabei entsteht eine Identitätspluralität und in gewisser Weise auch Beliebigkeit, weil diese Lebensentwürfe nicht mehr umfassend, sondern nur mehr begrenzt verpflichtend sind.

Die einzelnen Teile der u.a. aus den Medien erworbenen Identität sind nach Ferchhoff offener, beweglicher als früher und zunehmend nur lose miteinander verknüpft. Ob in Zeiten solcher selbstgebastelter Biographien die abschließende Identitätsfindung nicht verunmöglicht wird, sei dahingestellt. Die Medien bieten allerdings in Hinblick auf die Identitätsfindung eine attraktive Alternative zu den traditionellen Konzepten und entsprechen damit auch mehr dem modernen Zeitgeist der "Individualisierung".

Was sich ebenfalls auflöst, ist durch die modernen Kommunikationsmittel der Begriff der "Heimat", ein zentraler Bezugspunkt für die Identität eines Menschen. Denn immer mehr übernehmen medial vermittelte Gemeinschaften (von der News-Group im Internet bis zur Fangemeinde eines Popstars) sinnstiftenden Heimatcharakter für immer mehr Menschen. Dadurch werden traditionelle Lebensbezüge und alltagsweltliche Milieueinbindungen fast vollständig durch andere Interaktionsmuster ersetzt.

Zusammenfassend entwickelt sich also immer mehr ein unklarer Begriff von Identität angesichts des immer massiveren gesellschaftlichen Wandels und des Zusammenbruchs alter Werte. Stattdessen wird der Prozeß der Identitätsbildung länger, komplizierter, aber aufgrund der größeren Freiheiten reizvoller. Jugendliche übernehmen dabei verschiedene Lebensmodelle aus den Medien, experimentieren damit und basteln sich auf diese Art eine Art "Fleckerlteppich" aus nur lose zusammenhängenen Teilen, der ihre Identität ausmacht. Dabei wird auch der Begriff von "Heimat" angesichts der Zunahme bloß medial vermittelter Gemeinschaften unklarer. Identitätsbildung im Jahre 2000 hat viel von den alten Sicherheiten verloren, dafür neue Freiheiten gewonnen.

Die Medien sind nach Ferchhoff aber nicht nur die Ursache der Zersplitterung, sondern auch des Zusammenhalts der Identität; denn sie geben der Gesamtheit der "Indentitäten" Sinn und stellen einen zentralen Bezugspunkt für alle Jugendlichen dar:

"Während Familie, Schule, Freizeit, Umgang mit Gleichaltrigen bereichspezifisch erfahren werden, sind es die Medien, die die verschiedenen Segmente des Handelns verbinden. Die Medien, die selbst in alle sozialen Lebensweltkontexte hineinwirken, bieten damit auch den Kitt, der das sonst zersplitterte soziale Erleben zusammenhält."

5.) Literatur

Wilfried Ferchhoff: Identitätsbildung im Umgang mit neuen Medien. Referat bei der Fachtagung zu Praxis und Theorie der Computermedienpädagogik im Studienzentrum Josefstal 1999.

Jochen Hörisch (Hg.): Mediengenerationen. Frankfurt am Main 1997.

Jürgen Hüther, Bernd Schorb, Christiane Brehm-Klotz (Hg.): Grundbegriffe Medienpädagogik. München 1997.

Neil Postman: Das Verschwinden der Kindheit. Frankfurt am Main 1997.

Christa Zöller: Jugend zwischen Traumwelt und Protest. In: Hermann-Josef Beckers, Hubert Kohle: Kulte, Sekten, Religionen. Frankfurt 1994.

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