Patrick Horvath

Samuel Huntingtons Werk

"Kampf der Kulturen"

und seine Bedeutung für die Friedensforschung

Patrick Horvath, Mat.-Nr. 9502353, Studienkennzahl 296 / 300, Arbeitsgemeinschaft "Friedensforschung" bei Herrn Prof.Bader u.a., Wintersemester 1999 / 2000, Universität Wien


Werner Horvath: "Kampf der Kulturen (George W.Bush)". Öl auf Leinwand, 60 x 80 cm, 2001

 

Die Weltkulturen

Die dem Buch beigefügte Karte demonstriert anschaulich, wie sich Samuel Huntington die Welt der Gegenwart vorstellt: Aufgeteilt in acht große Weltkulturen, die in einem komplexen, teilweise spannungsgeladenen Verhältnis zueinander stehen. Zunächst sollen diese Kulturkreise nur ganz kurz (unter bewußter Auslassung vieler Fakten) genannt werden, bevor in späteren Kapiteln näher auf einzelne Aspekte eingegangen wird.

Folgende Kulturkreise existieren nach Huntington:

Der hinduistische. Im Prinzip wird das Gebiet Indiens von diesem Kulturkreis umfaßt. Die lange Herrschaft des Westens (Indien war ja englische Kolonie) ändert nichts daran, daß auch dieser Kulturkreis überlebt hat; man sieht, wie widerstandsfähig Kulturen sind. Das Verhältnis des Westens gestaltet sich mit ihm noch relativ problemlos.

Der westliche. Es ist der Kulturkreis, dem wir nach Huntington angehören. Er besitzt im Prinzip drei territoriale Schwerpunkte: Europa (bis zur Trennlinie West- und Ostkirche), Nordamerika und Australien. Über diesen Kulturkreis wird in einem eigenen Kapitel noch ausführlich die Rede sein.

Der lateinamerikanische. Huntington ist sich nicht ganz sicher, ob man den lateinamerikanischen Kulturkreis als eigenen zählen kann oder ob er einen Teil des Westens darstellt. Auch die Lateinamerikaner sind über diese Frage gespalten; und vielleicht liegt die Wahrheit in der Mitte. Historisch gab es vor der europäischen Kolonisation indianische Hochkulturen, die vollkommen unabhängig von Europa bestanden. Die heutigen Lateinamerikaner stammen teilweise von diesen Indianern ab, teilweise von den europäischen Eroberern. Von Europa stammen wesentliche Kulturmerkmale, wie z.B. die beiden in Lateinamerika gesprochenen Hauptsprachen (Spanisch und Portugiesisch), sowie die Religion (Katholizismus, bei gegenwärtigem Vormarsch des Protestantismus). Auf der Karte wurde Lateinamerika als eigener Kulturkreis eingezeichnet.

Der orthodoxe. Für Huntington war die Spaltung von West- und Ostkirche in der Antike so fundamental, daß sie zur Begründung von zwei verschiedenen Kulturkreisen ausreichte. Der wichtigste, führende Staat ("Kernstaat") der Orthodoxie ist Rußland, aber auch Länder wie Serbien, Bulgarien, Rumänien oder Griechenland sind diesem Kulturkreis zuzurechen. Die gegenwärtige Anlehnung Griechenlands an den Westen (Griechenland ist ja Mitglied der beiden den Westen dominierenden Bündnisse EU und NATO) kann nach Huntington an dieser kulturellen Verschiedenartigkeit nichts oder nur wenig ändern; er würde letzteres als eine Art Anomalie ansehen.

Der islamische. Historisch der hartnäckigste Gegner des Westens, der als einiziger das Überleben des Abendlandes mehrmals in Frage gestellt hat, ist der auf der von Mohammed gestifteten Religion beruhende islamische Kulturkreis, der sich von Nordafrika bis ins vordere Asien erstreckt. Sein Wiedererwachen, von dem später noch die Rede sein wird, kann den Westen nach Huntington wieder einmal vor ernsthafte Probleme stellen.

Der sinische. Dieser Kulturkreis hat den Weg zu einem Universalreich nahezu gefunden und wird im Prinzip nur von einem Staat umfaßt: von China. Auch dieser Kulturkreis, das wiedererstarkende "Reich der Mitte", gehört nach Huntington zu den künftigen Herausforderern westlicher Macht.

Der japanische. Hier setzt Huntington ein Fragezeichen. Manche Autoren nehmen an, daß Japan ein Teil des chinesischen Kulturkreises ist. Huntington folgt allerdings den Autoren, die Japan als Kulturkreis Eigenständigkeit einräumen.

Der afrikanische. Huntington ist sich auch nicht sicher, ob es so etwas wie einen afrikanischen Kulturkreis gibt, nimmt letztlich daber doch einen an.

 

Was macht eine "Kultur" aus?

Bei der Definition von Kulturkreisen zitiert Huntington eine Stelle aus Herodots Historien, in der die Athener den Spartanern versichern, sie würden sie nicht an die Perser verraten und dies folgendermaßen begründeten:

"Vieles und Großes verbietet uns das, selbst wenn wir es tun wollten; erstens und hauptsächlich die niedergebrannten und zerstörten Götterbilder und Tempel, für die wir blutigste Rache üben müssen, ehe wir uns mit dem Manne, der das getan, versöhnen können; ferner die Bluts- und Sprachgemeinschaft mit den anderen Hellenen, die Gemeinsamkeit der Heiligtümer, der Opferfeste und Lebensweise. Es stünde den Athenern schlecht an, wenn sie an dem allen Verrat üben wollten".

All diese genannten Faktoren spielen also eine Rolle. Als den wichtigsten Faktor betrachtet Huntington allerdings die gemeinsamen Wertvorstellungen, und hier ist vor allem die Religion entscheidend. Die gemeinsamen Werte, aus denen letztlich auch politische Institutionen entspringen, sind für Huntington sogar entscheidender als alle biologischen und rassischen Überlegungen. "Die wesentlichsten Unterschiede zwischen Menschengruppen betreffen ihre Überzeugungen, Werte, Institutionen und Gesellschaftsstrukturen, nicht ihre Körpergröße, Kopfform und Hautfarbe", schreibt er.

 

Der Kampf der Kulturen

Wichtig in den Überlegungen Huntingtons ist sein Begriff des Bruchlinienkriegs. Eine Bruchlinie liegt vereinfacht gesagt dort, wo zwei Kulturkreise aneinanderstoßen. An dieser Bruchlinie kann es zu allerlei Formen von Konflikten und Grenzstreitigkeiten kommen. Neben internationalen Bruchlinienkriegen kann es auch innerstaatliche geben: Diese können dann entstehen, wenn ein Staat das Gebiet von zwei oder mehreren Kulturkreisen umfaßt. Diesem Staat droht Spaltung und Bürgerkrieg. Eines von dutzenden möglichen Beispiel für einen typischen innerstaatlichen Bruchlinienkrieg wäre Tschetschenien. Die Russische Föderation wird von einer großen Mehrheit von Menschen bewohnt, die zum orthodoxen Kulturkreis gehören. Der Staat umfaßt aber auch Gebiete des islamischen Kulturkreises. Ein islamisches Gebiet im Süden, Tschetschenien, wollte sich nun von Rußland abspalten; russische Truppen beanspruchten dieses Gebiet aber und führten einen brutalen, von Menschenrechtsverletzungen und Genozid begleiteten Krieg, in dem sie Tschteschenien mittlerweile wieder zurückeroberten.

Auch der Jugoslawienkrieg kann als Bruchlinienkrieg aufgefaßt werden. Es scheint mir aufgrund der umfangreichen Besprechung des Jugoslawienkriegs, daß dieser Huntington sehr stark bewegt und ihn möglicherweise zur Niederschrift des "Kampfs der Kulturen" inspiriert hat - ähnlich wie Thomas Hobbes einst den "Leviathan" als Antwort auf den Bürgerkrieg in seiner Heimat England verfaßte. Im ehemaligen Bundesstaat Jugoslawien lebten Angehörige dreier Kulturkreise friedlich miteinander vereint: Slowenen und Kroaten, die eher dem Westen zuzurechnen sind, Serben, die man zum orthodoxen Kulturkreis zählen kann und moslemische Bosnier und Albaner, die dem islamischen Kulturkreis angehören. Nach vielen Jahrzehnten der friedlichen, multikulturellen Koexistenz in einem Bundesstaat brachen nach dem Niedergang des Kommunismus die alten kulturellen Identifikationsmuster wieder hervor und ein grausamer, blutiger Krieg zwischen den einzelnen Gruppen nahm seinen Lauf.

Huntington meint nun weltweit folgende Tendenz zu beobachten: "Eine auf kulturellen Werten basierende Weltordnung ist im Entstehen begriffen: Gesellschaften, die durch kulturelle Affinitäten verbunden sind, kooperieren miteinander". Er beobachtet einen "Schulterschluß" kulturell verwandter Länder. Besonders auffallend ist dieser in Europa, wo sich kulturell verwandte Staaten zu einer großen Union zusammenzuschließen beginnen. Aber auch chinesisches und islamisches Selbstwertgefühl erwacht (davon wird später die Rede sein). Huntington befürchtet nun für die Zukunft, daß diese Weltkulturkreise, deren Staaten untereinander immer enger miteinander kooperieren, eines Tages zusammenprallen könnten und ein Krieg zwischen ihnen eskaliert, daß also im großen Stil das passiert, was im kleineren Maßstab in Jugoslawien vorgemacht wurde. Besonders wahrscheinlich scheint es ihm, daß ein solcher möglicher globaler Kulturkampf durch universalistische Ansprüche des Westens ausgelöst werden könnte - eines Kulturkreises, der nach Huntigtons Meinung schon jetzt im potentiellen Konflikt mit China und dem islamischen Kulturkreis steht. Darauf soll im nächsten Kapitel eingegangen werden.

 

Der Westen und seine Herausforderer

Der Begriff "Westen" stammt aus dem Kalten Krieg, der nach 1945 einsetzte und bis zum Fall der Berliner Mauer 1989 bzw. bis zur Auflösung der Sowjetunion 1991 andauerte. Das Wort "Westen" bezeichnet jenen Machtblock, dem der von der Sowjetunion dominierte "Osten" feindselig gegenüberstand. Die Bedrohung durch den Osten ist nun vorbei, wie ein historisches Relikt ist das Wort "Westen" geblieben. Huntington verwendet jenes Wort zur Bezeichnung des Kulturkreises, in dem wir leben. Er verwendet dieses Wort allerdings nur, weil es heutzutage geläufig ist. Das, was Huntington mit dem "Westen" meint, ist in Wahrheit aber viel älter als die nach 1945 entstandene Bezeichnung. Genauer gesagt, entstand dieser heute als "Westen" bezeichnete Kulturkreis im frühen Mittelalter auf den Trümmern des von Germanen überrannten römischen Imperiums. Spengler, dessen Einfluß auf Huntington unübersehbar ist, würde die ältere Bezeichnung "Abendland" verwenden.

Ich möchte nun in eigenen Worten Huntingtons Ansicht über die Geschichte des Westens darlegen. Ursprünglich in Gebieten von Kunst, Wissenschaft und Technologie den anderen Kulturen weit unterlegen (die Chinesen entdeckten z.B. das Schießpulver Jahrhunderte bevor es in Europa Verwendung fand), änderte sich dies schlagartig zu Beginn der Neuzeit. Der Westen baute im Laufe der Jahrhunderte eine den anderen Kulturen in vielerlei Hinsicht überlegene Technologie auf. Spätestens seit dem 19.Jahrhundert, eigentlich aber schon viel früher, machte er sich diese Überlegenheit zunutze und schuf gewaltige Kolonialreiche, die den größten Teil der Erdoberfläche umfaßten, u.a. fast ganz Afrika, Indien, Gebiete im Nahen Osten, Südostasiens, Südamerikas etc. In der Zwischenzeit hatte der Westen auch zwei weitere Kontinente besiedelt, nämlich Nordamerika und Australien, die neben Europa bis heute zu den Hauptstützpunkten der westlichen Kultur gehören.

Bis heute kann man eine Hegemonie des Westens über die gesamte Welt feststellen. Die USA, die als mächtigster Staat des Westens im 20.Jahrhundert die Nachfolge der ursprünglich übermächtigen Europäer angetreten hatte, sind nach wie vor die einzige Weltmacht. Sie besitzen - ungleich aller anderen Staaten - die Fähigkeit, an jedem Punkt der Welt militärisch zu intervenieren. Das große Verteidigungsbündnis des Westens, die NATO, hat keinen vergleichbaren Konkurrenten.

Auch in Hinblick auf die Wirtschaft dominiert der Westen. Die sogenannten G7-Staaten, also die sieben größten Wirtschaftsmächte der Welt, sind bis auf eine Ausnahme Staaten, die man dem Westen zurechnen kann. Daß mittlerweile die G7-Gruppe um ein achtes Mitglied, Rußland, erweitert wurde, tut nichts zur Sache, weil diese Erweiterung eigentlich "Höflichkeit" und diplomatischer Schritt zur Versöhnung nach dem Zusammenbruch des Ostblocks war; Rußland ist heute ein wirtschaftlicher Zwerg, in dem Armut, Chaos und Gesetzlosigkeit herrscht. Nach wie vor ist der Westen also die einflußreichste Kultur auf diesem Planeten; auch kulturell gilt er weithin als Vorbild.

Gleichwohl kann ein gewisser Verfall westlicher Macht nicht übersehen werden. Vergleicht man z.B. die Größe der vom Westen errichteten Kolonialreiche des 19.Jahrhunderts mit der Weltkarte des Jahres 2000, so entdeckt man den fundamentalen Unterschied, daß der Westen nur mehr Herr über seine "Kerngebiete" ist; seine Herrschaft ist kleiner geworden.

Auch um die militärische MAcht ist es nicht so gut bestellt, wie es scheint. Die USA bzw. die NATO führen oftmals Kriege gegen weit unterlegene Staaten und triumphieren meist dabei, etwa gegen den Irak oder zuletzt gegen Serbien. Aber peinliche Niederlagen selbst gegen solche Mini-Staaten (Vietnam!) werfen ein bedenkliches Bild auf die westliche Macht. Ein Krieg des Westens gegen China wird bereits jetzt als fast aussichtslos betrachtet. Und dieselbe westliche Großmacht, Großbritannien, die einst allein China im Opiumkrieg niederzwang, mußte 1997 widerstandslos Hongkong an diese kommunistische Diktatur übergeben. Gleichzeitig pflegen alle kritischen Stimmen zu verstummen, wenn ein chinesischer Staatsmann Europa besucht. Die europäischen Politiker, sonst die größten Moralapostel und Sonntagsredner zum Thema "Menschenrechte", die ansonsten fleißig chinesische Menschenrechtsverletzungen anprangern, sprechen diensteifrig dieses Thema in Gegenwart eines hochrangigen chinesischen Besuchers nicht einmal an, in der Furcht, widrigenfalls lukrative Wirtschaftsaufträge nicht zugesprochen zu bekommen. Die Mutigsten formulieren unterwürfige Bitten an China - ohne aber bei Nichterfüllung Konsequenzen androhen zu können -, doch möglicherweise daran zu denken, gnädigerweise die Menschenrechte anzuerkennen und einzuhalten, wobei sie vergessen, daß Menschenrechte angeboren sind und es keine Frage von Nettigkeit und Gnade zu sein hat, ob sie gewährleistet werden oder nicht.

Um dieses typische Vorgehen unserer Politiker zu dokumentieren, möchte ich einen Zeitungsartikel zitieren, betitelt mit der Überschrift "Milliardenaufträge im Walzertakt".

"Chinas Staatspräsident Jiang Zemin weiß, was seinen Gastgebern gut tut: Gegenüber Frankreichs First Lady Bernadette Chirac erwies er sich als Charmeur und forderte sie beim Besuch des Dorfes Chaumeil spontan zu einem Walzer auf. Ihren Mann, Jacques Chirac, verwöhnte er mit einem Großauftrag über 28 Airbus-Flugzeuge. Wert: Umgerechnet 31 Milliarden Schilling. ‘Das ist gut für Europa, gut für Frankreich, und das ist gut für den Arbeitsmarkt’, verkündete Chirac voll Stolz. In der pragmatischen Reihenfolge zuerst das Geschäft und dann die Moral, sprach der französische Präsident anschließend auch die Menschenrechtssituation in China an und bat um die rasche Ratifizierung der UNO-Vereinbarung über Bürgerrechte."

Jacques Chirac war dabei noch mutig; das Wort Menschenrechte wäre anderen Europäern in dieser Situation gar nicht in den Mund gekommen, wie die Erfahrung lehrt. Daß sich trotzdem die Menschenrechtssituation in China seither nicht verbessert hat, braucht wohl nicht extra festgestellt werden. Wieso sollte dies auch so sein, wenn unsere demokratischen Staatsoberhäupter asiatische Despoten in einer unverhüllten Weise hofieren, von ihnen in hohem Ausmaß wirtschaftlich abhängig und zudem auch militärisch nicht gewachsen sind?

Angesichts dieser Entwicklungen werden die Worte Spenglers wahr, die er in "Jahre der Entscheidung" niederschrieb:

"Die Tragweite dieser Verschiebung des politischen Schwergewichts ist zuerst in Moskau begriffen worden. In Westeuropa begreift man sie noch heute nicht. Die weißen Herrenvölker sind von ihrem einstigen Rang herabgestiegen. Sie verhandeln heute, wo sie gestern noch befahlen, und werden morgen schmeicheln müssen, um verhandeln zu dürfen. Sie haben das Bewußtsein der Selbstverständlichkeit ihrer Macht verloren und merken es nicht einmal. Sie haben (...) die Wahl der Stunde aus der Hand gegeben, an Amerika und vor allem an Asien, ..."

Neben dem wiedererstarkten China sieht Huntington vor allem einen großen Herausforderer des Westens: den wiederstarkenden Islam. Ich möchte daher im Anschluß über den islamischen Fundamentalismus sprechen.

In der gesamten arabischen Welt kann man eine Renaissance des Islam feststellen. Diese Entwicklung kann man auch mit empirischen Daten belegen. Huntington berichtet, daß es 1989 in Zentralasien nur 160 funktionierende Moscheen und eine einzige islamische Hochschule gab, bereits 1993 gab es 10.000 Moscheen und zehn Hochschulen. Diese Explosion hängt u.a. mit dem Zusammenbruch des Kommunismus zusammen; in sein Vakuum stoßen in zentralasiatischen Gegenden Religionen wie der Islam. Aber auch in der übrigen islamischen Welt blüht der Islam wieder auf. Man beobachtet bei weiten Bevölkerungskreisen eine verstärkte Beachtung religiöser Praktiken (Moscheebesuch, Fasten, Gebet), zudem verstärkte Versuche, das alte islamische Recht zu reaktivieren. "Den Einfluß der islamischen Resurgenz auf die Politik der östlichen Hemisphäre zu ignorieren, ist gleichbedeutend mit dem Ignorieren des Einflusses der Protestantischen Reformation auf die europäische Politik im ausgehenden 16.Jahrhundert", meint Huntington. Die Rückbesinnung auf den Islam wird hauptsächlich von jungen Menschen getragen; und aufgrund der Bevölkerungsexplosion in der islamischen Welt entsteht eine zusätzliche Dynamik dieses Phänomens.

Das Wiedererstarken des Islam führt aber auch verstärkt zu fundamentalistischen Bewegungen. Man kann mit Fug und Recht sagen, daß Fundamentalisten in praktisch allen arabischen Staaten der Welt auf dem Vormarsch sind. Durch ihre radikale Koran-Interpretation, ihren oftmals fanatischen Glaubenseifer und ihre anti-westliche Gesinnung gefährden sie die Stabilität zahlreicher Regionen. Es kann nicht Aufgabe der vorliegenden Arbeit sein, eine umfassende Darstellung des islamischen Fundamentalismus in allen Ländern der islamischen Welt zu geben. Anhand eines längeren Zitats über Algerien aus einem religionswissenschaftlichen Buch, das sich u.a. mit dem islamischen Fundamentalismus befaßt, soll gezeigt werden, zu welch empörenden Zuständen dieser jedoch führen kann.

"Auch in Algerien verschärfte sich der Druck der Fundamentalisten in der letzten Zeit dauernd. Im Sommer 1989 griff in verschiedenen Gebieten des Landes ein Sitten- und Gesinnungsterror der Moslembrüder um sich. In einzelnen Stadtteilen und Provinzen errichteten fundamentalistische Patrouillen Straßensperren, kontrollierten die Papiere der Passanten und trieben unverheiratete Paare notfalls auch mit Prügeln auseinander. Modern denkende Ehemänner, die ihren Frauen gestatteten, sich außerhalb ihrer Wohnung aufzuhalten, und Bürger, welche ihre Kinder nicht zur Koranschule schickten, wurden denunziert und geächtet. In verschiedenen Universitäten und Fakultäten konfrontierten islamistische Aktivisten die Professoren stundenlang mit Koran-Zitaten. Mehrere Bibliotheken gingen in Flammen auf. In der Universitätsstadt Blida verhinderten mit Knüppeln bewaffnete Integristen vor einiger Zeit gewaltsam eine Demonstration von Studentinnen, die gegen diese ständigen Belästigungen, Kleidervorschriften und Drohungen protestieren wollten. Am 23.November und am 14.Dezember 1989 demonstrierten Frauen, Künstlerinnen und Intellektuelle in Algier gegen die ‘Intoleranz in allen Formen’ und gegen deren Duldung durch den Staat. Kurz zuvor hatte Abassi Madani, einer der fundamentalistischen Führer erklärt, daß Demonstrationen von Frauen ‘eine der größten Gefahren’ für das Schicksal Algeriens darstellten. Er beschimpfte die kämpferischen Frauen als ‘Speerspitze des Neokolonialismus’ und als ‘Avantgarde der kulturellen Aggression’. In der Provinzstadt Ourgla, rund 800 Kilometer südöstlich von Algier, hatten im Juni 1989 rund ein Dutzend Fundamentalisten kaltblütig das Haus einer geschiedenen Frau angezündet, der sie im Rahmen einer Hetzkampagne unmoralischen Lebenswandel vorgeworfen hatten. Durch die Täter aufgehalten, kam die Feuerwehr zu spät an die Brandstelle, weswegen die dreijährige Tochter in den Flammen erstickte. Im Frühjahr 1990 verstärkte sich der Straßenterror der Fundamentalisten weiter. Die Neue Zürcher Zeitung beschrieb die Situation folgendermaßen: ‘Parapolizeiliche Kommandos der Integristen gehen gegen die Besucher von Diskotheken und Restaurants vor und kontrollieren auch die Zugänge der Hochschulareale, um die Studentinnen, wie es heißt, vor ‘unsittlicher männlicher Annäherung’ zu schützen und zu moralischem Verhalten anzuhalten. Ihre Sittenkontrolle konzentriert sich generell auf die Frauen, deren wachsende Emanzipation - wenn nötig mit Gewalt - so rasch als möglich wieder rückgängig gemacht werden müsse.’ "

In Westeuropa lebt eine relativ große islamische Minderheit - und auch sie ist nicht frei vom Wiederaufleben des Islam und von fundamentalistischen Tendenzen. Ich möchte bei dieser Gelegenheit im übrigen betonen, daß es unzulässig ist, den Islam mit dem islamischen Fundamentalismus gleichzusetzen (das wäre genauso verfehlt, wie die Verwechslung von Aussagen vereinzelter christlicher Fundamentalisten mit dem Christentum). Nicht jeder in Westeuropa lebender Moslem ist also ein Fundamentalist; daß allerdings die Zahl der Fundamentalisten unter ihnen wächst, ist unbestritten. Weder Feindschaft zwischen den Religionen zu schüren noch rassistische Stereotypen zu strapazieren soll die Absicht dieser Arbeit sein. Daß Probleme der Kompatibiltät unseres säkularen, demokratischen Systems mit radikal-islamistischen Vorstellungen bestehen, ist jedoch ein Faktum, das man nicht wegdiskutieren kann.

Wie sich solche und ähnliche Probleme konkret äußern können, soll anhand einiger Beispiele illustriert werden. Die angeführten Beispiele sind immer noch Einzelfälle, aber nichtsdestotrotz sehr bedenklich.

1989 ermordeten in Frankreich zwei marokkanische Brüder ihre Schwester auf einem Schulareal, weil sie ihren französischen Freund nicht verlassen wollte - die Familie, die nach islamischen Vorstellungen über das Schicksal eines Mädchens entscheidet, hatte ihr die Beziehung zuvor verboten.

Im selben Jahr versammelten sich aufgebrachte Muslime auf dem Rathausplatz von Bradford und verbrannten Bücher von Salman Rushdie, der gewisse Praktiken des Islam öffentlich kritisiert hatte. Im März desselben Jahres hatte die Polizei gegen Demonstanten einschreiten müssen, die versucht hatten, eine Rushdie-Puppe zu verbrennen. Einige Zeit später verweigerte die britische Filmbehörde die Verleihrechte für den pakistanischen Film "International Guerillas", weil darin offen zum Mord an Rushdie aufgerufen wurde. Für "Westler" ist es unverständlich und auch unerträglich, daß man jemanden umbringen will, nur weil er eine nicht genehme Meinung ausdrückt, und sei es auch über eine Religion. Der prinzipielle Respekt vor dieser, der auch in unserem Verständnis gewährleistet sein muß, darf nach herrschender Meinung in unserem Kulturkreis trotzdem nicht dazu führen, daß Kritiker mit Gewalt mundtot gemacht werden.

Vor einiger Zeit flog auf, daß der aus der Türkei ausgebürgerte islamische Fundamentalist Imman Kaplan in Köln jahrelang - gestützt auf demokratische Freiheitsrechte - eine Internatsschule für türkische Kinder unterhalten hatte, in der die Kinder fundamentalistisch indoktriniert wurden - mit Lehren wie: Die Demokratie ist eine Ideologie des Satans.

Man sieht also, daß die "multikulturelle Harmonie" hauptsächlich in der Ideologie besteht; in der Praxis scheint diese höchst brüchig. Obwohl unsere westeuropäischen Staaten maximale Toleranz gegenüber anderen bei uns lebenden Kulturen gewährleisten und dies auch prinzipiell wünschenswert ist, sind für den westlichen Kulturkreis nicht alle Wert und Praktiken anderer Kulturkreise akzeptabel. Wenn der islamische Fundamentalismus die Demokratie, die religiöse Freiheit, die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie die Gedanken- und Meinungsfreiheit bekämpft, muß die Frage gestattet sein, ob Toleranz ihm gegenüber nicht unangebracht ist. Toleranz endet, dies meinte ja schon Karl Popper, wenn man mit der Intoleranz konfrontiert wird: Würde man die Intoleranz tolerieren, würde sich die Toleranz selbst aufheben und ihren Feinden die Möglichkeit geben, diesen hohen Wert zu vernichten.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte erlaubt jedem Menschen das freie Praktizieren seiner Religion. "Was aber, wenn religiöse Traditionen und Lehren die Aufforderung an ihre Gläubigen mitbeinhalten, Andersgläubige oder Menschen, die zu einem anderen Glauben konvertieren, zu verfolgen und zu bestrafen?". Und hier liegt genau das Problem: Islamischer Fundamentalismus, der bei Immigranten in Westeuropa auftritt, bekämpft die Errungenschaften der Demokratie unter dem Schutz demokratisch gewährter Minderheitenrechte. Ist dies zulässig? Eine Bejahung dieser Frage beinhaltet eine Selbstaufgabe der Demokratie.

Man muß in diesem Zusammenhang feststellen, daß der islamische Fundamentalismus in der arabischen Welt eine Antwort auf die sozialen Probleme ist (Arbeitslosigkeit, Überbevölkerung), ferner auf Jahrhunderte des westlichen Imperialismus. Fundamentalismus bei moslemischen Einwanderern scheint auch oft eine Antwort auf Verweigerung von Lebenschancen und Rassismus hierzulande zu sein. Trotz all dieser Feststellungen ist die Grundtendenz des islamischen Fundamentalismus bedenklich und abzulehnen (die Ursachen von etwas zu verstehen, heißt ja nicht automatisch, dieses gutzuheißen); und es ist mit Huntington sicherlich gerechtfertigt, den islamischen Fundamentalismus als eine der großen Herausforderungen der westlichen Werte in der Gegenwart zu sehen, die damit, entgegen häufiger abendländischer Illusionen á la Fukuyama, keineswegs den Anspruch erheben können, von allen Menschen dieser Welt akzeptiert zu sein.

Dem Multikulturalismus erteilt Huntington, wohl auch aus ähnlichen Überlegungen, eine herbe Absage. Ich möchte seinen Standpunkt diesbezüglich an dieser Stelle in einem längeren Zitat anführen:

"Die westliche Kultur wird von Gruppen innerhalb der westlichen Gesellschaft in Frage gestellt. Eine dieser Herausforderungen kommt von Einwanderern aus anderen Kulturkreisen, die eine Assimilation ablehnen und nicht aufhören, Werte, Gebräuche und Kultur ihrer Herkunftsländer zu praktizieren und zu propagieren. Am auffallendsten ist diese Erscheinung bei Muslimen in Europa, die jedoch nur eine kleine Minderheit sind. Sie ist auch, wenngleich in geringerem Maße, bei Hispanics in den USA anzutreffen, die eine große Minderheit sind. Falls in diesem Falle die Assimilation scheitert, werden die USA ein gespaltenes Land werden, bedroht von inneren Streitigkeiten und Zwistigkeiten, die das nach sich zieht. (...) In den USA entstand eine unmittelbarere und gefährlichere Herausforderung. In der Vergangenheit wurde die nationale Identität der Amerikaner in kultureller Hinsicht definiert durch ihre Zugehörigkeit zum westlichen Kulturkreis und in politischer Hinsicht durch die Hauptpunkte des amerikanischen Credos, denen die Amerikaner mehrheitlich zustimmten: Freiheit, Demokratie, Individualismus, Gleichheit vor dem Gesetz, Achtung von Verfassung und Privateigentum. Im ausgehenden 20.Jahrhundert gerieten beide Aspekte amerikanischer Identität unter konzentrierten und nachhaltigen Beschuß durch eine kleine, aber einflußreiche Minderheit von Intellektuellen und Publizisten. Im Namen eines Multikulturalismus attackierten sie die Identifikation der USA mit dem westlichen Kulturkreis, leugneten die Existenz einer gemeinsamen, amerikanischen Kultur und warben für rassische, ethnische und sonstige subnationale kulturelle Identitäten und Gruppierungen. Sie brandmarkten die - wie es in einem ihrer Berichte heißt - 'systematische Voreingenommenheit zugunsten der europäischen Kultur und ihrer Derivate' im Bildungswesen und 'das Vorherrschen der monokulturellen europäisch-amerikanischen Perspektive'. Die Multikulturalisten seien, so Arthur M. Schlesinger, Jr., 'sehr oft ethnozentristische Separatisten, die im Erbe des Westens wenig mehr sehen als die Verbrechen des Westens'. Ihnen 'steht der Sinn danach, die Amerikaner von ihrem sündigen europäischen Erbe zu befreien und erlösende Infusionen aus nichtwestlichen Kulturen anzubringen'. Der multikulturelle Trend kam auch in einer Vielzahl von Gesetzen zum Ausdruck, die sich an die Bürgerrechtsgesetze der sechziger Jahre anschlossen. In den neunziger Jahren machte die Administration Clinton die Ermutigung multikultureller Verschiedenartigkeit zu einem ihrer Hauptziele. Der Kontrast zur Vergangenheit war frappierend . Die Gründungsväter [der USA] hatten Verschiedenartigkeit als Realität und als Problem betrachtet: daher das nationale Motto e pluribus unum, gewählt von einem Komitee des Kontinentalkongresses, welchem Benjamin Franklin, Thomas Jefferson und John Adams angehörten. Auch später fürchteten politische Führungspersönlichkeiten die Gefahren rassischer, regionaler, ethnischer, wirtschaftlicher und kultureller Verschiedenartigkeit (die denn auch den größten Krieg des Jahrhunderts zwischen 1815 und 1914 hervorrief), hielten sich an den Aufruf bring us together und sahen in der Förderung der nationalen Einheit ihre zentrale Verantwortung. 'Der eine absolut sichere Weg, diese Nation in den Ruin zu stürzen, ja ihr jede Möglichkeit zu nehmen, als Nation weiterzubestehen', mahnte Theodore Roosevelt, 'wäre, sie zu einem Sammelsurium zankender Nationalitäten werden zu lassen.' In den neunziger Jahren ließ die Führung der USA diese Entwicklung nicht nur zu, sondern förderte mit Fleiß die Verschiedenartigkeit anstelle der Einheit des Volkes, das sie regierte. (...)

Die Multikulturalisten stellten ein weiteres zentrales Element des amerikanischen Credos in Frage, indem sie die Rechte von Individuen durch Rechte von Gruppen ersetzten, welche im wesentlichen über Rasse, Ethnizität, Geschlechterzugehörigkeit und sexuelle Präferenz definiert wurden. (...)

Der Konflikt zwischen Multikulturalisten und Verteidigern der westlichen Kultur und des amerikanischen Credos ist laut James Kurth ‘der eigentliche Kampf’ im amerikanischen Teil des westlichen Kulturkreises. Die Amerikaner können der Streitfrage nicht ausweichen: Sind wir ein westliches Volk, oder sind wir etwas anderes? Die Zukunft der USA und die Zukunft des Westens hängen davon ab, daß die Amerikaner ihre Bindung zum westlichen Kulturkreis bekräftigen. Innenpolitisch bedeutet das eine Absage an die konfliktstiftenden Sirenengesänge des Multikulturalismus. (...) Die Amerikaner sind kulturell Teil der westlichen Familie; Multikulturalisten können diese Beziehung beschädigen und sogar zerstören - ersetzen können sie sie nicht".

Neben diesen genannten äußeren und inneren Herausforderern hat der Westen nach Huntington auch mit anderen inneren Problemen zu kämpfen, die nicht zu unterschätzen sind. Huntington ist nicht der Meinung, daß der "Untergang des Abendlandes" endgültig feststeht. Vielmehr denkt er, daß sich Kulturen auch immer wieder erneuern können; und vielleicht gelingt dies auch dem Westen. Nichtsdestotrotz nennt Huntington folgende innere Schwierigkeiten, von denen der Westen heimgesucht wird:

die Zunahme asozialen Verhaltens wie Kriminalität, Drogenkonsum und generell Gewalt;

der Verfall der Familie, damit zusammenhängend die Zunahme von Ehescheidungen, unehelichen Geburten, Müttern im Teenageralter und Alleinerziehenden;

zumindest in den USA Rückgang des "Sozialkapitals", das heißt der freiwilligen Mitgliedschaft in Vereinen, und das Schwinden des mit solchen Mitgliedschaften einhergehenden menschlichen Vertrauens;

das generelle Nachlassen der "Arbeitsethik" und der zunehmende Kult der vorrangigen Erfüllung persönlicher Wünsche;

abnehmendes Interesse für Bildung und geistige Betätigung

Nichtsdestotrotz - und das ist die positive Seite des Westens - scheint er sich zu einer Zone des Wohlstands und des Friedens entwickelt zu haben. Kriege zwischen westlichen Staaten scheinen gegenwärtig schwer denkbar. Der gegenwärtig erreichte allgemeine Wohlstand, vergleichbar mit dem des Römischen Reiches in seiner Blütephase, scheint vielmehr eine Art "goldenes Zeitalter" einzuläuten. Und so nicht die Europäische Union in ein Rivalitätsverhältnis zu den USA geraten wird, wie einige gegenwärtige Politologen es für die Zukunft befürchten (und auch Huntington scheint diese Sorge nicht fremd zu sein, wenn er immer wieder betont, Europa und die USA müßten ihren künftigen Weg gemeinsam gehen, um sich nicht gegenseitig zugrunde zu richten), scheint sich der Westen zu einer Art "Universalreich" oder zumindest einer gemeinsamen Allianz zu entwickeln, in dem es eine gemeinsame Vorgangsweise gibt und nicht mehr, wie im 19.Jahrhundert, fünf rivalisierende Großmächte. Daß eine solche Blütephase kulturhistorisch oft einem schmerzhaften Verfall vorausgeht, stellt Huntington auch fest.

Dem Westen rät Huntington von einer Strategie des "Universalismus" ab, d.h. davon, anderen Kulturkreisen die eigene Kultur aufzwingen zu wollen. Dieses Verhalten geht von falschen Voraussetzungen aus und ist zudem gefährlich. Westlicher Universalismus könnte nach Huntingtons Meinung zu einem weltweiten Krieg der Kulturen führen, der mit großen Opfern verbunden sein könnte. Stattdessen rät Huntington dem Westen, ein friedliches Verhältnis zu anderen Kulturen zu finden, gleichzeitig aber seine kulturelle Grundlage zu bewahren und seine Machtposition (auf friedlichem Wege, aber doch entschieden) zu stärken. Unabdingbar ist für Huntington hierbei eine verstärkte politische, wirtschaftliche und militärische Kooperation der USA und Europas, der Versuch, die lateinamerikanischen Länder und Afrika enger an den Westen zu binden und der weitere Ausbau der technischen und wissenschaftlichen Überlegenheit des Westens über die anderen Kulturen.

 

Anwendung auf die Friedensforschung: Drei Prinzipien zur Vermeidung des "Clash of Civilizations"

Huntington sieht in einem weltweiten Krieg der Kulturen gegeneinander keinen Idealzustand, sondern eher ein Horrorszenario. Dieses erscheint ihm realistisch, wohl aber vermeidbar. Um es zu vermeiden, schlägt er die Einhaltung von drei Prinzipien vor, die seiner Meinung nach für die Förderung des Weltfriedens von großer Bedeutung sind.

Das Prinzip der Enthaltung

Tritt ein Konflikt zwischen Staaten eines Kulturkreises auf, sollen sich Staaten anderer Kulturkreise in diesen nicht einmischen. Eine militärische Intervention von außen würde nur zu Haß und Mißgunst innerhalb eines Kulturkreises führen, der sich in einem solchen Fall bevormundet fühlt.

Ein solcher Fall trat nach Huntington z.B. zur Zeit des 2.Golfkrieges auf: Der Irak eroberte Kuwait in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg; daraufhin intervenierte eine internationale Streitmacht unter Führung der USA und stellte die Unabhängigkeit von Kuwait wieder her. Huntington würde dies als eine Einmischung eines Kulturkreises (des westlichen) in die inneren Angelegenheiten eines anderen (des islamischen) ansehen.

Und so kritisierte er diesen Krieg auch heftig. Welch "böses Blut" er in der arabischen Welt schuf, beschreibt Huntington so:

"Waren sich die moslemischen Regierungen zunächst uneins, so war die arabische und muslimische öffentliche Meinung von Anfang an überwiegend antiwestlich. Ein arabischer Beobachter, der drei Wochen nach der Invasion von Kuwait den Jemen, Syrien, Ägypten, Jordanien und Saudi-Arabien besuchte, berichtete über die ‘arabische Welt’: ‘Sie kocht vor Wut auf die USA und kann sich kaum fassen vor Freude über die Aussicht auf einen arabischen Führer, der mutig genug ist, der größten Macht der Erde die Stirn zu bieten. Millionen Muslime von Marokko bis China stellten sich hinter Saddam und ‘bejubelten ihn als muslimischen Helden’. (...) In Marokko, Pakistan, Jordanien, Indonesien und anderen Ländern wurde in massiven Demonstrationen der Westen (...) beschimpft. Widerstand gegen die Koalition regte sich sogar in Syrien, wo ‘ein breites Spektrum der Bürger die Präsenz ausländischer Mächte am Golf ablehnte’. 75 Prozent der 100 Millionen Muslime Indiens gaben den USA die Schuld an dem Krieg und die 171 Millionen Muslime Indonesiens waren ‘fast einhellig’ gegen die Militäraktion der USA am Golf. Arabische Intellektuelle bezogen auf ähnliche Weise Stellung und formulierten komplizierte Gründe dafür, warum man über die Brutalität Saddams hinwegsehen und die Intervention des Westens anprangern mußte. (...) Die vorherrschende Meinung war, kurz gesagt: Es war falsch von Saddam, in Kuwait einzufallen, aber es war noch falscher vom Westen, in Kuwait zu intervenieren; daher hat Saddam recht, wenn er gegen den Westen kämpft, und wir haben recht, wenn wir ihn unterstützen."

Dieses "Prinzip der Enthaltung" von militärischen Interventionen in anderen Kulturkreisen ist nach Huntingon "die erste Voraussetzung für Frieden in einer multikulturellen, multipolaren Welt". Die Friedensforschung könnte in Zukunft verstärkt auf die Einhaltung dieses Enthaltungsprinzips drängen.

Das Prinzip der gemeinsamen Vermittlung

Nach Huntington sollen, um den globalen "Kampf der Kulturen" zu vermeiden, Bruchlinienkonflikte zwischen Kulturkreisen durch Verhandlungen friedlich beigelegt werden. Auch für Kriege innerhalb eines Kulturkreises sollten auf dem Verhandlungsweg Lösungen gefunden werden. Den Kernstaaten der Kulturkreise kommt bei diesen Verhandlungs- und Vermittlungsprozessen eine zentrale Rolle und auch eine große Verantwortung zu. Die Friedensforschung könnte auch hier einen Beitrag leisten durch Grundlagenforschung und Ausarbeitung eines Instrumentariums zur intra- und interkulturellen Mediation.

Das Prinzip der Gemeinsamkeiten

"Menschen in allen Kulturen sollten nach Werten, Institutionen und Praktiken suchen und jene auszuweiten trachten, die sie mit Menschen anderer Kulturen gemeinsam haben".

Die Verschiedenartigkeit von Kulturen ist für Huntington ein Faktum, das man nicht wegdiskutieren kann. Dennoch existieren bei genauerer Betrachtung auch viele Gemeinsamkeiten zwischen ihnen. So unterschiedlich Religionen z.B. auf den ersten Blick sind, im Prinzip gibt es in ihnen allen ähnliche Regeln: Mord oder Lüge werden prinzipiell als verwerflich angesehen, der materielle Anteil des Kulturlebens wird in seiner Bedeutung relativiert, Lebensgemeinschaften zwischen Mann und Frau werden gestiftet, die Menschen werden über Leid zu trösten versucht etc.

Man kann solche Gemeinsamkeiten aufspüren und auf diese Art zu größerem gegenseitigem Verständnis gelangen. Durch die Entdeckung von Gemeinsamkeiten kann Haß abgebaut und Frieden gestiftet werden. Der Friedensforschung kommt besonders hier eine wichtige Aufgabe zu: Sie kann helfen, solche Gemeinsamkeiten zu entdecken. In diesem Sinne veranstaltete z.B. das Wiener Universitätszentrum für Friedensforschung einen Friedensdialog der Weltreligionen mit dem Schwerpunkt Indien, in dem es vor allem darum ging, Gemeinsamkeiten zwischen Christentum und Hinduismus herauszuarbeiten. Solche und ähnliche Projekte sollten auch weiter vertieft und wiederholt werden.

 

Kritik an Huntington

Es gibt kaum einen zeitgenössischen Autor, der so einflußreich und umstritten ist wie Huntington. Einflußreich ist er deshalb, weil keine politikwissenschaftliche Bibliothek ohne sein Hauptwerk auskommt, weil seine Begrifflichkeit und seine Thesen im Hintergrund des gegenwärtigen politischen Denkens stark zu wirken scheinen und fast jeder, der sich mit internationaler Politik beschäftigt, zumindest Huntigtons Namen kennt. Auch in den Massenmedien löste Huntingtons Buch Diskussionen aus, was bei wissenschaftlicher Literatur sonst eher selten passiert. Umstritten ist Huntington aber nichtsdestotrotz; seine Thesen lösten großen Widerspruch aus.

Ich habe im Laufe meiner Arbeit schon ausgeführt, daß der oft geäußerte Vorwurf des Rassismus an Huntington nicht gerechtfertigt ist. Denn Rassismus beinhaltet meiner Ansicht nach mindestens zwei Elemente:

1.) Der Glaube an die biologisch verstandene "Rasse" als fundamentale Triebkraft der Geschichte.

2.) Die Ansicht, daß eine "Rasse" einer anderen überlegen ist - und daher berechtigt, über diese andere zu herrschen oder sie gar zu töten.

Beide Kriterien sind von Huntingtons Thesen nicht erfüllt. In seinem Konzept spielt nicht die Rasse, sondern die Kultur die entscheidende Rolle. Diese ist aber nicht biologisch begründet, entspringt auch nicht einer bestimmten "Rasse", sondern wird in erster Linie über gemeinsame Wertvorstellungen definiert. Biologie spielt bei Huntington nur insoferne eine Rolle, weil Eltern normalerweise ihre Wertvorstellungen an Kinder weitergeben und diese wieder an die ihren etc. Insoferne kann von Abstammung auf Kulturkreise geschlossen werden. Aber Abstammung ist bei Huntington höchstens ein Indikator eines Kulturkreises, nicht sein konstituierendes Element.

Huntington glaubt auch nicht an die Überlegenheit einer Kultur über eine andere. Zwar bekennt er sich zu den Wurzeln seiner eigenen Kultur, dem Westen, und schlägt auch Strategien vor, wie man die Stellung des Westens international ausbauen kann. Er glaubt aber nicht daran, daß der Westen anderen Wertgemeinschaften kulturell überlegen sei. Er glaubt daher auch nicht, daß wir unsere Werte anderen notwendigerweise aufzwingen müssen. Vielmehr warnt er vor eben dieser Vorstellung, die er als überheblichen westlichen "Universalismus" brandmarkt.

Der Vorwurf, daß Huntington gewisse Feindbilder schafft, taucht in der Literatur auch immer wieder auf. Hans-Peter Martin etwa formuliert eine solche Kritik in seinem Buch "Die Globalisierungsfalle", wenn er meint:

"Uralte Ängste, wonach Europa, je nach Jahrhundert, von den Hunnen, Türken oder Russen überrannt wurde, fanden bei Huntington ihre gefällige Bestätigung. Wird letztlich, wie der Harvard-Stratege darlegt, der demokratische Westen mit dem Rest der Welt zusammenprallen, mit einem Bündnis aus Despoten und Theokraten à la Saddam Hussein und Ayatollah Khomeini, unterstützt gar von effizienten konfuzianischen Lohndrückern? Zweifel sind mehr als angebracht..."

Dieser Vorwurf der Schaffung von Feindbildern durch Wecken von alten Ängsten ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Das folgende Zitat erscheint mir besonders geeignet, diesen Vorwurf zu illustrieren. Huntington entwirft darin ein fiktives Zukunftsszenario, das einer apokalyptischen Horrorvision gleicht (mit Versatzstücken aus dem Vietnamkrieg, der Kuba-Krise und dem Jugloslawienkrieg). Im Verlauf dieses Szenarios wird der Westen in einem gewaltigen Völkerringen, oder besser: von einem atomaren Holocaust zerstört.

"Angenommen, wir haben das Jahr 2010. Die amerikanischen Truppen haben das mittlerweile wiedervereinigte Korea verlassen, ihre Militärpräsenz in Japan haben die USA stark reduziert. (...)

Die Erschließung der Erdölreserven im Südchinesischen Meer ist rasch vorangekommen, im wesentlichen unter chinesischen Vorzeichen, aber mit vietnamesischer Kontrolle über einige Gebiete, die von amerikanischen Firmen erschlossen wurden. Mit gesteigertem Selbstvertrauen auf seine Möglichkeiten der Machtausübung kündigt China an, daß es die vollständige Kontrolle über das Südchinesische Meer herstellen wird, über das es bereits Souveränitätsrechte beansprucht hat. Die Vietnamesen sträuben sich, und es kommt zu Kämpfen zwischen vietnamesischen und chinesischen Kriegsschiffen.

Die Chinesen (...) marschieren in Vietnam ein. Die Vietnamesen bitten die USA um Beistand. Die Chinesen warnen die USA vor einer Einmischung. Japan und die anderen Nationen Asiens sind unschlüssig. Die USA erklären, daß sie die Eroberung Vietnams durch China nicht akzeptieren können und entsenden einen ihrer wenigen noch verbliebenen Flugzeugträger-Kampfverbände in das Südchinesische Meer. Die Chinesen verurteilen dies als Verletzung chinesischer Hohheitsgewässer und unternehmen Luftangriffe gegen den Kampfverband. (...)

Chinesische Unterseeboote sowie Flugzeuge, die von Taiwan und dem Festland aus operieren, fügen amerikanischen Schiffen und Einrichtungen in Ostasien schweren Schaden zu. Unterdessen marschieren chinesische Bodentruppen in Hanoi ein und besetzen große Teile Vietnams.

(Der Krieg beginnt zu eskalieren und der mittlerweile von antiwestlichen Fundamentalisten beherrschte islamische Kulturkreis greift auf der Seite Chinas in den Krieg ein. Die USA versucht, die Hilfe seiner europäischen Verbündeten zu erhalten).

China und der Iran befürchten jedoch, daß westliche Länder sich letzten Endes doch hinter die USA stellen werden, so wie die USA in zwei Weltkriegen letztlich England und Frankreich zu Hilfe kamen. Um dies zu verhindern, schaffen sie heimlich kernwaffentaugliche Mittelstreckenraketen nach Bosnien und Algerien und warnen die europäischen Mächte vor einem Eintritt in den Krieg. (...)

Der amerikanische Nachrichtendienst entdeckt und meldet die Aufstellung von Raketen, und der NATO-Rat erklärt, die Raketen müßten unverzüglich abgezogen werden. Noch bevor jedoch die NATO agieren kann, marschiert Serbien, das den Ehrgeiz hat, auf seine historische Rolle als Verteidiger des Christentums gegen die Türken zu pochen, in Bosnien ein. Kroatien beteiligt sich, und die beiden Länder besetzen Bosnien, erbeuten die Raketen, teilen das Land auf und setzen ihre Bemühungen um Vollendung der ethnischen Säuberungen fort, die sie in den neunziger Jahren des 20.Jahrhunderts hatten abbrechen müssen. Albanien und die Türkei versuchen, den Bosniern zu helfen; Griechenland und Bulgarien marschieren im europäischen Teil der Türkei ein, und in Istanbul bricht Panik aus, als Türken über den Bosporus fliehen. Unterdessen explodiert eine in Algerien abgefeuerte Rakete mit nuklearem Sprengkopf in der Nähe von Marseilles, und die NATO unternimmt zur Vergeltung verheerende Luftangriffe auf nordafrikanische Ziele. (...)

Welchen unmittelbaren Ausgang dieser globale Krieg zwischen den Kulturen auch nehmen mag (...), das umfassendere langfristige Ergebnis wäre fast zwangsläufig eine drastische Einbuße an wirtschaftlicher, demographischer und militärischer Macht auf seiten aller Hauptbeteiligten des Krieges".

Diese und andere Textstellen könnten durchaus als Wecken neuer Feindbilder verstanden werden; und meine ganz persönliche Erfahrung bestätigt dies. Ich kann mich noch gut erinnern, als ich diese Stelle vor einigen Jahren zum ersten Mal las. Es war schon sehr spät in der Nacht. Ich hatte bereits den ganzen Tag Huntington gelesen und sein Gedankengebäude stark verinnerlicht. Dann kam ich plötzlich zu dieser oben auschnittsweise zitierten Textstelle. Sie erschütterte mich dermaßen, daß ich zunächst einmal kontrollierte, ob meine Wohnungstür auch wirklich zweimal abgeschlossen ist, damit kein imperialistischer Chinese und kein islamischer Fundamentalist hereinkommen kann. Anschließend ging ich zu Bett; und ich hatte die ganze Nacht Alpträume von der Überflutung Europas durch wildgewordene barbarische Horden. Erst am nächsten Tag, bei kühlerem Kopf, wurde mir klar, daß eine solche Gefahr unmittelbar auf keinen Fall besteht und daß ich tags zuvor nicht rational agiert hatte - ich zeigte vielmehr psychische Überreaktionen als Folge einer zu intensiven Auseinandersetzung mit Huntington. Ich bin vielleicht, könnte man ironisch hinzufügen, der erste klinische Fall nicht von Alzheimer, sondern von Huntington geworden - einer Krankheit, gekennzeichnet durch Endzeitstimmung und Weltuntergangsphantasien, die in dieser Form doch unberechtigt sind. Trotzdem könnte ich mir vorstellen, daß Huntingtons Werk (vielleicht, ohne daß der Autor es wollte) bei anderen ähnliche oder vielleicht sogar größere Ängste schürt und somit Feindbilder begünstigt - der Haß folgt ja der Angst auf den Fuß.

Mein persönlicher Hauptkritikpunkt an Huntington ist aber dennoch ein anderer: Ich halte ihn letztlich weder für einen Rassisten, noch für einen Kriegstreiber. Ich glaube auch nicht, daß es seine versteckte Absicht war, zu einem "Kampf der Kulturen" aufzuhetzen oder zur Intoleranz gegenüber Minderheiten. Aber ich bin der Meinung, daß sein Werk gerade zu diesen Zwecken mißbraucht werden könnte. Und genau in dieser Mißbrauchsanfälligkeit sehe ich eine gewisse Gefahr, zumal Huntington meiner Ansicht nach zuwenig "Schutzfaktoren" in sein Werk eingebaut hat, um einen Mißbrauch für alle Zeit auszuschließen.

Trotz aller Kritikpunkte ist Huntington für mich aber ein lesenswerter Autor und ein herausfordernder Denker. Sich mit seinen Thesen zu beschäftigen ist schon allein deshalb wichtig, um in gegenwärtigen Diskussionen über internationale Politik bestehen zu können. Darüberhinaus können Modelle wie der "Bruchlinienkonflikt" oder Vorschläge wie die "drei Prinzipien" zur Vermeidung des Kulturkampfes vernünftige theoretische Ansätze liefern, die man besonders für die Friedensforschung fruchtbar machen kann.

LITERATUR

Samuel P. HUNTINGTON: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21.Jahrhundert. München, Wien (5.Auflage) 1997.

Christian J. JÄGGI, David J. KRIEGER: Fundamentalismus. Ein Phänomen der Gegenwart. Zürich und Wiesbaden 1991.

Hans-Peter MARTIN, Harald SCHUMANN: Die Globalisierungsfalle. Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand. Reinbek bei Hamburg (15.Auflage) 1997.

Hans-Peter NEUHOLD, Waldemar HUMMER, Christoph SCHREUER: Österreichisches Handbuch des Völkerrechts. Band 2: Materialienteil. Wien 1983.

Oswald SPENGLER: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. München (10.Auflage) 1991.

Universitätszentrum für Friedenforschung (Hg.): Wiener Blätter zur Friedensforschung, Nr.101. Wien 1999


 Patrick Horvath: "Über Philosophie und Politik"
Kontakt
© 2000 Patrick Horvath