Die Galerie

Über Kunst, Demokratie und Konstruktion

Ein Bühnenstück in 4 Aufzügen von

Werner Horvath

Bei dem vorliegenden Bühnenstück handelt es sich zum Teil um eine Textcollage. Dazu verwendete Ausschnitte aus anderen Werken sind durch eine vorangestellte Zahl erkennbar, welche in der Bibliographie auch die jeweilige Quelle angibt.

Personen der Handlung:

Direktor

Staatssekretär

Kunstkritiker

Junge Frau

Zwerg

Andy Warhol

Lautsprecher

1. Aufzug

 

Ein großer Raum mit weißen Wänden, an denen völlig schwarze Bilder ohne Rahmen hängen. Auf der Glastüre, durch die von außen etwas Licht fällt, erkennt man die Aufschrift „Galerie 1" (in Spiegelschrift, da der Blick von innen erfolgt).

Im Raum selbst befinden sich drei in Anzüge gekleidete Herren, die gefüllte Sektgläser in der Hand halten. In der Mitte des Raumes hängt ein kleiner Käfig von der Decke, in welchem eine junge Frau hockt. Sie ist im Stil der Punkmode gekleidet.

Direktor: Sie glauben gar nicht, welch große Freude es mir bereitet, daß Sie uns so oft besuchen, Herr Staatssekretär! Welch eine Ehre für uns!

Staatssekretär: Die Ehre liegt ganz bei mir, Herr Direktor. Und die Freude. Denn:

Wenn es etwas gibt, wofür zu leben lohnt, dann ist es die Betrachtung des Schönen.

...

Und die Kunst allein...

vermag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben läßt.

Kunstkritiker: Und außerdem gibt es bei Ihnen immer etwas Köstliches zu trinken.

(Sie stoßen an.)

Direktor: Das wird Sie als Kunstkritiker doch nicht etwa beeinflussen!

Kunstkritiker (3): Der Mensch ist eben ein unermüdlicher Lustsucher und jeder Verzicht auf eine einmal genossene Lust wird ihm sehr schwer.

(Sie nippen wieder.)

Staatssekretär (3): Die Veränderung der Stimmungslage ist das Wertvollste, was der Alkohol dem Menschen leistet, und weshalb dieses „Gift" nicht für jeden gleich entbehrlich ist.

Direktor: So sehe ich das auch.

Unter dem Einfluß des Alkohols wird der Erwachsene wieder zum Kinde, dem die freie Verfügung über seinen Gedankenablauf ohne Einhaltung des logischen Zwanges Lust bereitet.

Staatssekretär: Genau !

Aber – ganz im Ernst. Besonders beeindruckt mich, daß der ausstellende Künstler bei Ihnen immer für ein Gespräch zur Verfügung steht. (Er weist auf die junge Frau im Käfig.) Und auch sehr genauen und gezielten Fragen nicht ausweichen kann.

Direktor: Das ist ein wesentlicher Teil unseres Konzeptes. Und ein fixer Bestandteil des Ausstellungsvertrages, den wir mit den Künstlern abschließen. Schließlich muß doch alles seine Ordnung haben.

Staatssekretär: Ein kluges Konzept!

(Er geht sinnend um den Käfig herum und betrachtet die junge Frau.)

...

Also, dann sagen Sie mir einmal: Was ist denn für Sie überhaupt Kunst?

Junge Frau (4): Kunst ist neben Freude und Spiel hauptsächlich die Auseinandersetzung mit DIR SELBST. Kunst ist ein Transportmittel für individuelle, archaische und kollektive Inhalte aus dem Unbewußten. Du baust an deinem SELBST. Es geht um dein Zentrum und somit um Religion, um Gott – oder wie immer man das nennen will.

Staatssekretär: Ja.-

Die Kunst zeigt, wozu der Mensch fähig ist, und begründet damit seine einzigartige Würde.

Kunstkritiker (zeigt auf die junge Frau im Käfig): Haha, Würde...

Junge Frau (6): Schöpferischer Ausdruck ist der Ausdruck der echten Persönlichkeit des Menschen, identisch mit der göttlichen Schöpfungstat.

Kunstkritiker (zeigt wieder auf die junge Frau und wendet sich lachend zum Staatssekretär): Haha, Gott... sehr göttlich!

Junge Frau (7): Es wechseln Tage und Nächte, Götter fallen von ihrem Thron, das aber bleibt, wodurch wir wachsen und Mensch sind. Wir haben ganz tief in uns hinein zu sehen, um begreifen zu können, was sich aus Menschlichem machen läßt und wo die Synthese aller Fähigkeiten und Dinge des Menschen zu suchen ist. Wir müssen ganz ehrfürchtig werden vor der Gewalt unserer Seele, wenn wir die Erfahrung erreichen wollen, die uns sagt, daß das Imponderabil eines erhabenen Augenblicks eine bessere Beantwortung kompliziertester Fragen sein kann als präziseste Berechnung. Die Banalität ist Wahrheit, daß zu sich selbst jasagen muß, wer berufen ist, zu vielem jazusagen.

Kunstkritiker: Berufung, Wahrheit – schon sind wir wieder beim Wahren, Schönen und Guten.

(2) An einem Philosophen ist es eine Nichtswürdigkeit zu sagen: das Gute und das Schöne sind eins: fügt er aber gar noch hinzu „auch das Wahre", so soll man ihn prügeln.

Staatssekretär: In der Tat...

Mit dem Wahren, Schönen und Guten kann man sich in einer pervertierten Welt nur noch beflecken.

Junge Frau: So war das nicht gemeint.

(8) In der Kunst gibt es weder das Wahre noch das Schöne; was mich interessiert, ist die Intensität einer Persönlichkeit, unmittelbar und eindeutig in ihr Werk übergegangen ist der Mensch und seine Vitalität, der Blickwinkel, aus dem er die Bestandteile ansieht, und die Art und Weise, wie er es versteht, Empfindungen und innere Bewegung in einem Spitzengewebe aus Gefühlen einzufangen.

Staatssekretär (zeigt auf die Bilder an der Wand): Und deshalb malen Sie lauter schwarze Bilder?

Junge Frau (5): In einer Welt, aus der die Farbe verschwunden ist, kann Kunst nur finster und schwarz sein....

(5) Kunst muß häßlich sein, um solche Welt zu denunzieren, zu Ehren der vergewaltigten Schönheit.

...

(5) Kunst muß grausam sein, muß Chaos in die Ordnung bringen, um so zu zeigen, wie chaotisch die Ordnung in Wahrheit ist.

Staatssekretär: Eine sehr interessante Ansicht.

Junge Frau (9): Die Idee der Schönheit hat uns allen Infektion und Krankheit gebracht. Man kann kein Objekt anfassen, das nicht dreckig ist.

...

(9) Das gesamte Leben ist hierdurch vergiftet.

Staatssekretär: Mit dieser Ansicht werden Sie sich aber nicht viele Freunde und Anhänger Ihrer Kunst machen.

(10) Der Mensch liebt es im allgemeinen nicht, sich zu sehen, wie er wirklich ist.

Junge Frau (5): Geradezu ein Gradmesser für den Wert eines Kunstwerks ist die Wut, die ihm entgegenschlägt.

Staatssekretär: So kann man das natürlich auch sehen.

(Wendet sich zum Kunstkritiker.)

Und was sagt die Kunstkritik dazu?

Junge Frau (schreit dazwischen) (9): Um wirklich weiterzukommen, müssen wir die Kunst zerstören.

Da die Funktion des modernen Lebens stärker als die Kunst ist, haben alle Versuche, die Kunst zu erneuern, zu nichts geführt.

Sie müssen ihren Bankrott eingestehen.

Kunstkritiker (11): Es gibt keinen Fortschritt in der Kunst, ebensowenig wie es Fortschritt in der Sexualität gibt.

...

Aber andererseits – es wäre natürlich schön,

(12) wenn das Wahre und Gute auch schön erscheinen, allein es ist nicht notwendig.

...

Denn:

(12) Es wäre eine oberflächliche Auffassung der Idee, wollte sie sich auf das einfach Schöne beschränken.

...

Aber:

(15) Angesichts dessen, wozu die Realität sich auswuchs, ist das affirmative Wesen der Kunst, ihr unausweichlich, zum Unerträglichen geworden.

...

(Zum Staatssekretär) Das meint die Kunstkritik dazu.

Junge Frau (13): Je feindseliger die Kritik, desto mehr sollte der Künstler ermutigt sein.

...

(13) Die Kritik an der modernen Kunst ist die natürliche Folge der Freiheit, die dem Künstler gegeben ist, um seine individuelle Sicht darzustellen. Ich betrachte das Barometer der Opposition als eine gesunde Anzeige der Tiefe eines individuellen Ausdrucks.

Kunstkritiker (14): Millionen von Künstlern schaffen. Nur einige Tausend werden diskutiert und vom Betrachter akzeptiert, und noch viel weniger gehen in die Nachwelt ein.

...

Wir Kunstkritiker spielen dabei eine zentrale Rolle. Wir sind nicht Gegner der Künstler, sondern deren Freunde, denn wir erklären die Werke.

Junge Frau (5): Kunst hat immer, zu jeder Zeit, unverständlich zu sein. Das ist ihr Adel.

Kunstkritiker (5): Eben weil Kunst rätselhaft ist, bedarf sie der Interpretation. Die Anschauung allein zeigt niemals, was ein Kunstwerk ist.

...

(15) Wer nicht weiß, was er sieht oder hört, genießt nicht das Privileg unmittelbaren Verhaltens zu den Werken, sondern ist unfähig, sie wahrzunehmen.

Junge Frau (13): Die wahre Kritik der Kunst muß eine Teilnahme sein und nicht – wie in den meisten Fällen – eine bloße Übersetzung des Unübersetzbaren.

...

(13) Es sind immer die „Anschauer", die die Bilder machen. Heute entdeckt man El Greco: das Publikum malt seine Bilder dreihundert Jahre, nachdem ihr eigentlicher Urheber sie gemalt hat.

...

(11) Der Künstler ist der einzige richtige Weise. Er nähert sich uns mit einem empfänglichen Geist und mit offenen Händen. Er steht nicht vor Gericht, wenn seine Arbeiten von anderen begutachtet werden. Umgekehrt, der Besucher ist es, der sich der Kritik aussetzt.

(Der Staatssekretär und der Direktor betrachten inzwischen die Bilder an der Wand.)

Kunstkritiker (11): Jedoch immerhin, es gibt einen Trost: zum Beispiel dies – alle Meinungen sind zeitgebunden...

Junge Frau (11): ...und alle Arbeit ist ewig.

...

(13) Übrigens sehe ich nicht ein, weshalb man der Nachwelt das Privileg einräumen soll, zu entscheiden, was gut und was schlecht war. Um so weniger, als diese Nachwelt alle fünfzig Jahre wechselt. Ich sehe aber auch nicht ein, weshalb die Zeitgenossen besser zu urteilen verstünden. Die Idee des Urteils sollte verschwinden...

Kunstkritiker: Nun ja, ich glaube noch etwas anderes.

...

(13) Die Produktion einer Zeitepoche ist stets ihre Mittelmäßigkeit.

Was nicht produziert wurde, ist immer besser, als was produziert wird.

Die wahren Werte sind unberührbar.

(Inzwischen haben der Staatssekretär und der Direktor ihren Rundgang beendet und füllen ihre Sektgläser erneut.)

Staatssekretär: Waren Sie übrigens heute schon bei der Volksabstimmung?

Direktor: Sie meinen über diese Tiefbohrungen zur Nutzung der Magma-Energie?

Staatssekretär: Genau das meine ich.

Direktor: Nein.

Staatssekretär: Gehen Sie noch?

Direktor: Nein, ich glaube nicht.

Staatssekretär: Das sollten Sie aber tun. Das ist angewandte Demokratie!

Direktor: Sehen Sie, das hat doch keinen Sinn.

Staatssekretär: Warum meinen Sie das?

Direktor: Ich meine, im Prinzip kennt sich ja doch keiner aus. Kein Mensch kann das Risiko dieser Bohrungen wirklich abschätzen. Und über Nutzen und Effekte hören wir auch die unterschiedlichsten „Expertenmeinungen".

Staatssekretär: Stört Sie das? –

Na gut, dann werden eben die anderen entscheiden. Die, die hingehen.

Direktor: Aber das ist ja das Problem. Entschieden wird nicht nach Fakten, sondern nach ganz anderen Kriterien. Nach Schönheit und Jugend der einzelnen Vertreter der verschiedenen Parteien zum Beispiel, oder nach deren Redegewandtheit, Polemik sollte ich wohl besser sagen.

...

Nein, das ist nichts für mich.

Staatssekretär: Das läßt sich nun einmal nicht ändern. – Und es war auch schon immer so.

Direktor: Ich glaube, es wäre besser, wenn nur die Stimmen jener Menschen gültig wären, die das Problem auch wirklich verstehen. – Eine Abstimmung unter Experten sozusagen. Aber das widerspricht wohl unserer Vorstellung von Demokratie.

Staatssekretär: In dieser Form sicherlich.

...

Aber vielleicht fällt uns in Zukunft noch etwas ein.

(Er nippt am Sekt.)

...

Wir sollten uns jetzt wieder der Kunst zuwenden. Oder besser gesagt, der Künstlerin.

(Sie gehen wieder zu der jungen Frau im Käfig.)

Staatssekretär: Warum malen Sie abstrakt?

Junge Frau (15): Neue Kunst ist so abstrakt, wie die Beziehungen der Menschen in Wahrheit es geworden sind.

Kunstkritiker: Schon wieder dieses Wort! Was ist denn das überhaupt, die Wahrheit?

Junge Frau: Wahrheit –

(2) Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und nach langem Gebrauche einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.

Staatssekretär: So genau wollte ich das eigentlich gar nicht wissen.

Daher frage ich anders: Warum malen Sie nicht realistisch, kann man sich da nicht besser mitteilen?

Junge Frau (16): Die Kunst ist immer realistisch, weil sie das hervorzubringen sucht, was dem Menschen allererst Realität ist, und sie ist immer idealistisch, weil alle Realität, die sie schafft, ein Produkt des Geistes ist.

Staatssekretär: Das ist absurd.

Junge Frau (8): Das Absurde schreckt mich nicht ab, denn von einer höheren Warte aus erscheint mir alles im Leben absurd.

Staatssekretär: Sie weichen mir aus. Ich meinte das so:

(17) Die Abstraktion ist Gegenstand der Kunst geworden. Ein Formprinzip vernichtet das andere, oder: die Form vernichtet den Formalismus.

Kunstkritiker: Daher könnte man sagen:

(17) Das abstrakte Zeitalter ist im Prinzip überwunden.

...

(Zur Künstlerin): Ihre Kunst ist also gar nicht so modern. Vielleicht sollten Sie doch wieder zur Natur zurückkehren.

Junge Frau (18): Sie täten besser daran, meine Herren, die Steilküste von Dieppe blau und rot anzumalen, die Natur ist einfach nicht mehr modern genug!

Kunstkritiker (zum Staatssekretär) (19): Die allen Künstlern gemeinsame Unruhe quält unsere heutigen Maler kaum.

(Der Staatssekretär nickt.)

Junge Frau: Noch etwas, meine Herren!

Die vollkommene Imitation der Natur wäre ein bloßes Kunststück, aber kein Kunstwerk. Kunst besteht vielmehr darin, die Natur, nämlich als sinnliches Material, auf eine Weise zu bearbeiten und neu zu schaffen, daß der Mensch sich darin in seiner Geistigkeit wiederzuspiegeln vermag.

Staatssekretär: Und Sie meinen, daß sich Ihre Geistigkeit in diesen (er weist auf die Bilder an der Wand)...

in diesen...

in diesen „Kunstwerken" wiederspiegelt?

Junge Frau (20): Die harte Rinde der Natur und gewöhnlichen Welt machen es dem Geiste saurer, zur Idee durchzudringen, als die Werke der Kunst.

Direktor (zum Staatssekretär): Gut argumentiert, nicht wahr? Da kann man nicht mehr sehr viel erwidern.

...

Ich wußte schon, warum ich sie ausstellen ließ.

...

(5) Jeder echte, also geniale Künstler, schafft sich selbst die Regeln, die er braucht, um seine Ziele zu erreichen. Er ist damit zugleich originell und exemplarisch, weil er sich zwar keiner Vorschrift verpflichtet weiß, sein Werk aber durchaus neue Maßstäbe setzt, indem es die Beurteilungskriterien verändert.

Staatssekretär (21): So bleibt ein Zirkel von Kunstproduzenten, Kunstkritikern und Subventionsgebern, der in sich autark funktioniert und keine anderen Bedürfnisse befriedigt, als eben jene, die er selbst erzeugt.

 

Der Vorhang fällt.

 

 

2. Aufzug

 

 

Erneut in der Galerie 1. Alle Wände sind leer. Im Raum steht nur ein Koffer. Im von der Decke hängenden Käfig kauert ein Zwerg.

Zwerg (22): Vergessen – das möchten alle Menschen ... Aber vergessen ist eine Kunst, die im voraus eingeübt werden sollte. Vergessen hängt immer davon ab, auf welche Weise man sich erinnert; wie man sich aber erinnert, hängt wiederum davon ab, wie man die Wirklichkeit erlebt. Wer mit der Hoffnung voller Fahrt auf Grund gerät, wird sich so erinnern, daß er nicht zu vergessen vermag. Nichts anstaunen ist daher die eigentliche Lebensweisheit. Kein einziges Lebensmoment darf für einen mehr Bedeutung haben, als daß man es jeden Augenblick, wo man will, vergessen kann; jedes einzelne Lebensmoment muß andererseits so viel Bedeutung für einen haben, daß man jeden Augenblick seiner sich erinnern kann.

...

(22) Je poetischer man sich erinnert, umso leichter vergißt man; denn poetisch sich erinnern ist eigentlich nur ein anderer Ausdruck für vergessen. Wenn ich poetisch mich erinnere, ist mit dem Erlebten allbereits eine Veränderung vor sich gegangen, dadurch es alles Peinhafte verloren hat.

...

(22) Hat man dergestalt in der Kunst zu vergessen und in der Kunst, sich zu erinnern geübt, sich vervollkommnet, so ist man imstande, Fangball zu spielen mit dem ganzen Dasein.

...

(21) Nicht die Vergangenheit zu vergegenwärtigen dient Kunst, sondern sie zu vergessen.

(Der Direktor öffnet von außen die Türe. Er läßt dem Staatssekretär und dem Kunstkritiker den Vortritt, bevor er selber auch eintritt.)

Direktor: Nur herein, meine Herren! Heute kann ich Ihnen etwas ganz Besonderes präsentieren. (Er zeigt in den leeren Raum hinein.)

Kunstkritiker: Aha.

...

Sehr übersichtlich.

(Der Staatssekretär sieht sich ratlos um. Dann geht er auf den Käfig zu.)

Staatssekretär: Sie sind also der Künstler. Dann erzählen Sie einmal: Was treiben Sie so?

Zwerg (23): Aufstehen: um 7,18 Uhr; inspiriert: von 10,23 bis 11,47 Uhr. Um 12,11 Uhr esse ich zu Mittag und stehe um 12,14 Uhr vom Tisch auf.

Gesundheitsfördernder Spazierritt im hinteren Teil meines Parks: von 13,19 bis 14,53 Uhr. Weitere Inspiration: von 15,12 bis 16,07 Uhr.

Verschiedene Beschäftigungen (Fechten, Nachdenken, Reglosigkeit, Besuche, Versenkung, Geschicklichkeitsübungen, Schwimmen usw...): von 16,21 bis 18,47 Uhr.

Das Abendessen wird um 19,16 Uhr aufgetragen und ist um 19,20 Uhr beendet. Dann lautes Lesen von Symphonien: von 20,09 bis 21,59 Uhr.

Das Schlafengehen findet bei mir regelmäßig um 22,37 Uhr statt. Einmal wöchentlich Wecker und Aufschrecken um 3,19 Uhr (dienstags).

...

(23) Ich esse nur weiße Nahrungsmittel: Eier, Zucker, geraspelte Knochen; Fett von toten Tieren; Kalbfleisch, Salz, Kokosnüsse, Huhn in weißem Wasser gekocht; Obstschimmel, Reis, weiße Rübchen; mit Kampher angemachte Weißwurst, Teigwaren, (weißen) Käse, Wattesalat und bestimmte Fische (ohne Haut).

Meinen Wein lasse ich abkochen und trinke ihn mit Fuchsiensaft. Mein Appetit ist gut; aus Angst davor, zu ersticken, spreche ich jedoch beim Essen nie.

...

(23) Ich atme behutsam (wenig auf einmal). Ich tanze sehr selten. Beim Gehen halte ich meine Rippen umfaßt und blicke starr hinter mich.

Ich mache ein sehr ernsthaftes Gesicht, und wenn ich lache, geschieht es nicht aus Absicht.

...

(23) Ich schlafe nur auf einem Auge; mein Schlaf ist sehr fest. Mein Bett ist rund und hat ein Loch, aus dem der Kopf herausragt. Jede Stunde nimmt ein Diener meine Temperatur und gibt mir eine andere.

...

(23) Mein Arzt hat mich stets aufgefordert zu rauchen. Seinen Ratschlägen fügt er hinzu: „Rauchen Sie, lieber Freund: sonst raucht jemand anders an Ihrer Stelle."

Staatssekretär: Und malen Sie auch?

Zwerg (11): Wenn die Erleuchtung zu mir kommt, benutze ich einen Stock mit Haaren. Dann bin ich ein Maler. Mein Barbier und der Violinist über mir benutzen auch Stöcke mit Haaren. Wir haben viel gemeinsam, aber wir sind auch verschieden.

Staatssekretär: Aber das Kunstwerk, das Sie hier ausstellen, ist offensichtlich nicht gemalt. Was können Sie uns dazu sagen?

Zwerg (24): Ein Koffer und ein leerer Raum.

...

(24) Wahnsinnig.

...

(24) Perfekt.

Staatssekretär: Und weiter?

Zwerg (24): Ich glaube wirklich an leere Räume, obwohl ich als Künstler viel Müll produziere.

Ein leerer Raum ist ein nie-vergeudeter Raum.

Ein vergeudeter Raum ist jeder Raum, in dem Kunst ist.

Staatssekretär (mit Blick zum Direktor): Interessant, nicht wahr?

Zwerg (24): Wirklich reich ist man, glaube ich, wenn man einen Raum hat. Einen großen leeren Raum.

Staatssekretär: Und der alte Koffer?

Zwerg (25): Alles, was der Mensch schafft, eingeschlossen die künstlerischen, die ethischen und die kulturellen Werte, sind dem Gesetz des Alterns unterworfen.

Kunstkritiker (26): Wer sich in Filz, Fett, alter Pappe,

...

in Koffern, oder von mir aus...

(26) in Schokolade engagieren will, begeht einen dreifachen Fehler: er sitzt nach, denn Dada entstand um 1913; er begibt sich an die Stelle der größten möglichen Konkurrenz, denn jeder kann das; und er rückt in die moralisch dubiose Front ein, wo man ernten will, ohne gesät zu haben.

...

Und überhaupt, was soll das ausdrücken?

Zwerg: Es ist...

(27) wie Euere Hoffnungen: nichts

wie Euer Paradies: nichts

wie Euere Idole: nichts

wie Euere politischen Führer: nichts

wie Euere Künstler: nichts

wie Euere Religionen: nichts.

Pfeift, schreit, zerschlagt mir die Fresse – und was bleibt dann ? Ich werde Euch immer sagen, daß Ihr blöde Hammel seid.

Kunstkritiker: Na das sind aber klare Worte!

Staatssekretär (stichelt) (5): Die Klarheit des Ausdrucks ist ein untrügliches Maß für die Klarheit des Gedankens.

Kunstkritiker: Gut, aber wo bleibt der Kunstgenuß?

Zwerg (5): Sobald Kunst genossen wird, ist es auch schon um sie geschehen. Nur der Banause genießt, und die Kulturindustrie macht uns alle zu Banausen, indem sie die Kunst zu einem somatischen Stimulans erniedrigt.

...

(5) Anstatt ins Denken zu geraten, werden wir dazu ermutigt, uns unterhalten zu lassen und so unsere Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Zuständen zu vergessen.

Staatssekretär: Manchmal erscheint es mir allerdings auch so.

(28) Für uns ist alles eine Gelegenheit zur Belustigung. Wenn wir lachen, dann entleeren wir uns, und der Wind springt in uns über, bewegt Türen und Fenster und führt die Nacht des Windes in uns ein.

Direktor: Sie müssen ihm seine harten Worte von vorhin nachsehen – Sie wissen schon – unsere heutige Zeit –

(5) Darum befindet sich die Kunst in einem ununterbrochenen Abwehrkampf gegen die Gesellschaft, die sie bereitwillig in sich aufnimmt, nur um ihr auf diese Weise um so sicherer den Garaus zu machen. Um sich zu bewahren, ist sie gezwungen, sich ständig zu erneuern...

Staatssekretär: Genau. (20) Bei fortgehender Bildung tritt bei jedem Volke eine Zeit ein, in welcher die Kunst über sich selbst hinausweist.

...

So wird sie wieder neu.

Kunstkritiker (29): Das Neue in der Moderne ist nicht mehr das Resultat einer passiven, unfreiwilligen Abhängigkeit vom Zeitenwandel, sondern Produkt einer bestimmten Forderung und einer bewußten Strategie, die die Kultur der Neuzeit beherrschen.

...

Doch:

(29) Nach dem Neuen zu fragen, ist das gleiche, wie nach dem Wert zu fragen: Warum streben wir überhaupt danach, etwas zu sagen, zu schreiben, zu malen, zu komponieren, was früher nicht da war ? Woher kommt der Glaube an den Wert einer eigenen kulturellen Innovation, wenn von vornherein bekannt ist, daß die Wahrheit unerreichbar bleibt... Oder anders gefragt: Was hat das Neue für einen Sinn?

...

Warum also der Koffer?

Zwerg (24): Der Raum im Koffer ist so praktisch. Ein Koffer mit allem, was du brauchst:

1 Löffel

1 Gabel

1 Teller

1 Tasse

1 Hemd

1 Unterhose

1 Socke

1 Schuh

Staatssekretär: Ich glaube, er hätte auch eine umgedrehte Kloschüssel nehmen können.

Kunstkritiker (29): Kein Museum benötigt eine weitere umgedrehte Kloschüssel, wenn es bereits eine hat. Will man ein profanes Ding erneut in die valorisierte Tradition einbringen, muß man zuerst seine tatsächliche Profanität, das heißt den Unterschied zwischen ihm und allen bereits früher valorisierten Dingen, zeigen und einen neuen Platz im potentiellen Netz der kulturellen Identifizierungen und Differenzierungen für es schaffen. So kann man zum Beispiel eine weitere umgedrehte Kloschüssel ins Museum stellen, wenn man sie beispielsweise explizit zu Duchamps Pissoir ins Verhältnis bringen, eine Theorie der Appropriation entwickeln, mangelnde Originalität als besonderes Kennzeichen von Originalität verstehen und Epigonentum als eine besondere Form des Schöpferischen begründen will.

...

(Zum Direktor:) Haben Sie das Werk in Auftrag gegeben?

Direktor: Natürlich nicht ! Er macht das aus eigenem Antrieb, Er ist autonom – und wir sind nicht reaktionär. Wir sind modern! Denn...

(21) Für die Kunst kann der Prozeß ihrer Autonomisierung zweifellos als entscheidendes Merkmal von Modernität gelten.

Kunstkritiker (21): Der einstens viel diskutierte und kritisierte Begriff der ästhetischen Autonomie sollte dabei aber auch nicht überstrapaziert werden. Vorerst ist nicht viel mehr damit gemeint, als daß Kunst aufhört, Auftragskunst zu sein und sich damit ein ästhetischer Diskurs entwickelt, der auch an die Etablierung eines „Kunstbetriebs" gebunden ist, welcher in zunehmendem Maß eigene Gesetzmäßigkeiten hervorbringt.

...

Übrigens...

(21) mit gravierenden Auswirkungen auf die soziale Lage der Künstler.

Zwerg (30): Die „Autonomie" der Kunst und der Künste ist das notwendige Vorspiel ihrer Auflösung.

Kunstkritiker: Das ist zu befürchten. Betrachten Sie den Kunstbetrieb:

(30) Es gibt die Sucht nach Neuem um jeden Preis, es gibt das oberflächliche zynische Spiel und den bewußten Bluff, es gibt die kalte Ausnützung dieser Kunst als Mittel, alle Ordnungen aufzulösen, es gibt hundertfach den gewinnsüchtigen Schwindel und den Betrug des Selbstbetrogenen, die schamlose Selbstdarstellung des Gemeinen: das „Zerrbild der Apokalypse".

Staatssekretär: Ich glaube überhaupt:

(31) In der Kunst ist eine Idee so gut wie die andere.

Direktor: Das müssen Sie mir aber jetzt näher auseinandersetzen!

Staatssekretär (31): Wenn man die Idee des Zitterns zum Beispiel nimmt, beginnt plötzlich die meiste Kunst zu zittern. Michelangelo beginnt zu zittern. El Greco beginnt zu erzittern. All die Impressionisten beginnen zu erzittern. Die Ägypter zittern unsichtbar, so auch Vermeer und Giacometti und plötzlich, für den Moment, wirkt Raffael träge und unanständig, und Cezanne zitterte schon immer, aber nicht sehr präzise.

Zwerg (24): Ich verstehe selber nicht, daß ich mich nicht dem abstrakten Expressionismus verschrieben habe, denn bei meiner zittrigen Hand wäre das ganz natürlich gewesen.

Staatssekretär: Und um auf das autonome Arbeiten zurückzukommen. Ich glaube...

(31) Ein Künstler wird von den anderen gezwungen, aus freien Stücken heraus zu malen.

Zwerg: Genau!

(31) Wenn man den Standpunkt vertritt, daß es nicht möglich ist, etwas zu tun, muß man es dadurch beweisen, daß man es tut.

...

Obwohl...

(31) wenn man den Pinsel in Farbe taucht und jemandes Nase damit malt, ist das beim näheren Hinschauen eher lächerlich, ob nun theoretisch oder philosophisch gesehen.

Staatssekretär: Und daher stellen Sie lieber einen Koffer in leere Zimmer.

(Es ist einige Zeit still in der Galerie.)

Direktor: Wie ist übrigens die gestrige Volksabstimmung ausgegangen?

Staatssekretär: Wie Sie es vorausgesagt haben – die Schöneren und Beredteren haben gewonnen.

Direktor: Also gegen die Tiefbohrungen zur Nutzung der Magma-Energie.

Staatssekretär: Nein, dafür.

...

Aber wir haben dazugelernt.

Direktor: Inwiefern?

Staatssekretär: Bei der heutigen Volksabstimmung werden wir ein neues System anwenden. Die sogenannte „qualifizierte Demokratie".

Direktor: Was ist denn das?

Staatssekretär: Ganz einfach. Wir stellen zu der Abstimmung auch eine Sachfrage. Und nur, wenn diese Frage auf dem Stimmzettel auch richtig beantwortet wird, ist die Stimme gültig.

Was sagen Sie dazu?

Direktor: Sie überraschen mich.

Staatssekretär: Werden Sie zur Abstimmung gehen? Es geht um den Beitritt zum ABD-Handelsabkommen.

Direktor: Ich glaube nicht. Davon verstehe ich nichts.

Er geht zum Käfig und öffnet ihn. Sofort springt der Zwerg heraus, packt den Koffer und läuft davon.

Direktor (ruft ihm nach): Gute Reise!

 

Der Vorhang fällt.

 

3. Aufzug

 

Die Wände der Galerie sind völlig mit quadratischen Porträts Andy Warhols behängt, die in unterschiedlicher Farbe und Intensität gedruckt sind. Im Käfig sitzt Andy Warhol selbst mit seiner silbergrauen Perücke. Er schaltet mit einer Fernbedienung auf einem vor dem Käfig befestigten Fernseher von Programm zu Programm. Wortfetzen erklingen...

Schließlich öffnet sich die Tür und wieder betreten der Direktor, der Staatssekretär und der Kunstkritiker den Raum.

Direktor: Also, Sie hatten Schwierigkeiten mit der Beantwortung der Frage.

Staatssekretär: Genau. Kein Mensch konnte schlüssig beweisen, welche Antwort richtig war. Die Experten bekamen sich völlig in die Haare.

Direktor: Sie meinen, die Frage, die als Voraussetzung für die Gültigkeit der Stimmen gestellt worden war, konnte nicht richtig beantwortet werden?

Staatssekretär: Ja. Jede Partei bestand auf einer anderen Beantwortung dieser. Und es konnte keinerlei Kompromiß erzielt werden.

Direktor: Wie ging denn dann die Volksabstimmung aus?

Staatssekretär: Schließlich hat der Präsident entschieden.

Direktor: Der Präsident? –

Der Präsident hat die Volksabstimmung entschieden?

Staatssekretär: Nicht wie Sie jetzt meinen. Der Präsident hat entschieden, welche Antwort richtig war.

Direktor: Und wie ging dann die Volksabstimmung aus?

Staatssekretär: Was weiß ich.

...

Ist ja auch uninteressant, das erfahre ich dann ohnehin im Parlament.

...

Aber die Idee mit der Frage war nicht besonders gut. – Es gibt nämlich keine eindeutige Antwort auf auch nur irgendeine Frage.

Direktor: Das ist unglaublich.

...

Das kann ich mir gar nicht vorstellen.

...

Aber wenn Sie es sagen.

Staatssekretär: Das nächste Mal werden wir die Antwort vorgeben.

Direktor: Wie?

Staatssekretär: Ich meine, wir werden vorher bekanntgeben, was richtig ist. Und nur bei einer richtigen Beantwortung wird die Stimme gültig sein.

Direktor: Und wie stellen Sie sich das in der Praxis vor?

Staatssekretär: Na, so wie heute. Es geht um das Sachgebiet und die Grundsatzfrage „Gemeinsame Währung aller Bundeskontinente, ja oder nein?"-

Wir stellen auf dem Stimmzettel zuerst eine Frage. Zum Beispiel: „Ist es gut, eine gemeinsame Währung aller Bundeskontinente zu haben?"

...

Und die Regierung legt fest: Die richtige Antwort ist „Ja".

...

Wenn jemand die Frage richtig beantwortet hat, dann gilt seine Stimme und er kann sein Kreuz hinsetzen, wo er will. Zum Beispiel bei „Ja", oder bei „Nein", oder bei „Ich weiß nicht", oder von mir aus bei „Ich will keine weitere Volksabstimmungen mehr" (lacht belustigt).

Direktor: Ist das nicht von vornherein eine grobe Beeinflussung?

Staatssekretär: Das kann schon sein, aber was ist denn keine Beeinflussung!

...

Auf jeden Fall gelten nur Stimmzettel mit richtig beantworteter Frage.

...

Das ist qualifizierte Demokratie!

(Aus dem Fernseher dröhnt Coca-Cola-Werbung.)

Andy Warhol: Bringen Sie mir Coca-Cola!

Direktor: Warum ausgerechnet Coca-Cola? Weil es im Fernsehen gesagt wird?

Andy Warhol (24): Du siehst Coca-Cola im Fernsehen und kannst sicher sein, daß der Präsident sein Cola trinkt, daß Liz Taylor Cola trinkt – und du selber kannst auch ein Cola trinken! Coca-Cola ist und bleibt Coca-Cola, und für kein Geld der Welt kannst du irgendwo ein Cola herkriegen, das besser wäre als das, was der Penner an der nächsten Ecke trinkt. Es ist immer das gleiche Coca-Cola, und es ist immer gleich gut. Das weiß Liz Taylor, das weiß der Präsident, das weiß der Penner, und du selber weißt das auch.

Staatssekretär: Da haben Sie nicht unrecht. Ich trank neulich auch Coca-Cola. Und es war gut! Und Pommes dazu!

Andy Warhol (24): In Europa haben die Könige und Aristokraten früher sehr viel besser gegessen als die Bauern – sie haben überhaupt nie das gleiche gegessen. Die einen so, die anderen so. Hase oder Haferbrei, und jede Klasse blieb immer beim Gewohnten. Aber als Queen Elizabeth hier war und Präsident Eisenhower ihr einen Hot dog gekauft hat, konnte er sicher sein, daß sie dem Buckingham Palace keinen besseren Hot dog hätte anliefern lassen können als den, den er ihr für vielleicht zwanzig Cent am Baseballplatz gekauft hat. Weil es einfach keinen beseren Hot dog als einen Hot dog vom Baseballplatz gibt. Nicht für einen Dollar, nicht für zehn Dollar und auch nicht für hunderttausend Dollar -–nirgends hätte sie einen besseren Hot dog bekommen können -, sie bekam einen für zwanzig Cent, genau wie jeder andere.

Kunstkritiker: Es tut gut, so etwas von jemand wie Ihnen zu hören. Von jemand, der so berühmt ist wie Sie.

Andy Warhol (24): Aber berühmt sein ist im Grunde gar nicht so wichtig.

...

Außerdem ist es so:

(24) Wenn man aufhört, etwas zu wollen, bekommt man es. Ich bin zu der Erkenntnis gelangt, daß dies ein unumstößliches Prinzip ist.

...

(24) Allerdings spricht doch etwas fürs Berühmtsein: Wenn du als berühmte Person die großen Illustrierten liest, dann kennst du all die Leute, über die dort geschrieben wird. Seite für Seite nur Leute, denen du schon mal begegnet bist. Diese Art Leseerlebnis gefällt mir, und dafür lohnt es sich einfach, berühmt zu sein.

Staatssekretär: Das ist allerdings auch ein Aspekt.-

Aber was ist außer Berühmtsein noch wichtig?

Andy Warhol (24): Manche Leute glauben, daß ein schöner Mensch es leichter hat, aber es kann auch anders ein. Wenn du schön bist, hast du vielleicht ein Spatzenhirn. Wenn du nicht schön bist, hast du vielleicht kein Spatzenhirn, d.h. alles hängt vom Spatzenhirn und von der Schönheit ab. Vom Ausmaß der Schönheit. Und vom Spatzenhirn.

Staatssekretär: Und finden Sie sich schön?

Andy Warhol (24): Bei meinem Selbstporträt habe ich alle Pickel weggelassen, weil man das grundsätzlich so machen sollte. Pickel sind eine vorübergehende Angelegenheit, und sie haben rein gar nichts damit zu tun, wie man wirklich aussieht. Solche Schönheitsfehler sollte man immer ignorieren – sie tragen nicht zu dem gewünschten guten Bild bei.

Kunstkritiker: Ach ja, Ihre Selbsporträts. –

Sagen Sie, warum sind denn eigentlich alle quadratisch?

...

Ich meine...

(32) Als die stabilste und damit spannungsloseste Form einer rechteckigen Fläche ist das Quadrat für die Komposition eines Tafelbildes wenig geeignet. Es wird daher von den Malern meist gemieden.

Andy Warhol (24): Ich male gerne auf einem quadratischen Format, weil ich dann nicht entscheiden muß, ob es länger-länger oder kürzer-kürzer oder länger-kürzer sein sollte: es ist einfach ein Quadrat. Ich wollte eigentlich nur ein und dieselbe Bildgröße verwenden, aber es kommt immer jemand und sagt: „Du mußt es ein bißchen größer machen" oder „ein bißchen kleiner". Ich glaube nämlich, daß jedes Bild dieselbe Größe und dieselbe Farbe haben sollte, damit sie alle austauschbar sind und keiner mehr denkt, er hätte ein besseres oder ein schlechteres Bild. Und wenn das eine „Meisterwerk" gut ist, dann sind alle gut. Übrigens, selbst wenn das Thema anders ist, malt man immer das gleiche Bild.

Staatssekretär: Was heißt malen? Das sind doch bloß Drucke. Lithographien – Reproduktionen! Und nicht nur eine – massenhaft Reproduktionen!

Andy Warhol: Ich verfolge ja auch die Dialektik der Reproduktion:

(32) Denn es gehört zu derselben Logik, daß je öfter etwas zu sehen ist, desto bedeutender es sein muß. Nur was endlos wiederholt wird, ist wirklich groß -

...

(32) – mehr ist mehr.

Kunstkritiker: Dabei sind – entschuldigen Sie bitte den Ausdruck – diese Drucke technisch miserabel.

(32) Sie treiben die Differenz zwischen Reproduktion und Original bis zur Grenze...

...

(32) ...und dafür reicht selbst die ungefährste visuelle Spur.

...

Aber andererseits folgen diese Drucke doch auch wieder...

(32) dieser Logik massenkommunikativen Ruhms: weniger ist mehr.

...

So heißt es in dieser Hinsicht! Und das finde ich wieder großartig!

 

Staatssekretär: Ich weiß nicht. Die Reproduktionen haben einen...

(33) Schleim der Gewohnheit...

(32) ausgebildet, der die Wahrnehmung...

(33) mit einer undurchdringlichen Schicht bedeckt.

Kunstkritiker: Was haben Sie denn eigentlich gegen Reproduktionen?

(34) Das Kunstwerk ist grundsätzlich immer reproduzierbar gewesen. Was Menschen gemacht hatten, das konnte immer von Menschen nachgemacht werden. Solche Nachbildung wurde auch ausgeübt von Schülern zur Übung in der Kunst, von Meistern zur Verbreitung der Werke, endlich von gewinnlüsternen Dritten.

Staatssekretär (34): Noch bei der höchstvollendeten Reproduktion fällt eines aus: das Hier und Jetzt des Kunstwerks – sein einmaliges Dasein an dem Ort, an dem es sich befindet.

Kunstkritiker: Und was soll das schon ausmachen?

Staatssekretär (34): Das Hier und Jetzt des Originals macht den Begriff seiner Echtheit aus.

...

(34) Der gesamte Bereich der Echtheit entzieht sich der technischen – und natürlich nicht nur der technischen – Reproduzierbarkeit.

Kunstkritiker: Ich kann Ihnen noch immer nicht folgen. Hier und Jetzt, Echtheit – das sind doch nur Worte.

Staatssekretär (34): Was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine Aura....

Und die ist nun einmal in der Kunst wichtig, genau so wichtig wie die schöpferische Kraft der Gestaltung!

Andy Warhol (35): Meine fotografischen Experimente...

(35) überzeugten mich, daß sogar die vollständigste Mechanisierung von Techniken keine Bedrohung für die essentielle schöpferische Kraft darstellt. Verglichen mit dem Schöpfungsprozeß sind die Probleme der Ausführung nur insoweit wichtig, als die angewandte Technik – manuell oder mechanisch – gemeistert werden muß...

(35) Malen mit der Hand mag seine historische Bedeutung beibehalten; früher oder später wird sie ihre Exklusivität verlieren.

Staatssekretär (mit Blick auf die Bilder): Und erst die Motive!

Andy Warhol (32): Die Pop-Künstler machten Bilder, die jeder, der den Broadway hinunterging, im Bruchteil einer Sekunde erkennen konnte – Comics, Campingtische, Herrenhosen, Berühmtheiten, Duschvorhänge, Kühlschränke, Colaflaschen – all die großartigen modernen Dinge, die zu ignorieren sich die Abstrakten Expressionisten so große Mühe gaben.

...

Und außerdem...

(32) Das Original ist auch nach dem Anfertigen einer Reproduktion unverändert da.

Staatssekretär: Das sehe ich, daß Sie noch da sind. Sie können ja auch nicht weglaufen.

...

Aber haben Sie jemals bedacht, daß mit der Massenanfertigung Ihrer Werke die Qualität sinken könnte?

(36) Die technische Reproduzierbarkeit und die Rotationspresse haben eine unabsehbare Vervielfältigung von Schriften und Bildern ermöglicht.

...

(36) Wir stehen hier vor einem einfachen arithmetischen Sachverhalt.

...

(36) Es ergibt sich also, daß in allen Künsten, sowohl absolut wie verhältnismäßig gesprochen, die Produktion von Abhub größer ist als sie es früher war.

...

Und ich frage Sie: Wer soll das alles brauchen?

Andy Warhol: Das stört mich nicht.

(24) Ein Künstler ist jemand, der Sachen produziert, die keiner haben muß. Er nimmt – aus irgendeinem Grund – jedoch an, es sei eine gute Idee, seine Mitmenschen mit Kunst zu versorgen.

...

(24) So ist es viel besser, Busineß-Kunst zu machen als Kunst-Kunst, weil die Kunst-Kunst dem Raum, den sie einnimmt, keinen Nutzen bringt, während das bei der Busineß-Kunst der Fall ist. (Wenn die Busineß-Kunst keinen Nutzen bringt, fliegt sie aus dem Busineß.)

Kunstkritiker (zum Staatssekretär): Bedenken Sie auch folgendes:

(34) Mit den verschiedenen Methoden technischer Reproduktion des Kunstwerks ist dessen Ausstellbarkeit in gewaltigem Maß gewachsen!

Staatssekretär: Besonders, wenn man genug davon produziert.

Andy Warhol: Sagen Sie das nicht so abfällig! Produzieren ist etwas Gutes!

(17) Producere heißt herausführen, ins Dasein rufen.

Kunstkritiker (17): Man kann auch Künstler produzieren.

Andy Warhol: Das weiß ich nur zu gut.

Kunstkritiker: Um auf die Reproduktion zurückzukommen...

(34) Sie kann das Abbild des Originals in Situationen bringen, die dem Original selbst nicht erreichbar sind.

Andy Warhol: Prima!

(19) Es ist für einen Künstler nicht gleichgültig, sein Werk auf einem öffentlichen Platz oder in einem Boudoir zu sehen, in einem Keller oder im Licht, in einem Museum oder auf einem Trödelmarkt.

...

Ehrlich gesagt, der Trödelmarkt ist mir lieber.

Staatssekretär: Gut, gut. Und was sagt das Publikum zu Ihren Sachen? Was bekommen Sie für Rezensionen?

Andy Warhol (24): Mir schreiben immer verrückte Leute. Ich glaube, daß ich auf irgendeiner Verrückten-Adressenliste bin.

Staatssekretär: Und die Kritiker?

Andy Warhol: Ein Kritiker hat mich mal das „personifizierte NICHTS" genannt, und das hat meiner Definition von „Existenz" nicht gerade weitergeholfen. Dann habe ich festgestellt, daß Existenz selbst nichts ist, und da ging es mir gleich besser. Aber ich bin immer noch von der fixen Idee besessen, in den Spiegel zu sehen und niemanden zu sehen, NICHTS.

Staatssekretär: Sind Sie gern traurig?

Andy Warhol (24): Warum vergeuden manche Leute ihre Zeit mit Traurigsein, wenn sie doch alle glücklich sein könnten? Als ich im Fernen Osten war, traf ich bei einem Spaziergang auf eine große lustige Party, und dabei war es eine Leichenverbrennung.

Staatssekretär: Sie sind also gern unter Leuten. Wie kommen Sie dann mit dem Käfig zurecht? Fühlen Sie sich einsam?

Andy Warhol: Im Gegenteil.

(24) Ich möchte für Leute wie mich eine Restaurantkette aufmachen: „ANDY-MATS. Das Restaurant für Einsame". Du holst dein Essen und gehst mit dem Tablett in eine Kabine und siehst fern.

(Er holt einen Hamburger aus der Tasche und stopft sich ihn in den Mund. Der Direktor verteilt Sektgläser und füllt diese, Die drei Herren stoßen an und gehen, um die Bilder zu betrachten. Andy Warhol zappt mit der Fernbedienung.

Nach einiger Zeit beginnt er sich zu krümmen und zu stöhnen. Als er immer lauter wird, erregt er die Aufmerksamkeit des Direktors. Dieser tritt zum Käfig.)

Direktor: Was haben Sie? Ist Ihnen nicht wohl?

(Andy Warhol stöhnt.)

Soll ich Ihnen Coca-Cola bringen?

(Andy Warhol sinkt zusammen. Der Direktor fühlt zuerst den Puls, dann drückt er ihm durch die Gitterstäbe auf den Bauch. Andy Warhol zuckt zusammen.)

Direktor (holt sein Handy heraus und wählt): Hallo, hier ist die Galerie 1, der Direktor. Wir haben einen Notfall! Akute Galle, denke ich. Schicken Sie schnell einen Wagen!

(Fast im selben Moment fliegt die Türe auf, Feuerwehrleute stürzen herein und zerschneiden mit großen Zangen den Käfig. Krankenträger zerren Andy Warhol auf eine Bahre und tragen ihn weg. In wenigen Sekunden ist alles vorbei.)

Stimme aus dem Fernseher: Andy Warhol, der offizielle und einzig autorisierte Klon des bekannten gleichnamigen Künstlers aus dem 20. Jahrhundert ist heute bei seiner Ausstellung in der bekannten Galerie 1 zusammengebrochen. Eine Operation wegen akuter Cholecystitis wird derzeit an der Zentralklinik vorbereitet. Sein Tod an den Operationsfolgen ist mit 20 Uhr 15 Ortszeit geplant. Nähere Informationen direkt vom Ort des Geschehens folgen in der entsprechenden Nachrichtensendung.

 

Der Vorhang fällt.

 

4. Aufzug

 

Die Galerie ist völlig leer. Nicht einmal der Käfig hängt von der Decke; nur unmittelbar oberhalb der Tür ist ein Lautsprecher befestigt.

In der Mitte des Raumes stehen der Direktor, der Staatssekretär und der Kunstkritiker Rücken an Rücken, jeder blickt auf eine andere Seite des Raumes.

Kunstkritiker: Ich sehe nichts.

Staatssekretär: Ich sehe nichts.

Direktor: Und doch sehen Sie etwas.

Kunstkritiker: Ich sehe nichts.

Staatssekretär: Ich sehe nichts.

Direktor: Sie glauben, nichts zu sehen, weil Sie nicht wissen, was Sie sehen.

Kunstkritiker: Ich sehe nichts.

Staatssekretär: Ich sehe nichts.

Direktor: Sie sehen all die niemals gemalten Bilder.

Kunstkritiker: Ich sehe nichts.

Staatssekretär: Ich sehe nichts.

Direktor: Alle die aus den verschiedensten Gründen niemals gemalten Bilder.

Kunstkritiker: Aber meine Sinnesorgane vermitteln mir nichts anderes als eine weiße Wand.

Direktor (5): Die Sinnesorgane dienen uns nicht dazu, eine gegebene Welt aufzunehmen, sondern dazu, sie für uns herzustellen.

Staatssekretär: Sie stellen auch etwas her. Sie sagen mir, an dieser Wand ist nichts. Einfach nichts.

Direktor (31): Der „Nichts"-Anteil in einem Gemälde – der Teil, der nicht gemalt wurde, ...

(31) ... wurde mit einer Menge umschreibender Bezeichnungen belegt, wie „Schönheit", „lyrisch", „Form", „tiefgreifend", „Raum", „Ausdruck", „klassisch", „Gefühl", „episch", „romantisch", „rein", „Ausgewogenheit" usw. Jedenfalls wurde dieses „Nichts" – das immer als ein besonderes Etwas betrachtet wurde –

(31) und als etwas Besonderes...

(31) von Ihnen in Ihren buchhalterischen Köpfen zu Kreisen und Quadraten verallgemeinert.

Kunstkritiker: Aber da ist kein Gemälde, kein Quadrat, kein Kreis. Nur das Nichts.

Direktor: Und doch ist da ein Gemälde: ein nie gemaltes Gemälde. Sogar ein Kunstwerk.

(31) Die Kunst daran ist der für immer stumme Teil der Malerei, über den man ewig reden kann.

Staatssekretär: Da gehört aber viel Phantasie dazu!

Direktor (37): Man muß schöpferisch sein.

(37) Der Mensch ahmt nicht mehr nach, er erfindet, er fügt den im Schoße der Natur geborenen Gegebenheiten die neuen, in seinem Kopfe geborenen hinzu...

...

(37) Man muß schöpferisch sein.

(37) Der Mensch von heute hat die Rinde der Erscheinungen durchbrochen und das, was darunter war, überrascht.

Kunstkritiker: Wollen Sie so die Kunst wiederbeleben? Mit Reden, Erklärungen, Gewäsch?

Direktor (9): Man kann die Kunst nicht wieder beleben.

„Kunst" ist eine Erfindung der Renaissance, die sich heute aufs äußerste verfeinert hat.

Eine enorme Konzentration war nötig, um gute Kunst herzustellen. Man konnte diese Konzentration nur dadurch aufbringen, daß man (so wie in der Religion) das Leben vernachlässigte oder es fortwarf. Heute ist dies unmöglich, da wir an nichts als am Leben selbst interessiert sind. Das ganze Leben von heute steht im Gegensatz zu der religiösen und ästhetischen Anstrengung der Vergangenheit. Es ist gar nicht mehr in der Mode, heutzutage sich nur einer Sache zu widmen.

Das neue Leben ist auf der Konstruktion basiert.

Kunstkritiker: Ein bißchen Hilfe wäre aber schon nötig. Eine kleine Basis, wenigstens ein paar Strukturen, auf die man aufbauen kann.

Direktor (38): Das Erkennen von Strukturen besteht in hohem Maße darin, sie zu erfinden und aufzuprägen. Begreifen und Schöpfen gehen Hand in Hand.

Kunstkritiker: Aber diese Kunstwerke, diese „nie gemalten Bilder" wie Sie sagen, sie sind nicht real, sie haben kein wahrhaftiges Dasein!

Direktor (20): Weit entfernt also, bloßer Schein zu sein, ist den Erscheinungen der Kunst der gewöhnlichen Wirklichkeit gegenüber die höhere Realität und das wahrhaftigere Dasein zuzuschreiben.

Staatssekretär: Gut, gut. Ich habe verstanden. Aber ein paar Informationen brauche ich, wenn ich ein Bild betrachten will. Das habe ich immer so gehalten.

Direktor (zeigt mit einem Laserpointer an eine Stelle an der Wand): Sie meinen über dieses Bild?

Staatssekretär: Von mir aus. Wenn es Sie beruhigt.

Lautsprecher: Dieses Ölgemälde im Format von 50 x 40 cm sollte im Jahr 1998 gemalt werden, also in der Zeit der beginnenden Bildung der Super-Kontinentalblöcke. Noch verborgen aber schon spürbar sind politische Tendenzen, die bereit sind, jede Tradition über Bord zu werfen, und die ein Ziel über alles stellen: den Erfolg in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht ohne jede Rücksicht auf ethische Bedenken. Sozusagen als Gegenpol dazu bildet sich im Künstler selbst eine Art von Gegenbewegung:

(39) Mitten in dem furchtbaren Reich der Kräfte und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten, fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt und ihn von allem, was Zwang heißt, entbindet.

...

Unglücklicherweise ist aber zunächst die gewünschte Leinwand in der Kunsthandlung nicht vorrätig. Dann muß der Beginn der Maltätigkeit mehrmals wegen Überbeanspruchung im Brotberuf des Künstlers – einem solchen gingen in der damaligen Zeit noch viele Künstler nach oder sie wurden von ihren minderwertige Tätigkeiten verrichtenden Ehefrauen ernährt – mehrfach verschoben werden. Die Grundidee für das Bild gerät so mehr und mehr in Vergessenheit, und statt dessen schuf der Maler letztlich unter dem Eindruck der damaligen weltpolitischen Geschehnisse, vor allem aber auch nach einem Besuch seiner Schwiegermutter, ein anderes Gemälde, sehr kritisch und mit politischem Inhalt, wenngleich ebenfalls einer gewissen Ästhetik verhaftet.

Direktor: Sehen Sie jetzt etwas?

Staatssekretär: Ein wenig. Es müßte etwas sehr Ästhetisches gewesen sein. Etwas Beruhigendes, Schönes.

...

Seerosen vielleicht.

Kunstkritiker (13): Ich habe immer noch eine entschiedene Antipathie gegen die Ästhetik. Ich bin anti-künstlerisch. Ich bin anti-nichts. Ich lehne mich gegen die Rezeptemacher auf.

Direktor (40): Die Fähigkeit, edlere Gefühle zu empfinden, ist in den meisten Naturen eine äußerst zarte Pflanze, die nicht nur an widrigen Einflüssen, sondern schon an mangelnder Pflege zugrunde gehen kann.

Staatssekretär: Ja, Seerosen. Die Seerosen von Monet vielleicht!

Kunstkritiker: Nicht schon wieder! Und außerdem sind die wirklich gemalt, sie existieren also tatsächlich. Sie gehören nicht hierher.

Staatssekretär: Na dann eben andere Seerosen. So ähnlich halt wie die Seerosen von Monet, vor allem genauso schön.

Kunstkritiker (5): Eine Kunst, die um jeden Preis schön sein will und nichts außerdem, beraubt die Schönheit letztlich aller Aussagekraft und verkommt so zum bloßen Ornament.

Staatssekretär: Genau! Ein Mittelding von Seerosen und Ornament. Und mit viel Phantasie kann man sich den Geist Monets hineindenken. Das stelle ich mir vor! Aber vor allem ein reines Gefühl!

Kunstkritiker (12): Die Reinheit eines bestimmten Gefühls, einer bestimmten Farbe, eines Tons kann unmittelbar sogar schön sein. Stellt sich uns aber wieder und wieder immer nur dies eine ohne Unterbrechung, ohne Wechsel und Gegensatz dar, so entsteht dadurch eine triste Armseligkeit, Einförmigkeit, Einfärbigkeit, Eintönigkeit.

Staatssekretär: Wir haben nun einmal einen unterschiedlichen Geschmack. Ich sehe eben gerne gemalte Seerosen, ich denke dann an Monet, und das bereitet mir Vergnügen. Mein Blick verliert sich im Ornament der Natur, die langsam mehr und mehr abstrakt wird, sich auflöst und wieder formt, zu anderen Gestalten, anderen Welten. Aber wie gesagt, das ist wohl eine Geschmacksfrage.

Kunstkritiker (41): Geschmack ist das Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen, oder Mißfallen, ohne alles Interesse. Der Gegenstand eines solchen Wohlgefallens heißt schön.

...

(21) Der Geschmack ist Ausdruck von Subjektivität...

...

(41) Das Geschmacksurteil selber postuliert nicht jedermanns Einstimmung (denn das kann nur ein logisch allgemeines, weil es Gründe anführen kann, tun); es sinnet nur jedermann diese Einstimmung an.

Staatssekretär: Und diese Einstimmung können Sie mir nicht geben?

Kunstkritiker (28): Der Geschmack erzeugt eine sinnliche Empfindung, keine ästhetische Emotion. Er setzt einen dominierenden Zuschauer voraus, der befiehlt, was er gern hat und was er nicht mag, und der es übersetzt in „schön" und „häßlich".

(28) Das große Ziel meines Lebens bestand in einer Reaktion gegen den Geschmack.

Staatssekretär (5): Wenn ich mich an einem heißen Bad erfreue, verlange ich nicht von anderen, daß sie meine Empfindungen teilen, weil ich einsehen kann, daß die Annehmlichkeit des Bades sehr viel mit meiner augenblicklichen Verfassung zu tun hat. Wenn ich hingegen urteile, daß etwas schön sei, sehe ich in Ermangelung jedes persönlichen Interesses keinen Grund, warum die betreffende Sache nicht jedem anderen genauso schön erscheinen sollte wie mir selbst.

Kunstkritiker: Ich schließe aber daraus,

(5) daß die Empfindung von Schönheit letztlich nichts anderes ist als die Empfindung der eigenen Lust bei der Betrachtung eines Gegenstandes.

Staatssekretär: Sie teilen also nicht nur meinen Geschmack nicht. Sie stellen das Schöne an sich in Frage. Sie haben keinerlei Sinn für Ästhetik. Und Sie wollen Kunstkritiker sein?-

Gibt es für Sie gar nichts Erhabenes?

Kunstkritiker: Was soll das nun wieder sein?

Staatssekretär (41): Erhaben nennen wir das, was schlechthin groß ist.

...

Genauer,

(41) was über alle Vergleichung groß ist.

(21) Während aber das Schöne zur ruhigen Kontemplation einlädt, versetzt uns das Erhabene in eine innere Bewegung...

...

Denken Sie nur an

(41) drohende Felsen,

(41) am Himmel sich auftürmende Donnerwolken,

(41) Vulkane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt,

(41) den grenzenlosen Ozean, in Empörung gesetzt.

Kunstkritiker: All das ist nur dann für uns so anziehend, so erhaben wie Sie sagen,

(41) wenn wir uns in Sicherheit befinden.

...

(21) Zum Erleben des Erhabenen gehört also die Vorstellung, daß wir bedroht sein könnten, und die Erfahrung, daß wir dieser Bedrohung standhalten können, der Natur „überlegen" sind, sie in ihrer Gewalt und Macht noch ästhetisch genießen und beurteilen können – sodaß sich das Erhabenen weniger als Eigenschaft der Natur als vielmehr als eine Stärke unseres Gemüts erweist.

...

Ein durch und durch egoistisches Gefühl also.

Staatssekretär: Sie können mir solche Gefühle und Vorstellungen nicht verbieten.

(42) Alles, was irgend eines Menschen Herz bewegt hat, und was die menschliche Natur, in irgend einer Lage, aus sich hervortreibt, was irgendwo in einer Menschenbrust wohnt und brütet – ist sein Thema und sein Stoff.

Kunstkritiker: Na, dann bleiben Sie halt bei Ihren Seerosen. Vielleicht – mir zuliebe – ein bißchen weniger vordergründig und ein bißchen mehr abstrakt.

Staatssekretär (45): Es gibt keine abstrakte Kunst. Man muß immer mit etwas beginnen.

Kunstkritiker: Zumindest (45) nachher kann man alle Spuren der Wirklichkeit entfernen.

...

Und bedenken Sie weiters: Immerhin hat der Künstler diese Seerosen nie gemalt. Er hat statt dessen, wie wir gehört haben, ein politisches Werk geschaffen.

Staatssekretär (34): Alle Bemühungen um die Ästhetisierung der Politik gipfeln in einem Punkt. Dieser eine Punkt ist der Krieg.

...

Das haben wir im Faschismus gesehen.

Kunstkritiker: Was haben Sie gegen den Krieg?

(43) Der Krieg ist schön, weil er dank der Gasmasken, der schreckenerregenden Megaphone, der Flammenwerfer und der kleinen Tanks die Herrschaft des Menschen über die unterjochte Maschine begründet. Der Krieg ist schön, weil er die erträumte Metallisierung des menschlichen Körpers inauguriert. Der Krieg ist schön, weil er eine blühende Wiese um die feurigen Orchideen der Mitailleusen bereichert. Der Krieg ist schön, weil er das Gewehrfeuer, die Kanonaden, die Feuerpausen, die Parfums und Verwesungsgerüche zu einer Symphonie vereinigt.

Staatssekretär (44): Es gibt Fälle, bei denen es falsch oder unmenschlich wäre, eine ästhetische Einstellung einzunehmen und bestimmte Realitäten in Distanz zu rücken – zum Beispiel eine Demonstration, bei der Polizisten Demonstranten niederknüppeln, als eine Art Ballett zu sehen, oder explodierende Bomben vom Flugzeug aus, das sie abwirft, als geheimnisvolle Chrysanthemen.

Kunstkritiker: Man kann das alles natürlich auch genau umgekehrt sehen.

(2) Nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt.

...

(21) Wenn alle anderen Deutungen und Rechtfertigungen des Daseins, wie zum Beispiel die religiösen, obsolet geworden sind, dann bleibt die ästhetische Betrachtung, dann bleibt die Kunst die einzige Möglichkeit, dem Dasein Sinn zu verleihen.

...

(21) Damit ist aber auch das Übel, das Böse, das Amoralische und das Blasphemische gerechtfertigt – als ästhetisches Phänomen. Die Freiheit der Kunst bekommt hier eine tiefe Dimension.

Staatssekretär: Da bleibe ich dann doch lieber bei meinen Seerosen. Es ist besser so.

(Die drei Männer stehen längere Zeit völlig still da.)

Direktor: Und wie war die Volksabstimmung?

Staatssekretär: Ein Fiasko. Es stellte sich heraus, daß die vorgegebene Antwort auf die Frage falsch war. Die Auswertung der Abstimmung hat sich dadurch als sehr schwierig erwiesen.

Direktor: Das Problem wurde gelöst?

Staatssekretär: Ja. Und Sie brauchen nie wieder zu einer Volksabstimmung zu gehen. – Aber das tun Sie ja ohnehin nicht.

Direktor: Aber ich war gestern dort.

Staatssekretär: Jetzt überraschen Sie mich aber.

Direktor: Wie meinten Sie das, ich brauche nie wieder hinzugehen?

Staatssekretär: Es wird keine Volksabstimmung mehr geben. Das Instrument der Volksabstimmung wurde mit einer einzigen gültigen Stimme abgeschafft. – Aber die Leute waren ohnehin politikmüde.

Direktor: Das ist das Ende der Demokratie!

Staatssekretär: Wußten Sie nicht, daß sich jede Demokratie schließlich selbst abschafft? – Es ist alles nur eine Frage der Zeit.

- Wie in der Kunst.

 

Der Vorhang fällt.

 

Bibliographie

 

(1) Platon: Symposion 211 d.

(2) Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. In: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgo Colli und Mazzino Montinara, München 1980.

(3) Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1974.

(4) Beatrix Scherb: Persönliche Widmung. In: Performances 97. Edition Selva Verlag, Amstetten – Linz 1998.

(5) Michael Hauskeller: Was ist Kunst? Verlag C. H. Beck, München 1998.

(6) Raoul Hausmann: Zwei dadaistische Persönlichkeiten. In: Richard Huelsenbeck (Hg.): Dada – Eine literarische Dokumentation. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1984.

(7) Richard Huelsenbeck: Der neue Mensch. In: Richard Huelsenbeck (Hg.): Dada – Eine literarische Dokumentation. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1984.

(8) Tristan Tzara: Vortrag auf dem Dadakongreß. In: Richard Huelsenbeck (Hg.): Dada – Eine literarische Dokumentation. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1984.

(9) Theo van Doesburg: Das Ende der Kunst. In: Richard Huelsenbeck (Hg.): Dada – Eine literarische Dokumentation. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1984.

(10) Raoul Hausmann: Rückkehr zur Gegenständlichkeit der Kunst. In: Richard Huelsenbeck (Hg.): Dada – Eine literarische Dokumentation. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1984.

(11) Man Ray: Einleitung zum Katalog der Man Ray-Ausstellung in Beverly Hills, Kalifornien, Dezember 1948. In: Richard Huelsenbeck (Hg.): Dada – Eine literarische Dokumentation. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1984.

(12) Karl Rosenkranz: Ästhetik des Häßlichen, hg. von Dieter Kliche, Leipzig 1990.

(13) Marcel Duchamp: Aussagen. In: Richard Huelsenbeck (Hg.): Dada – Eine literarische Dokumentation. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1984.

(14) Marcel Duchamp: Der schöpferische Akt. In: Richard Huelsenbeck (Hg.): Dada – Eine literarische Dokumentation. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1984.

(15) Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 1973.

(16) Konrad Fiedler: Schriften zur Kunst. München 1991.

(17) Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit. In: Richard Huelsenbeck (Hg.): Dada – Eine literarische Dokumentation. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1984.

(18) Francis Picabia: Jesus Christus als Hochstapler. In: Richard Huelsenbeck (Hg.): Dada – Eine literarische Dokumentation. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1984.

(19) Louis Aragon: Hohn Heartfield und die revolutionäre Schönheit. In: Richard Huelsenbeck (Hg.): Dada – Eine literarische Dokumentation. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1984.

(20) Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I. Werke 13, Frankfurt am Main 1970.

(21) Konrad Paul Liessmann: Philosophie der modernen Kunst. WUV-Universitätsverlag, Wien 1998.

(22) Sören Kierkegaard: Entweder/Oder I. Gütersloh 1979.

(23) Erik Satie: Der Tagesablauf eines Musikers. In: Richard Huelsenbeck (Hg.): Dada – Eine literarische Dokumentation. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1984.

(24) Andy Warhol: Die Philosophie des Andy Warhol von A bis B und zurück. Verlag Knaur, München 1991.

(25) Richard Huelsenbeck: Dada oder Der Sinn im Chaos. In: Richard Huelsenbeck (Hg.): Dada – Eine literarische Dokumentation. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1984.

(26) Arnold Gehlen: Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei. Frankfurt am Main 1986.

(27) Francis Picabia: Manifest Cannibale Dada. In: Richard Huelsenbeck (Hg.): Dada – Eine literarische Dokumentation. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1984.

(28) Paul Eluard: Dada-Entwicklung. In: Richard Huelsenbeck (Hg.): Dada – Eine literarische Dokumentation. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1984.

(29) Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. München – Wien 1992.

(30) Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit. Gütersloh o.J.

(31) Willem de Koonig: Über die Kunst. Reihe pen pocket, Band 3, Pendragon Verlag, Bielefeld 1998.

(32) Michael Lüthy: Andy Warhol – Thirty are better than one. Insel-Taschenbuch, Frankfurt am Main und Leipzig 1995.

(33) Samuel Beckett: Der Ausgestoßene. In: Erzählungen und Texte um Nichts. Frankfurt am Main 1990.

(34) Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Walter Benjamin: Illuminationen. Suhrkamp Taschenbuch 345, Frankfurt am Main 1980.

(35) Laszlo Moholy-Nagy: The New Vision and Abstract of an Artist. New York 1949. Deutsche Übersetzung nach dem Katalog Württembergischer Kunstverein, Stuttgart 1974.

(36) Aldous Huxley: Croisière d’hiver. Paris 1935. Zitiert nach: Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Walter Benjamin: Illuminationen. Suhrkamp Taschenbuch 345, Frankfurt am Main 1980.

(37) Vincent Huidobro: Epoque de Creation. In: Richard Huelsenbeck (Hg.): Dada – Eine literarische Dokumentation. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1984.

(38) Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Ein Ansatz zu einer Symboltheorie. Frankfurt am Main 1973.

(39) Friedrich Schiller: Sämtliche Werke in fünf Bänden, hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München 1984.

(40) John Stuart Mill: Der Utilitarismus. Philipp Reclam jun. Verlag, Stuttgart 1985.

(41) Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe hg. von Weischedel, Frankfurt am Main 1975.

(42) Arthur Schopenhauer: Werke in fünf Bänden. Hg. von Ludger Lütkehaus, Zürich 1988.

(43) Emilio Filippo T. Marinetti: Manifest der Futuristen. Zitiert in: Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Walter Benjamin: Illuminationen. Suhrkamp Taschenbuch 345, Frankfurt am Main 1980.

(44) Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst. Frankfurt am Main 1984.

(45) Pablo Picasso: Bekenntnis. Zitiert in: Willem de Koonig: Über die Kunst. Reihe pen pocket, Band 3, Pendragon Verlag, Bielefeld 1998.

Bühnenstück "Der Tröster - Über Sterbebegleitung"

Inhalt von

© dieser Textkollage: 2000 Werner Horvath, Linz.