Hegels Philosophie der Politik und Geschichte
Lehrveranstaltung "Zur Kritik und Metakritik der Geschichtsphilosophie", Dr.Kaltenbacher, Wintersemester 1998/99
I.
Seit einigen Jahren beschäftige ich mich im Rahmen eines Universitätsstudiums mit Philosophie, u.a. auch mit jener Hegels. Dazu bringt mich allein die Faszination für geistesgeschichtliche Phänomene und meine Liebe zu allen Formen menschlicher Erkenntnis.
Dies allein sind die Gründe, warum ich mich mit der allseits als brotlos und obendrein als sinnlos verlachten und verhöhnten Philosophie beschäftige. Und sie in meinem Leben nicht missen möchte und kann, auch wenn mich alle deswegen für dumm halten.
Wir leben in einer vom Kapitalismus gnadenlos beherrschten Zeit. Zwar bin ich gewiß: Das geht vorbei. Es ist aber momentan traurige Realität.
Die nur zu oft ausgesprochene Grundannahme unserer Zeit lautet: Alles, was kein Geld bringt, ist nichts wert. Im Wissenschafts- und Universitätsbetrieb heißt das vor allem: Jeder Wissenschaft, die keine unmittelbare wirtschaftliche Verwertung verspricht, wird die Existenzberechtigung abgesprochen. Dazu gehört, neben anderen Geisteswissenschaften, ganz besonders die Philosophie.
Ich sehe einmal davon ab, daß die Aussage, das Ziel jeder wertvollen menschlichen Verstandestätigkeit sei es, Geld einzubringen, auch eine philosophische Aussage ist, freilich eine sehr primitive und dem Geist schädliche. Ich möchte nur sagen, daß es auch andere menschliche Betätigungsfelder gibt, die von ungeheurer Wichtigkeit für die Gesellschaft sind.
Die Aufgabe der Philosophie ist meiner Ansicht nach, das kritische Denken zu schulen und so das wahrhaft Menschliche in uns - also die Summe all der höheren Vermögen, die uns von Steinen und Tieren unterscheiden - großzuziehen und nach Kräften zu fördern.
Die Naturwissenschaft - und das ist der zweite heute weitverbreitete Irrtum - wird in der heutigen Gesellschaft gegenüber der Geisteswissenschaft außerdem als objektiver und zuverlässiger eingestuft. Es wird dabei zu selten bedacht, daß die Erkenntnisfähigkeit einer Wissenschaft einzuschätzen der Wissenschaftstheorie obliegt, welche wesentlich ein philosophisches Fach ist. Der Wert naturwissenschaftlicher Methoden kann nur durch philosophische Argumentation nachgewiesen werden, denn es muß bewiesen werden, ob sie uns der Erkenntnis der Wahrheit wirklich näher bringt oder nicht - das ist letztlich eine philosophische Frage! Die Methode der Naturwissenschaften kann niemals aus sich selbst heraus begründet werden, sondern bedarf eines philosophischen Unterbaus (man sieht also, wie dumm daher die Behauptung ist, Naturwissenschaft sei der Philosophie überlegen, wo sie doch ihrer als Legitimation bedarf).
Und die Erkenntnisfähigkeit der Naturwissenschaft ist auch umstritten - man denke in diesem Zusammenhang an Giovanni Battista Vicos "verum-factum"-These, die das Wahre und das Gemachte, Geschaffene in Beziehung zueinander setzt. Kann vielleicht, wie Vico meint, nur die Wahrheit dessen erkannt werden, was wir Menschen selbst geschaffen haben? Und das wäre nun einmal alles, was man als geistige oder kulturelle Phänomene bezeichnen kann! Insoferne könnten uns die Geisteswissenschaften sogar näher zur Wahrheit bringen als die Naturwissenschaften. (Vgl. dazu auch Vittorio Hösle: Vico und die Idee der Kulturwissenschaft. Hamburg 1990).
Aber selbst, wenn sie das nicht tun sollten: Es gibt, wie oben schon betont, nun einmal gewisse Bereiche des Forschens und Denkens, die mit dem Methodenkanon der Naturwissenschaften nicht oder nur schwer faßbar sind, über die sichere Erkenntnis schwer zu gewinnen ist, die aber trotzdem eine große Wichtigkeit für die Menschen und die Gesellschaft besitzen.
Was hat man z.B. davon, wenn man zwar viel von ausgestopften Affen versteht, von politischen und historischen Phänomenen aber keine Ahnung hat? Kann man sich dann als mündigen Staatsbürger bezeichnen? Ist es nicht für die Gesellschaft wertvoll und segensreich, insbesonders für eine demokratische, wenn Bildung in Politik, Geschichte, Sozialwissenschaften und verwandten Bereichen in Blüte steht? Ist das nicht belebend für die Freiheit und die Pluralität des Diskurses?
Die Beschäftigung mit Hegel hat mich sehr angeregt und war eine Bereicherung für mich, besonders seine Philosophie der Politik und Geschichte. Sie hat es mir erlaubt, eigene Gedanken anhand der Lektüre seiner Schriften zu entfalten, die ich in dieser Arbeit niederlegen möchte. Man könnte sagen: Meine Gedanken entzündeten sich an Hegels wie ein Streichholz an einer rauhen Fläche. Das allein macht es wertvoll, so alte Schriften zu studieren, die in Wahrheit neu sind (denn sie sind als Klassiker zeitlos).
Ich kann auch nicht umhin, Bewunderung für diesen großen Mann zu empfinden. Trotz aller Wertschätzung darf der aufgeklärte, moderne Mensch aber niemals eine andere Autorität anerkennen als die der kritisch prüfenden Vernunft - zumindest nicht auf dem Gebiete der Philosophie, wo die blinde Gläubigkeit an Autoritäten kontraproduktiv und widersinnig ist; Philosophie ist ja doch wesentlich vernünftiges Denken und vor allem: Selbst-Denken.
Ich hoffe daher, daß es nicht als Geringschätzung Hegels oder als Anmaßung meiner Person gewertet wird, wenn ich in meinen Gedanken auch einmal nicht Hegels Standpunkt teile und dies auch in deutlichen Worten zum Ausdruck bringe.
Außerdem, was hätte es für einen Sinn, wenn ich in einer Arbeit nur Hegels Standpunkt in etwas anderen Worten widergebe und ihn dabei noch bekräftige? Bin ich ein Papagei? Außerdem wäre eine solche Arbeit doch sehr langweilig. Wozu etwas unreflektiert widergeben, was ein anderer bereits in viel besseren, vollkommeneren Worten gesagt hat? Und selbst, wenn ich mich in meinen Gedanken einmal irren sollte, was ich übrigens gegebenenfalls gerne einräume, ist es nicht - frei nach Nietzsche - besser, ein Narr auf eigene Faust zu sein als ein Weiser nach fremdem Gutdünken? Und ist es nicht besser, in einer Arbeit eigenständiges, lebendiges Denken und selbständige Auseinandersetzung mit einem im übrigen bewundernswerten und großen Philosophen unter Beweis zu stellen als bloßes, unreflektiertes Nachplappern?
II.
Hegel schreibt in § 257 seiner Rechtsphilosophie: "Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee". Obwohl er diesen Gedanken ausführlich bespricht, überzeugt er mich nicht. Ich war immer der Meinung, daß der Staat nicht gerade die Entfaltung der Sittlichkeit ist; und auch seine Handlungen, so zeigt schon ein kritischer Blick auf die Geschichte, nicht unbedingt sehr sittlich sind.
Gehört nicht eigentlich doch einiges an Blindheit dazu, die Sittlichkeit des Staates zu behaupten, wenn man, wie Hegel, gerade in einem so despotischen Militärstaat wie Preußen lebt? Einige Episoden aus der Geschichte Preußens, eines Staatsgebildes, das so viele sinnlose Kriege geführt und so viele Menschenleben auf dem Gewissen hat, können das vielleicht illustrieren.
Als der vielgerühmte und zugegebenermaßen mit vielen politischen Erfolgen gesegnete Friedrich der Große im Jahre 1740 (ein paar Generationen vor Hegel) den Thron bestieg, bestand seine erste Tat darin, einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Österreich zu führen. Bei unvoreingenommener Betrachtung kann man sagen, daß ausschließlich machtpolitische Gründe der Antrieb dazu gewesen sein können. Er erkannte die momentane Schwäche Österreichs und seiner Regierung und nutzte sie, um seinem Staat Schlesien einzuverleiben. In dem dabei und in der Folge geführten Kriege kamen viele tausend Unschuldige ums Leben. Felder wurden verwüstet, Häuser zerstört, Frauen vergewaltigt. Sehr sittlich ist das meiner Ansicht nach nicht.
Als Preußen den Siebenjährigen Krieg führte (1756-1763) griff der preußische Staat zu einer sehr bezeichnenden Methode der Kriegsfinanzierung. Es wurden riesige Summen minderwertiger Währung in Umlauf gebracht. Diese Münzen - Papiergeld war damals nicht üblich - enthielten einen viel geringeren Edelmetallgehalt, als staatlich verbürgt behauptet wurde. Es wurde also systematische Münzfälschung betrieben, die eignen Bürger wurden mit wertlosem Falschgeld bezahlt. Die dem Krieg folgende Inflation schadete vielen; dazu wurde besagtes Geld, nachdem man bereits damit bezahlt und Leistungen erhalten hatte, für ungültig erklärt. Ohne Entschädigung für das geprellte Volk, versteht sich. Durch diese Kriegsfinanzierung durch Inflation kann man vielleicht kurzfristig, während der Krieg es dringlich fordert, eine Menge Leistungen mobilisieren und so den Erfolg wahrscheinlicher machen. Aber sittlich ist diese Methode sicher nicht.
Ebensowenig sittlich war das von König Friedrich Wilhelm (Friedrichs des Großen Vater) ersonnene preußische Rekrutierungssystem, das zu Hegels Lebzeiten teilweise noch Gültigkeit hatte. Sogenannte Werber entführten junge Männer gegen deren Willen und preßten sie mit Gewalt und unter Androhung brutalster Strafen in die preußische Armee. Die vom König besoldeten Werber waren dabei nicht zimperlich; sie drangen in private Häuser und Kirchen ein, hielten auf der Straße Kutschen auf und entführten die Leute, die sie brauchten. Dabei rissen sie Familien auseinander, brachten viel Leid über Menschen und waren dementsprechend verhaßt.
Ich könnte noch viele Beispiele anführen, die kein so gutes Bild auf den sittlichen Zustand des preußischen Staates werfen. Die nach Hegels Zeit durchgeführte Bismarcksche Eroberungspolitik etwa war sehr erfolgreich, aber sicher nicht die Entfaltung großer Sittlichkeit. Daß auch andere Staaten nicht viel besser waren und sind, will ich auch nicht bestreiten - nicht nur die Deutschen sind schlecht! Aber ich griff gerade Preußen heraus, weil das gerade Hegels Heimat war, in der er lebte und wirkte, um das meiner Meinung nach Groteske in seinem Standpunkt zu zeigen.
Es ist mir bewußt, daß Hegel meine Argumente nicht gelten lassen würde. Er würde wahrscheinlich, wie in § 258, die historische Betrachtung des Staates relativieren und meinen, daß seine philosophische Betrachtung mit dieser nichts zu tun hätte, vielmehr hätte es diese mit dem "Inwendigen" des Staates zu tun, seinem "gedachten Begriffe". Was ist, frage ich mich aber, wenn der metaphysisch erfaßte Begriff einer Sache, wie immer er geartet sein sollte, mit der empirischen, historischen Realität einfach nicht übereinstimmt? Ist letztere nicht unmittelbarer und daher vorzuziehen? Oder erlaubt es das aus abstraktem Denken gewonnene Ergebnis der Hegelschen Philosophie, die besagt, der Staat sei die Wirklichkeit der sittlichen Idee, die historische und politische Realität zu leugnen, die so offensichtlich das Gegenteil zeigt? Dazu kann sich vielleicht Hegel, ich kann mich dazu nur schwer durchringen.
Hegel selbst würde freilich all dem entgegenhalten (§ 258 Zusatz):
"Bei der Idee des Staats muß man nicht besondere Staaten vor Augen haben, nicht besondere Institutionen, man muß vielmehr die Idee, diesen wirklichen Gott, für sich betrachten. Jeder Staat, man mag ihn auch nach den Grundsätzen, die man hat, für schlecht erklären, man mag diese oder jene Mangelhaftigkeit daran erkennen, hat immer (...) die wesentlichen Momente seiner Existenz in sich. Weil es aber leichter ist, Mängel aufzufinden, als das Affirmative zu begreifen, verfällt man leicht in den Fehler, über einzelne Seiten den inwendigen Organismus des Staates selbst zu vergessen. Der Staat ist kein Kunstwerk, er steht in der Welt, somit in der Sphäre der Willkür, des Zufalls und des Irrtums; übles Benehmen kann ihn nach vielen Seiten defigurieren. Aber der häßlichste Mensch, ein Kranker und Krüppel ist immer noch ein lebender Mensch; das Affirmative, das Leben, besteht trotz des Mangels, und um dieses ist es hier zu tun."
Aber was wäre, um dieses Gleichnis fortzusetzen, wenn auf der ganzen Welt ausschließlich kranke und mißgestaltete Menschen herumliefen? Könnte man dann etwa sagen, die wahre, allgemeine Natur des Menschen wäre die Schönheit? Und der Mensch die Entfaltung der Idee der Gesundheit? Ich sehe nicht ab, wie das haltbar wäre. Und so ist das doch wohl auch mit dem Staat: Was ist nun, wenn die Staaten der Welt, eigentlich ohne Ausnahme, sich in himmelschreiender Unsittlichkeit übertreffen? Kann man dann noch sagen, das Wesen des Staates liegt trotzdem in der Sittlichkeit, jede zugegebenermaßen vorhandene Unsittlichkeit der staatlichen Handlung ändere dabei an diesem seiner wahren inneren Idee nichts, sei vielmehr nur so eine Art Akzidens? Ändert die so häufig praktizierte Unsittlichkeit nicht vielmehr alles? Ist Hegels Argumentation nicht Realitätsverweigerung? Könnte man mit einer solchen, oben genannten Argumentation nicht selbst das Widersinnigste behaupten?
Oder, um Hegel nach der Art Voltaires zu parodieren, was wäre, wenn ein neuer Doktor Pangloß in etwa folgendes von sich geben würde:
"Die Zitrone ist die Idee des Süßen. Das Süße gibt sich in der Zitrone seine Wirklichkeit. Daß nun Zitronen sauer sind, soll uns dabei nicht stören, das berührt ihr wahres, innerstes Wesen nicht. Bei der Idee der Zitrone muß man ja nicht besondere Zitronen vor Augen haben, nicht besondere Früchte, man muß vielmehr die Idee, diesen wirklichen Gott, betrachten. Jede Zitrone, man mag sie auch nach dem Geschmacke, den man hat, für sauer erklären, man mag diese oder jene Mangelhaftigkeit daran erkennen, hat immer die wesentlichen Momente ihrer Existenz in sich. Das Affirmative, das Süße, besteht in der Zitrone doch trotz dieses oder jenen Mangels, den die empirische Realität bringt, und um dieses ist es hier zu tun und macht daher wie gesagt ihr innerstes Wesen aus."
Hätte dieser neue Doktor Pangloß jetzt bewiesen, daß Zitronen süß sind? Woher nimmt er die absolute Gewißheit, das Wesen einer Sache in abstracto erkannt zu haben, wenn diese Erkenntnis mit jener in concreto nicht im Entferntesten übereinstimmt?
Ein von Hegel im übrigen durchaus geschätzter italienischer Denker der Renaissance, Niccolo Machiavelli, hat sich einstmals bemüht, das innere Wesen der Politik zu erfassen. Sein Ansatz war ein anderer als jener Hegels, nämlich durchwegs realistisch, empirisch, weniger normativ. Könnte man nicht sagen, daß das Hauptergebnis seiner Philosophie der Hegels diametral entgegengesetzt war - daß eben das Wesen des Staates eben in seiner Unsittlichkeit besteht, weil er unter Umständen der unsittlichen Handlungen bedarf, um zu gedeihen; sittliche Handlungen auf dem korrupten Felde der Politik dem Staat und dem Staatsmanne sogar schädlich sind? Diese Facette ist doch zumindest bedenkenswert...
Daß der Staat als politisches Gebilde notwendig und auch zweckmäßig ist, will ich nicht bestreiten. Letztlich ist er doch eine Vereinigung der einzelnen Menschen, die aus seiner Existenz zahllose Vorteile beziehen. Nur ein Staat mit seinen Ressourcen kann Straßen bauen, Schulen errichten und Lehrer besolden, den sozial Schwachen helfen und Verbrechen wirksam bekämpfen. Daß eine gewisse sittliche Dimension in diesen Aufgaben liegt, läßt sich auch nur schwer bestreiten. Daß aber gerade mit der Erstarkung und Entfaltung des Staates auch ein Mißbrauch seiner Macht notwendigerweise einhergeht, ist meiner Meinung nach angesichts der vielen von Staaten begangenen Verbrechen an der Menschlichkeit, an deren Ungeheuerlichkeit sich kein noch so spektakuläres Verbrechen eines einzelnen messen kann, offensichtlich.
III.
Es ist sehr aufschlußreich, wenn man zu einem Urteil über Hegels Staatsphilosophie gelangen will, die Schriften seines damaligen Hauptkontrahenten und schärfsten Kritikers Arthur Schopenhauer zu lesen (ob man nun damit übereinstimmt oder auch nicht). Ich möchte Schopenhauers Meinung zum Staat anführen, weil sie im diametralen Gegensatz zu Hegels Ansicht steht. So schreibt er in seinen Parerga und Paralipomena II, im Kap. Zur Rechtslehre und Politik § 123, daß...:
"...der Staat im wesentlichen eine bloße Schutzanstalt ist, gegen äußere Angriffe des Ganzen und innere der Einzelnen unter einander. Hieraus folgt, daß die Nothwendigkeit des Staates, im letzten Grunde, auf der anerkannten UNGERECHTIGKEIT des Menschengeschlechts beruht: ohne diese würde an keinen Staat gedacht werden; da niemand Beeinträchtigung seiner Rechte zu fürchten hätte und ein bloßer Verein gegen den Angriff wilder Thiere, oder der Elemente, nur eine schwache Aehnlichkeit mit einem Staate haben würde. Von diesem Gesichtspunkt aus sieht man deutlich die Bornirtheit und Plattheit der Philosophaster, welche, in pompösen Redensarten, den Staat als den höchsten Zweck und die Blüthe des menschlichen Daseyns darstellen und damit eine Apotheose der Philisterei liefern."
Letzteres ist natürlich ein Seitenhieb auf den inbrünstig gehaßten Hegel. Hegel freilich würde Schopenhauers Erklärungsmodell des Staates als zu platt empfinden und ihm vorwerfen, die metaphysische Dimension der politischen Gebilde nicht ausreichend zu würdigen.
IV.
Hegel schreibt in seiner Rechtsphilosophie nicht unbedingt negativ über den Patriotismus. Oder, besser ausgedrückt: Er nennt ihn u.a. in einem Atemzug mit hehren Worten wie Wahrheit oder Vernünftigkeit.
Davon zeugt z.B. auch der § 268: "Die politische Gesinnung, der Patriotismus überhaupt, als die in Wahrheit stehende Gewißheit (...) und das zur Gewohntheit gewordene Wollen ist nur Resultat der im Staate bestehenden Institutionen, als in welchem die Vernünftigkeit wirklich vorhanden ist, so wie sie durch das ihnen gemäße Handeln ihre Bestätigung erhält" u.s.w.
Wenn man bedenkt, wie oft schon ein Volk gegen ein anderes im Namen des Patriotismus verhetzt wurde, wie oft zudem letztere Gesinnung nicht nur meiner Ansicht nach gerade bei den Dummen sehr ausgeprägt ist, hervorragende Geister diese unkritische Haltung aber eher seltener teilen - siehe etwa Diogenes, Karl Kraus und viele andere -, sind solche Sätze möglicherweise sehr unangebracht.
Um zu zeigen, daß ich mit dieser Meinung nicht ganz alleine dastehe, möchte ich zwei Zitate bedeutender Philosophen anführen, die, so glaube ich, die Sache eher treffen.
In seinem Buch "Also sprach Zarathustra" schreibt z.B. Friedrich Nietzsche die für den Staat wenig schmeichelhaften Worte (S.51):
"Staat heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde..."
Das Kapitel, aus dem dieser Satz entnommen ist, trägt den nachdenklich stimmenden Titel: "Von neuen Götzen". Der Staat taucht in diesem als eine solche neue Götze auf, deren Anbetung dem frevlerischen Tanz ums goldene Kalb gleicht, der besser vermieden werden sollte.
Nietzsches Lehrer Arthur Schopenhauer, einer der größten Hegel-Kritiker, meint in seinen Parerga und Paralipomena I (Lütkehaus-Ausgabe S.357):
"Die wohlfeilste Art des Stolzes hingegen ist der Nationalstolz. Denn er verräth in dem damit Behafteten den Mangel an INDIVIDUELLEN Eigenschaften, auf die er stolz sein könnte, indem er sonst nicht zu dem greifen würde, was er mit so vielen Millionen theilt. Wer bedeutende Vorzüge besitzt, wird vielmehr die Fehler seiner eigenen Nation, da er sie beständig vor Augen hat, am deutlichsten erkennen. Aber jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er Stolz seyn könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu seyn: hieran erholt er sich und ist nun dankbarlich bereit, alle Fehler und Thorheiten, die ihr eigen sind, (...) zu vertheidigen."
Man bedenke diese letzteren Worte, bevor man sich einer vorbehaltlosen Lobpreisung des Staates und des Patriotismus hingibt.
V.
Hegel scheint überhaupt auf sehr gutem Fuße mit dem Weltgeist zu stehen. Denn er scheint ihn sehr gut zu kennen - zumindest behauptet er das. Ich stellte mir zum Weltgeist immer einige Fragen.
Ist nicht, bei allen möglichen angeführten Argumenten, die Existenz eines solchen Weltgeistes nicht doch letztlich sehr zweifelhaft? Sind die doch sehr definitiven Aussagen, die Hegel über dieses Wesen trifft, wirklich einwandfrei und wissenschaftlich beweisbar? Natürlich stellt sich in diesem Zusammenhang auch die Frage, was man unter Wissenschaft versteht. Aber wie auch immer - ist es Genialität und epochale Inspiration, die Hegel dazu veranlaßt, so selbstsicher und absolut, d.h. ohne irgendeine Relativierung, dem Weltgeiste nicht nur seine Existenz, sondern dazu gewisse, ganz bestimmte und besondere Eigenschaften zuzuschreiben? Oder ist das bloße Dreistigkeit? Ich möchte diese Frage nicht beantworten. Eine gewisse Skepsis scheint mir aber doch angebracht.
Arthur Schopenhauer, seines Zeichens notorischer Hegel-Hasser, hätte auf meine Fragen auf jeden Fall eine sehr radikale Antwort gegeben. Zum Hegelschen Begriff des "Geistes" findet er in seinen Parerga und Paralipomena I (Lütkehaus Ausgabe, S.174) folgende scharfe Worte:
"Hierher gehört die plumpe Unverschämtheit, mit der die Hegelianer, in allen ihren Schriften, ohne Umstände und Einführung, ein Langes und Breites über den sogenannten 'GEIST' reden, sich darauf verlassend , daß man durch ihren Gallimathias viel zu sehr verblüfft sei, als daß es, wie es Recht wäre, Einer dem Herrn Professor zu Leibe ginge mit der Frage: 'Geist? wer ist denn der Bursche? und woher kennt ihr ihn? ist er nicht etwan bloß eine beliebige und bequeme Hypostase, die ihr nicht ein Mal definiert, geschweige deduciert, oder beweist? Glaubt ihr ein Publikum von alten Weibern vor euch zu haben?' - Das wäre die geeignete Sprache gegen einen solchen Philosophaster."
Ob man dem nun zustimmt oder nicht, betrachten wir Hegels Weltgeist und sein Verhältnis zu Politik und Weltgeschichte näher. Im Zusatz zu § 259 steht:
"Die Staaten als solche sind unabhängig voneinander, und das Verhältnis kann also nur ein äußeres sein, so daß ein drittes Verbindendes über ihnen sein muß. Dies Dritte ist nun der Geist, der sich in der Weltgeschichte Wirklichkeit gibt und den absoluten Richter über sie ausmacht. Es können zwar mehrere Staaten gleichsam ein Gericht über andere bilden, es können Staatenverbindungen eintreten, wie z.B. die Heilige Allianz, aber diese sind immer nur relativ und beschränkt, wie der ewige Frieden. Der alleinige absolute Richter der sich immer gegen das Besondere geltend macht, ist der an und für sich seiende Geist, der sich als das Allgemeine und als die wirkende Gattung in der Weltgeschichte darstellt."
Die Formulierung, die Staaten seien unabhängig voneinander, "...so daß ein drittes Verbindendes über ihnen sein muß...", und dieses sei der Weltgeist, verdient eine nähere Betrachtung. Aus der Unabhängigkeit der Staaten voneinander zu schließen, daß ein Weltgeist über ihnen steht, ja sogar stehen muß - gehört dazu nicht ein sehr gespanntes Verhältnis zur Kausalität und ein sehr geringes Bewußtsein über die Relativität der menschlichen Erkenntnis? Als "mildernden Umstand" kann man natürlich anführen, daß es sich hier nur um einen der späteren Zusätze handelt, die vom Hegel-Schüler Eduard Gans auf Basis von Hegelschen Notizen und Äußerungen ausgearbeitet wurden; vielleicht ist ja dem ein Fehler unterlaufen.
Aber trotzdem - gibts sowas, einen Weltgeist, der sich in der Weltgeschichte und im politischen Kräftespiel der Staaten verwirklicht? Und können wir dezitierte Aussagen über ihn treffen? Ich erinnere daran, daß sich einst an dieser Frage die Gemüter der Links- und Rechtshegelianer schieden. Und der berühmteste und genialste Schüler Hegels, Karl Marx, leugnete in seiner Geschichtsphilosophie, dem historischen Materialismus, die Existenz eines solchen überhaupt. In gewisser Weise hat er Hegels Geschichtsphilosophie "auf den Kopf gestellt", wenn er die Weltgeschichte nicht als die Entfaltung des Weltgeistes erblickte, sondern als die in Stufen fortschreitende, einer inneren Dialektik entspringenden Entfaltung der materialistisch gedachten "Produktionsverhältnisse", wie er die sozioökonomischen Rahmenbedingungen in der Geschichte nannte.
Den Staat definiert Hegel auf jeden Fall als Geist, "der in der Welt steht" (§270). Die Weltgeschichte, in kulturellen und politischen Dimensionen verstanden ist nach Hegel "die Auslegung und Verwirklichung" des Geistes (§342). Diese erfolgt in bestimmten Stufen und im Gegenspiel der Gedanken, Staaten, historischen Prozessen.
Einzelnen Völker ist nach Hegel "die Vollstreckung desselben in dem Fortgange des sich entwickelnden Selbstbewußtseins des Weltgeistes übertragen" (§347). Solche Völker nennt Hegel "welthistorische Völker". Über ein welthistorisches Volk schreibt Hegel in § 347 folgendes:
"Dieses Volk ist in der Weltgeschichte für diese Epoche - und es kann in ihr nur einmal Epoche machen - das herrschende. Gegen dies sein absolutes Recht, Träger der gegenwärtigen Entwicklungsstufe des Weltgeistes zu sein, sind die Geister der anderen Völker rechtlos, und sie, wie die, deren Epoche vorbei ist, zählen nicht mehr in der Weltgeschichte."
Es gibt also in jeder Epoche Völker, die sich der besonderen Gunst des Weltgeistes erfreuen, gleichsam seine Autorität gepachtet haben. Diese Völker machen Epoche. Sie prägen ihre Zeit. Vielleicht kann man da an Spanien denken, das im 16.Jahrhundert eine führende Rolle in der Welt übernahm oder Frankreich, das im 18.Jahrhundert unter Ludwig XIV. oder zu Beginn des 19.Jahrhunderts aufgrund der napoleonischen Eroberungen nach der Weltherrschaft griff. Hegel, der übrigens vor den heranrückenden französischen Truppen aus Jena fliehen mußte, soll Napoleon übrigens einmal den "Weltgeist zu Pferde" genannt haben.
Die übrigen Völker haben gegenüber dem welthistorischen keine Chance, denn der Weltgeist ist ja mit diesem. Und sie haben ihm gegenüber nach Hegel auch gar kein Recht. Sie sind, wie im oberen Zitat schon gesagt "rechtlos" vor der Majestät des heranreitenden Weltgeistes. Sie sind also irgendwo der dreckige Rest, mit dem das auserwählte Volk machen kann, was immer es will. Diese Aussicht der Hegelschen Philosophie ist nicht sehr beruhigend für einen Menschen wie mich, der einem kleinen und weniger mächtigen Land wie Österreich wohnt. Da kann man ja nur hoffen, daß die momentan vom Weltgeist besessenen Amis - das 20.Jahrhundert ist wohl "ihr" Jahrhundert - milde mit uns offenbar nach Meinung der Hegelianer rechtlosem Abschaum verfahren. Ich will mich mit der Hoffnung allerdings nicht begnügen; und so werde ich dem Weltgeist nicht den Gefallen tun, mich blind in meine angebliche Rechtlosigkeit zu fügen.
Liest man die Rechtsphilosophie weiter, kommt man bald dahinter, worauf das alles hinausläuft: Auf eine Prophezeiung einer glorreichen Zukunft für die Deutschen, einen feuchten Traum jedes deutschtümelnden Chauvinisten.
VI.
In § 358 verheißt Hegel dem "germanischen Reich", das für ihn eines der "vier Prinzipien" der "welthistorischen Reiche" ist, eine wahrhaft verheißungsvolle und segensreiche Zukunft. Der die Geschichte bestimmende Weltgeist erlebt einen "Wendepunkt", in dem er "die unendliche Positivität dieses seines Inneren" erfaßt, "das Prinzip der Einheit der göttlichen und menschlichen Natur, die Versöhnung als der innerhalb des Selbstbewußtseins und der Subjektivität erschienenen objektiven Wahrheit und Freiheit, welche dem nordischen Prinzip der germanischen Völker zu vollführen übertragen wird."
Ich wage zu behaupten, daß der Verlauf der deutschen Geschichte nach Hegel seine Prophezeiungen eindeutig widerlegt. An welchen Abgrund die Welt durch deutsche Expansionspolitik des 20.Jahrhunderts geführt wurde, weiß heute jedes Schulkind. Im 2.Weltkrieg zum Beispiel, den das Deutsche Reich mutwillig vom Zaun brach, starben unvorstellbare 55 Mio. Menschen; Europa lag danach in Trümmern. Angesichts des Schicksals der ca. 6 Mio. in deutschen Konzentrationslagern ermordeten Juden, die Unsägliches erleiden mußten, klingt der im 19.Jahrhundert ausgesprochenen Satz, den germanischen Völkern sei in Zukunft die Versöhnung von Wahrheit und Freiheit vom Weltgeist übertragen, wie blanker Hohn.
Natürlich bin ich mir darüber im klaren, daß Hegel keine Schuld an den zuvor genannten Greueln trägt. Ich bin auch überzeugt, daß er all dies verurteilt hätte; ich zweifle auch nicht an seiner Rechtschaffenheit und Menschlichkeit. Ich möchte aber die Riesenhaftigkeit seines historischen Fehlurteils allgemein vor Augen führen, die seiner Geschichtsphilosophie kein gutes Zeugnis ausstellt.
Ich glaube auch nicht, daß irgendein anderes Volk jemals vom Weltgeist, von Gott, der Weltgeschichte oder von wem auch immer eine moralische Mission aufgetragen bekam. Jedoch ist es wahrscheinlich, daß es viele Staaten und Völker gab, gibt und geben wird, die das gerne glauben würden.
Ich bin der Meinung, daß durch die Behauptungen, einen angeblichen moralischen Auftrag irgendwelcher höherer Instanzen zu vollstrecken, in der Praxis nur imperialistisches Handeln mit moralischen Phrasen bemäntelt wird.
Das sieht man heutzutage übrigens auch sehr schön am Beispiel der USA, die sich wieder einmal zum Weltpolizisten aufspielen, um im Namen irgendwelcher höherer Prinzipien Bomben auf weit Schwächere zu werfen - aber natürlich nicht aus Machtpolitik heraus, nein, woher denn! Sie sind doch vielmehr unterwegs auf einem heiligen Kreuzzug, um die Menschheit mit ihren cruise missiles zu beglücken.
Es ist mir eigentlich sehr unsympathisch, wenn ein Philosoph (wie auch Hegel), anstatt Verbrechen und Fehler der Politik, die es massenhaft gibt, aufzuzeigen und zu kritisieren, lieber den Staat quasi heilig spricht. Wenigstens die Philosophie, als Hort des Geistes und der Zivilisation, sollte doch Partei für die Schwachen und die Opfer ergreifen und nicht versuchen, den Mächtigen zu gefallen!
Den Staat, der ja eigentlich ein von Menschen geschaffenes und daher fehlbares Gebilde ist, metaphysisch zu bemänteln, ist meiner Meinung nach sehr schädlich und auch gefährlich. Erklärt man den Staat nämlich schlechterdings zur Entfaltung der Sittlichkeit, und interpretiert man in die Handlungen seiner Behörden irgendwelche höheren Aufträge kosmischer Mächte, macht man ihn eigentlich moralisch unangreifbar, selbst wenn er vollkommen schlecht und verdorben handelt. Denn jede Kritik an der Obrigkeit, und sei sie auch noch so berechtigt, wird dann zum Frevel, wenn diese in Anspruch nimmt, im göttlichen, weltgeistigen oder metaphysisch-sittlichen Auftrag zu handeln.
Ich glaube, daß die damalige Obrigkeit Hegels Philosophie gerne sah und unterstützte. Es wundert mich auch nicht, daß ein Despot wie Metternich gerne Hegels Vorlesungen besuchte. Eigentlich ist das ja ganz großartig für einen Staat und die ihn beherrschenden Kreise, zu Vollstreckern unendlich hoch stehender, metaphysischer Kräfte erklärt zu werden. Das hält die Untertanen ruhig, wenn neue Kriege geführt werden.
Was ich an der Kirche immer verabscheut habe, ist das von ihr nur allzuoft eingegangene Bündnis von Thron und Altar. Sichs mit der politischen Macht arrangieren und - für gewisse materielle Vorteile, versteht sich - die Handlungen dieser göttlich zu legitimieren, das konnten sie schon immer, die Pfaffen. Ob die Kirche die angeblich gottgewollte Ordnung des Feudalwesens im Mittelalter unterstützte oder dem Regime des faschistischen Diktators Franco ihren apostolischen Segen verlieh, immer prostituierte sie sich für gewisse Gegenleistungen an die entsprechenden Regierungen.
Die Philosophie darf diesen Fehler nicht begehen. Und auch heute darf sie nicht dem nach dem Mund reden, was momentan an der Macht ist. Ob das nun ein kapitalistischer Großkonzern oder das Diktat des Marktes, ob das nun eine bestimmte Partei, Kirche, Sekte oder Staatsorganisation ist.
Denn das eben ist der Sinn der Philosophie, der sich übrigens nicht mit Geld messen läßt: Sich eben nicht, Vorteile heischend, den momentanen Machthabern anzupassen, sondern das kritische Denken des einzelnen zu schulen und der überall bedrängten Menschlichkeit eine Stütze zu sein.
Und eben darum braucht man Universitäten, die sie lehren, und Studenten, die sich mit ihr beschäftigen.
Literatur
G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Frankfurt am Main 1986.
Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. München 1976.
Vittorio Hösle: Vico und die Idee der Kulturwissenschaft. Genese, Themen und Wirkungsgeschichte der "Szienza nuova". In: Giovanni Battista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker. Hamburg 1990.
Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena I. Zürich 1988.
Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena II. Zürich 1988.
Patrick Horvath: "Über Philosophie und Politik"
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© 1998 Patrick Horvath