Große Denker:

Paul Watzlawick

Baumeister der eigenen Wirklichkeit

Werner Horvath: "Konstruktivistisches Bildnis von Prof. Paul Watzlawick". Buntstifte auf Papier, 32 x 24 cm, 1996.

Der 1921 in Österreich geborene und einen großen Teil seines Lebens in Palo Alto (Kalifornien) Psychologie lehrende Gegenwartsphilosoph Paul Watzlawick gilt als einer der Hauptvertreter einer modernen Strömung der Erkenntnistheorie, nämlich des Konstruktivismus. Dieses Paradigma geht von der Relativität aller menschlichen Erkenntnis aus. Die bloße Abbildtheorie, die besagt, dass unsere Erkenntnis nichts anderes sein soll als das Abbild der äußeren Welt (der Wahrheit) ist nach Meinung der Konstruktivisten nicht haltbar. Vielmehr ist eine Ansicht gültig, die bereits Immanuel Kant formulierte. Unser Erkenntnisapparat, der von äußeren Reizen angeregt wird, interpretiert diese auf sehr eigenwillige Weise. Unsere Augen sind weit mehr als bloße Löcher, in welche die “Realität” von außen und unverändert in uns “hineinspaziert”. Und unser Gehirn ist auch weit mehr als ein passiv aufnehmendes Organ; vielmehr bearbeitet es das, was wir letztlich “Wirklichkeit” nennen und trägt so zu einer “Neuerfindung” derselben bei. Die Farben z.B. sind - wie wir seit John Lockes Forschungen wissen - nicht “außerhalb” von uns selbst angesiedelt. Sie sind “in uns” insoferne, dass sie Arten und Weisen sind, wie unser Subjekt bestimmte Umweltreize interpretiert. Tiere reagieren auf Farben anderer Lichtspektren als wir, so sehen Bienen z.B. auch das für uns unsichtbare Ultraviolett, und es ist nicht unvorstellbar, dass sie es auch subjektiv anders erleben als wir unsere Farben. Auch die bekannten sogenannten “optischen Täuschungen” oder die “unmöglichen Bilder” des Graphikers M.C. Escher (seine Werke zieren oft konstruktivistische Bücher als Titelbilder) beweisen, wie wenig passiv z.B. der Akt des Sehens ist, wie wenig “von außen” übernommen und wie viel von unserem Erkenntnisapparat hinzugedacht, -gefügt und -erfunden wird. 

Der Konstruktivismus sagt also: Unser Erkenntnisapparat “konstruiert” große Teile unserer Erkenntnis, erschafft quasi die vermeintliche “Wirklichkeit”, in der wir leben; diese so entstandene “Wirklichkeit” ist daher stark subjektiv geprägt, hat wahrscheinlich gar nichts mit der Welt außerhalb unseres Subjekts, der Wahrheit oder - im Kant’schen Jargon - dem “Ding an sich” zu tun. Erkenntnis des “Dinges an sich” bleibt uns wahrscheinlich für immer verschlossen, obwohl seine Existenz nicht bestritten wird (dies unterscheidet die Konstruktivisten auch von den “Solipsisten”, die meinen, außerhalb unseres Subjekts gäbe es nichts; die Konstruktivisten meinen, dass es etwas gibt, die Frage ist nur, ob und inwieweit wir es erkennen). 

Was wir aber tun können, wenn uns die Wahrheit außerhalb unserer selbst verschlossen bleibt, ist, dass wir herauszufinden versuchen, auf welche Art und Weise und nach welchen (intersubjektiven) Gesetzmäßigkeiten unser Erkenntnisapparat jene “Wirklichkeit” konstruiert, in der wir zu leben glauben. Watzlawick definiert aus diesem Grund den Konstruktivismus auch als “Wirklichkeitsforschung”. Diese “handelt davon, was im Grunde bereits den Vorsokratikern bekannt war und in unseren Tagen immer mehr an Bedeutung gewinnt, nämlich von der Einsicht, dass jede Wirklichkeit im unmittelbarsten Sinne die Konstruktion derer ist, die diese Wirklichkeit zu entdecken und erforschen glauben. Anders ausgedrückt: Das vermeintlich Gefundene ist ein Erfundenes, dessen Erfinder sich des Aktes seiner Erfindung nicht bewusst ist, sondern sie als etwas von ihm Unabhängiges zu entdecken vermeint...” (Paul Watzlawick, Die erfundene Wirklichkeit, S.9) 

Um herauszufinden, wie unser Erkenntnisapparat die “Wirklichkeit” konstruiert, bedienen sich die Konstruktivisten eines interdisziplinären Wissenschaftsansatzes mit unterschiedlichen Methoden, z.B. der Biologie, Psychologie, Soziologie, Sprachwissenschaft etc. Man fragt sich an dieser Stelle, ob diese vielen unterschiedlichen Forscher eigentlich einen einheitlichen Begriff von dem besitzen, was sie “Konstruktion” nennen. Es wird auch immer wieder die Kritik laut, dass der Konstruktivismus bereits seit langem bekannte philosophische Wahrheiten quasi neu “aufwärmt”. Diese Kritik ist bis zu einem gewissen Grade zutreffend - gerade darin könnte aber auch der Wert dieses Ansatzes bestehen, dass nämlich bereits bekannte Wahrheiten wiederbelebt und auf die moderne, wissenschaftliche Forschung übertragen werden. 

Paul Watzlawick beschäftigt sich aber auch mit den politischen Auswirkungen der konstruktivistischen Erkenntnistheorie; und dass er hinsichtlich seiner Werthaltung und persönlichen Präferenzen der “offenen Gesellschaft” Karl Poppers nahe steht, zeigen schon seine häufigen Verweise auf besagten Denker. Er ist der Meinung, dass der Konstruktivismus aufgrund seiner inneren Notwendigkeit gesellschaftliche und politische Toleranz und damit Demokratie fordert. Denn wenn unsere Erkenntnis nur von unserem Subjekt konstruiert ist und keine absolute, unfehlbare, unbezweifelbare Wahrheit darstellt, dann folgt daraus, dass man andere Welterklärungen und Lebensweisen, die ja auch Konstruktionen sind, als gleichwertig respektieren muss. Der fanatische Glaube an absolute Wahrheiten hingegen hat in der Geschichte immer wieder zu Diktatur und politischen Verbrechen geführt. Denn wenn man der Meinung ist, den einzig wahren Weg zu gehen, liegt es nahe, alle anderen Menschen auch mit den Mitteln der Gewalt auf diesen Weg zu zwingen - und in dieser Hinsicht sind alle ihre absolute Wahrheit behauptenden Ideologien gleich, so verschieden sie sonst auch sein mögen. 

Watzlawick drückt dies so aus: “Dem Inhalt nach gibt es kaum unvereinbarere Unterschiede als zwischen dem Glauben eines Torquemadas, dem Mythos des 20.Jahrhunderts, der endgültigen, da ‘wissenschaftlichen’ Erklärung der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch Marx und Engels, oder der Überzeugungen der Baader-Meinhof-Leute. Doch die Praxis der Inquisition, der Konzentrationslager, des Archipel Gulag, oder der Terroristenszene sind von einer unleugbaren, grauenvollen Isomorphie.” Diesen Tendenzen entgegen steht der Konstruktivist, der tolerant ist: “Die Einsicht, dass wir nichts wissen, solange wir nicht wissen, dass wir nichts endgültig wissen, ist die Voraussetzung des Respekts für die von anderen Menschen erfundenen Wirklichkeiten. Erst wenn diese anderen Wirklichkeiten selbst intolerant werden, würde er - wiederum im Sinne Karl Poppers - das Recht für sich in Anspruch nehmen, die Intoleranz nicht zu tolerieren. Dieser Mensch fühlte sich auch in einem tief ethischen Sinne verantwortlich (...) Der für uns alle so bequeme Ausweg in die Abwälzung von Schuld an Umstände und an andere Menschen stünde ihm nicht mehr offen. Diese volle Verantwortlichkeit würde auch seine volle Freiheit bedeuten. Wer sich des Umstands voll bewusst wäre, der Erfinder seiner Wirklichkeit zu sein, wüsste um die immer bestehende Möglichkeit, sie anders zu gestalten.” (Paul Watzlawick, Die erfundene Wirklichkeit, S.192 f.) 

Man kann nur hoffen, dass die von Watzlawick dem Konstruktivisten attestierten Wertvorstellungen allgemein verbindlich würden. 

Wir, die Menschen, sind mehr als bloß die passiven Diener einer “objektiv” bestehenden Welt. Wir können vielmehr die Welt, in der wir leben, aktiv formen und nach unseren Vorstellungen verändern - vielleicht nicht nach völligem Belieben, aber beliebig genug, um uns nicht mit allem “Vorgefundenen” einfach abfinden zu müssen. Der Mensch als aktiver Schöpfer seiner eigenen Wirklichkeit sollte den Mut haben, seinen eigenen Lebensentwurf, aber auch Politik, Gesellschaft, Wirtschaft u.a. nach seinen Vorstellungen und Bedürfnissen zu gestalten und sich nicht beirren lassen von den Zeitgenossen, die ihm raten, sich immer nur mit dem “Gegebenen” zu begnügen, so als sei es unhinterfragbar und unveränderlich. Wer hätte gedacht, dass aus einem Sumpf mit quakenden Fröschen sich eines Tages der Stahl- und Betongigant New York erheben könnte? Oder in einer wasserlosen Wüste das blühende Salt Lake City? Und wer hätte vor noch kurzer Zeit auch nur geahnt, dass das zersplitterte Europa einmal eine einheitliche Währung bekommen würde? 

Kurzum, eines können wir auf jeden Fall von den Konstruktivisten lernen: Wir Menschen müssen unser Schicksal selbst in die Hand nehmen und in Freiheit und Verantwortung für die Zukunft unserer selbst, unseres Kontinentes, unseres Planeten wirken. Seien wir die Baumeister unserer eigenen Wirklichkeit.

© dieses Textes: Patrick Horvath, Wien, 2002.

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