Patrick Horvath
Wie man das Vaterland loswird
- und andere Gedanken über Wahrheit, Kunst und Politik
Was ist Wahrheit? Diese Frage des Pontius Pilatus - nach Nietzsche der einzige Satz im Neuen Testament von Wert - ist in die Weltgeschichte eingegangen. Nun haben die verschiedenen Beantwortungen dieser Frage nicht nur grundsätzliche philosophische, d.h. erkenntnistheoretische Bedeutung, sondern auch konkrete politische Folgen. Dies erkannt zu haben ist das Verdienst des österreichischen Demokratietheoretikers Hans Kelsen, der als praktische Frucht seines Denkens auch die im Prinzip heute noch gültige Verfassung seines Heimatlandes schrieb.
Im letzten Kapitel seiner Schrift "Vom Wesen und Wert der Demokratie" stellt Kelsen zwei Ansichten über die Wahrheit und ihre Erkennbarkeit einander gegenüber. Die eine ist der Glaube an eine dem Menschen mögliche Einsicht in absolute Werte und Wahrheiten. Man kann sich für diese Überzeugung, meint er, auf die Bezeichnung "Absolutismus" einigen. Dem steht wiederum der "Relativismus" gegenüber, die im Prinzip zutiefst sokratische Haltung des Wissens um das eigene Nichtwissen. Anhänger dieser Weltanschauung gehen davon aus, daß letztlich alles menschliche Wissen mit Unsicherheit behaftet ist und die Einsicht in absolute Werte und Wahrheiten wahrscheinlich gar nicht möglich ist. Jedes philosophische System kann unter einer dieser beiden Typologien erfaßt werden.
Diese Weltanschauungen münden ihrer inneren Logik nach in unterschiedliche Konzepte von Politik. Die Verteidigung der Erkennbarkeit absoluter Werte führt nach Kelsen in die Autokratie (ein alter Begriff für Diktatur), dem Relativismus kann hingegen die Demokratie zugeordnet werden. Warum diese Zuordnung? Glaubt man an die Existenz und Erkennbarkeit irgendwelcher absoluter Werte, liegt auch der Gedanke nahe, daß alle Menschen diese anerkennen und diesen gehorchen sollen. Für politische Freiheit bleibt hier wenig Platz. "Denn was kann es gegenüber der alles überragenden Autorität des Absolut-Guten anderes geben als den Gehorsam derer, denen es das Heil bringt, den bedingungslosen und dankbaren Gehorsam gegenüber demjenigen, der, im Besitz des Absolut-Guten, dieses weiß und will; ein Gehorsam, der freilich in demselben Maß nur auf dem Glauben darauf beruhen kann, daß die autoritäre Person des Gesetzgebers im Besitz des Absolut-Guten sei, als eine Erkenntnis desselben der großen Menge der Normunterworfenen versagt bleibt."
Der Relativismus allerdings läßt Platz für Freiheiten aller Art und eine entsprechende demokratische Organisation. Denn: "Wer absolute Wahrheit und absolute Werte menschlicher Erkenntnis für verschlossen hält, muß nicht nur die eigene, sondern auch die fremde, gegenteilige Meinung zumindest für möglich halten. Darum ist der Relativismus die Weltanschauung, die der demokratische Gedanke voraussetzt. Demokratie schätzt den politischen Willen jedermanns zumindest gleich ein, wie sie auch jeden politischen Glauben, jede politische Meinung, deren Ausdruck ja nur der politische Wille ist, gleichermaßen achtet. Darum gibt sie jeder politischen Überzeugung die gleiche Möglichkeit, sich zu äußern und im freien Wettbewerb um die Gemüter der Menschen sich geltend machen."
Der Konstruktivismus ist eine erkenntnistheoretische Grundhaltung, welche die Subjektivität der vermeintlichen "Wirklichkeit" hervorhebt, in der wir leben oder zu leben glauben. Unser Erkenntnisapparat "konstruiert" durch seine vielfältigen Tätigkeiten eine Welt, die wenig bis gar nichts mit dem "Ding an sich" zu tun hat. Man untersuche die Farben, die wir sehen - nachweislich sind sie Produkte unserer Augen und unseres Gehirns; es sind nur Arten, wie wir die von außen kommenden Reize interpretieren, nicht diese Reize selbst (wie schon John Locke feststellte). Unser Raum- und Zeitempfinden - es ist nicht dasselbe wie jenes der Tiere (Jakob von Uexküll entdeckte dies). Wenn es aber verschiedene Arten gibt, Raum und Zeit wahrzunehmen, sind dann nicht Raum und Zeit viel mehr in uns als wir in ihnen? Sind sie nicht nur Arten, wie wir die von außen auf uns einströmenden Reize ordnen, strukturieren (wie auch Kant meinte)? Und die Gefühle, die ganze Welt unserer Ängste, Hoffnungen, Sorgen? Ich muß keine große Autorität zitieren, um feststellen zu können, daß die meisten davon auch nur eingebildet sind.
Diese Weltanschauung hält auch die absolute Wahrheitserkenntnis für ausgeschlossen; sie ist daher relativistisch - und fordert daher, wie oben festgestellt, aufgrund ihrer inneren Logik Demokratie, Toleranz und grundlegende Rechte für alle Menschen. Denn wenn es keine absolute Wahrheit gibt oder diese zumindest nicht klar erkennbar ist, woher sollte man dann das Recht nehmen, alle Menschen auf den Weg zu zwingen, den man selbst für richtig hält? Vielleicht ist dies einer der Gründe, warum Werner Horvath, der dieser erkenntnistheoretischen Grundhaltung nahesteht, in seinen Bildern nicht nur die Arten und Weisen verdeutlicht, wie unser Erkenntnisapparat "Wirklichkeiten konstruiert", sondern auch ein politisch-soziales Engagement mit seiner Kunst verbindet: Seine Bilder üben Kritik an politischen Vorgängen, die nicht mit den Werten vereinbar sind, denen sich der Künstler verpflichtet fühlt.
So prangert Horvath die Ereignisse während des jugoslawischen Bürgerkrieges an, die seit dem Anfang der 90er-Jahre die Weltöffentlichkeit erschüttert haben. Das Bild "Der Balkankrieg" ist dafür das eindrucksvollste Beispiel: Die Kriegsverbrechen in Jugoslawien werden dort in Beziehung zu den Schrecken der nationalsozialistischen Konzentrationslager gesetzt, die beiden Politiker Karadzic und Milosevic als Hauptverantwortliche des Völkermordes demaskiert. In diesem Zusammenhang erwies sich das Urteil des Künstlers als vollkommen zutreffend, ja prophetisch. Denn 1993, als dieses Bild entstand, tobte der Krieg noch nicht allzu lange, die Lage war unklar und verwirrend, die Nachrichten widersprüchlich und zum großen Teil falsch. In einer aus heutiger Sicht seltsam anmutenden Fehleinschätzung stilisierte die internationale Presse damals den jugoslawischen Präsidenten Milosevic zu einem verantwortungsbewußten, menschlich gesinnten Partner für den Westen hoch, der vom Genozid, den Massenvergewaltigungen und den Massakern an der Zivilbevölkerung doch gar nichts wußte. Horvath, der diese Sichtweise von Anfang an für unglaubwürdig hielt und dies auf seinen Bildern zum Ausdruck brachte, mußte sich zu dieser Zeit bei Ausstellungen im In- und Ausland die Frage gefallen lassen, warum denn Milosevic auf dem Bild abgebildet sei, der doch anerkanntermaßen "ein Guter ist".
Aber auch mit dem gegenwärtig in ganz Europa aufsteigenden Rechtsextremismus setzt er sich auseinander - etwa im Bild "Solingen", welches zeigt, wie die schwarzen Rauchschwaden aus dem zu trauriger Berühmtheit gelangten, brennenden Asylantenheim aufsteigen, während sich aus ihnen die verzerrte Fratze Adolf Hitlers formt.
Doch nicht nur Kritik, auch Wertschätzungen bringt der Künstler in seinen Bildern zum Ausdruck.
Ob für den genialen Physiker Albert Einstein, der auch ein der Menschlichkeit zutiefst verpflichteter Denker war; ob für Vaclav Havel, den berühmten Schriftsteller und ersten Präsidenten des demokratischen Tschechien, der leidenschaftlich die Verbrechen des Kommunismus anprangerte; ob für den Psychoanalytiker Sigmund Freud, dessen mutige, der Wahrheitssuche verpflichteten Bücher von den Nazis verbrannt wurden - Horvath nimmt Stellung und ergreift Partei im Sinne seiner Werte. Welches diese Werte letztlich sind, kann man aus der Fülle der von ihm in Gesprächen vertretenen Standpunkte sowie aus seinem künstlerischen Werk herausarbeiten, sozusagen "destillieren":
1.) Demokratie - aber nicht verstanden als bloße Herrschaft der Mehrheit (das wäre zu billig, wo doch jeder außer Rousseau weiß, daß auch die Mehrheit offenkundig irren kann), sondern in einem von Mill und Popper geprägten Verständnis als Staatsform, in der zwar die durch periodische Wahlen legitimierte Mehrheit mangels eines anderen Regenten tagespolitische Entscheidungen trifft, aber gleichzeitig jedem einzelnen grundsätzlich Freiheit, allgemeine Toleranz und Selbstverwirklichung (d.h. im Sinne Humboldts Entfaltung der Kreativität, Begabungen und besten Charaktereigenschaften jedes Bürgers) zugesichert werden - eine Zusicherung, die niemand, auch die Mehrheit nicht, aufheben kann und darf.
2.) Individualismus - Gerade dieser Wert wurde, wie schon Popper nachwies, in der Geschichte des politischen Denkens oft verleumdet, indem er mit "Egoismus" gleichgesetzt wurde. Egoismus bedeutet allerdings Triebbefriedigung ohne Rücksicht auf andere, was offensichtlich keinen Wert, sondern geradezu den Prototyp des unmoralischen Verhaltens darstellt. Individualismus hingegen ist der Glaube an Würde und Wert jeder einzelnen menschlichen Person (auch jeder anderen Person als seiner selbst), die aus diesem Grund gewisse angeborene Menschenrechte besitzt - wie sie u.a. in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 formuliert wurden. Diese grundlegenden Rechte soll niemand aufheben dürfen, weder zur Erhöhung der Einschaltquoten einer sadistischen TV-Show, noch im Namen eines ominösen "Gesamtwohls", für das sich jeder einzelne aufzuopfern hat. Vor allem zum sogenannten "Gesamtwohl" ließe sich einiges sagen: Der Hinweis, daß die Gesamtheit von größerem Wert ist als ihr einzelner Teil, daher sich der einzelne für die Gesamtheit aufzuopfern habe, ist im Zusammenhang mit politischen Gebilden irreführend. Der Einzelmensch ist konkret und real; er denkt, lebt, fühlt und leidet; das "Vaterland", der "Staat" (oder was auch immer) ist hingegen keine natürliche, sondern eine künstliche Person, die auf dem Papier und in den Köpfen der Menschen existiert und die besagte Fähigkeiten nicht besitzt; sie ist geschaffen als Mittel, um den Menschen zu dienen, ihre Rechte zu schützen und für ihre Wohlfahrt zu sorgen; nicht als höchster Zweck, für den all seine Bewohner leiden und grausam auf dem Schlachtfeld krepieren müssen, ohne etwas davon zu haben. Der Individualismus schließt nicht aus, anderen zu helfen und für andere einzustehen; vielmehr muß man dies ja schon deshalb tun, weil den anderen auch die besagten grundlegenden Rechte zukommen, die schützenswert sind. Und der "Kollektivismus", also die totale Hingabe an eine Gesamtheit, schließt den Egoismus nicht aus. Ganz im Gegenteil: Es gibt ja auch einen "kollektiven Egoismus" etwa eines Clans, einer Kaste oder eines Staates gegenüber anderen Mitmenschen - den es in all seinen Äußerungen zu bekämpfen gilt. Ferner: Einem Menschen seine grundlegenden Rechte vorzuenthalten, weil er wirklich oder angeblich "freiwillig" darauf verzichtet hat, ist ebenfalls nicht zulässig. Menschenrechte sollen ihrem Wesen nach unveräußerlich sein; denn sobald es möglich ist, freiwillig darauf zu verzichten, entstehen offene oder subtile gesellschaftliche Anreize oder Druckmechanismen, dies doch zu tun. Soviel ist von Diktaturen zu halten, die ihren Bürgern die Möglichkeit offenhalten, auf die geheime Wahl zu verzichten, "wenn sie es wollen" oder von Fernsehproduzenten, die Menschen in einen Container sperren und sie ihres Rechts auf Privatsphäre berauben, mit der Begründung, diese hätten sich doch damit freiwillig einverstanden erklärt.
3.) Pazifismus - Auch dieser Wert gehört zu den am meisten verleumdeten Grundhaltungen, weil seinen Vertretern oftmals vorgeworfen wird, "vaterlandslose Gesellen" zu sein. Aber ist nicht, wie schon Montesquieu meinte, die Menschheit mehr wert als das Vaterland? Wie oft wurden unmenschliche Grausamkeiten im Namen des "Vaterlands" begangen? Und ist es nicht so, daß die Geschichte lehrt, daß sich nicht die besten, sondern die schlechtesten Eigenschaften des Menschen im Krieg entfalten? Der philosophische Übergang von einer "alten" Moral, die das Vaterland, und einer "neuen", die die Menschen in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellt, wurde wahrscheinlich noch nie so schön beschrieben wie im "Alexis Sorbas" des kretischen Autors Nikos Kazantzakis. Der Romanheld Sorbas, der früher in seinem bewegten Leben auch einmal Soldat war, erzählt dort seinem Freund, dem Schriftsteller, wie er "das Vaterland loswurde":
"Es gab eine Zeit, in der ich sagte: Das ist ein Türke, das ist ein Bulgare oder ein Grieche. Wenn du wüßtest, Chef, was ich für das Vaterland alles getan habe, stünden dir die Haare zu Berge. Ich habe gemordet, gestohlen, Dörfer in Brand gesteckt, Frauen vergewaltigt, ganze Familien ausgerottet... Warum? Nur weil es Bulgaren oder Türken waren. Du gemeiner Halunke, du Mistvieh! schimpfte ich mich oft selber. Denn ich bin zur Vernunft gekommen. Jetzt schaue ich mir die Menschen an und sage: Der ist ein guter, jener ein schlechter Mensch. Ob Bulgare oder Türke, ist nebensächlich. Aber ob gut oder böse, das ist die Frage. Ja, ich glaube, je älter ich werde - beim Brot, das ich esse - ich sollte auch noch das Fragen lassen. Ob gut oder schlecht - sie dauern mich alle. Es fährt mir durch Mark und Bein, wenn ich mir einen Menschen ansehe, auch wenn ich tue, als ob ich mir einen Dreck aus ihnen machte. Ich sage mir: auch dieses arme Luder ißt, trinkt, liebt und hat Angst. Auch er hat seinen Gott und seinen Teufel, auch er muß eines Tages krepieren und liegt steif und still unter der Erde, und die Würmer fressen ihn auf. Armer Schlucker! Wir sind alle Brüder! Und Fraß für die Würmer!" Mit diesem Gedankenschritt erreicht Sorbas die wahrscheinlich höchste erreichbare Stufe dessen, was man Humanität nennt.
Die hier dargestellten Werte, so ehrenwert und auch allgemein anerkannt (zumindest theoretisch anerkannt) sie gegenwärtig auch sind, haben allerdings einen nicht unbedenklichen Schönheitsfehler - zumindest, wenn man den Analysen des berüchtigten und heutzutage eigentlich geächteten Philosophen der Zwischenkriegszeit, Carl Schmitt, Glauben schenkt. Schmitt ist der Meinung - und steht damit sicher dem heutigen Zeitgeist entgegen - daß so wie das Begriffspaar "gut - böse" für die Moral und "rentabel - unrentabel" für die Wirtschaft von grundlegender Bedeutung ist, das Wesen der Politik mit den beiden Gegensätzen von "Freund" und "Feind" beschrieben werden kann. Politik ist für Schmitt wesentlich Feindschaft; ohne Feindschaft kann es nach Schmitt keine Politik geben.
Auf den ersten Blick wirkt diese Ansicht abstoßend. Aber bei genauer Betrachtung kommt man dahinter, daß tatsächlich praktisch jede politische Bewegung eine Gegenbewegung ist. Würde es z.B. die Grünen geben, wenn es keine Protestbewegungen gegen die Verschmutzer unserer Umwelt, den Bau von Atomkraftwerken an unseren Grenzen und Wasserkraftwerken in unseren Auen gegeben hätte? Die Grünen sind entstanden aus der Bekämpfung eines Feindes: der Umweltverschmutzer, der Industrielobby und aller, die mit diesen sympathisieren. Oder man nehme die kommunistische Bewegung: Der Kampf gegen kapitalistische Unterdrückung durch die "Bourgeoisie" ist der Kampf gegen einen Feind! Und selbst in der Internationalen Politik gilt dieses Muster: Die NATO entstand als Bündnis gegen die Sowjetunion, gegen einen als Bedrohung wahrgenommenen Feind. Politik ist also, so ist es zumindest argumentierbar, tatsächlich Feindschaft. Und Feindschaft enthält nach Schmitt immer die Möglichkeit des Kriegs. Eine Welt ohne Krieg hält Schmitt im Prinzip für eine Illusion von Träumern.
Schmitt lebte in einer Zeit des massiven Wandels der Politik, aber vor allem der Völkerrechtslehre. Das "klassische" Völkerrecht der Neuzeit war aufgebaut um den Begriff der "Souveränität". Souveränität meint die höchste, aus sich selbst heraus legitimierte Gewalt eines Staates, die auch ein Gewaltmonopol nach innen mit einschloß; der Staat galt und gilt als der einzige, der in seinem Inneren legitim Gewalt einsetzen darf - natürlich zur Herstellung einer inneren Ordnung. Nach außen beinhaltete Souveränität nach Meinung der klassischen Völkerrechtslehre das "ius belli" - das Recht, Kriege zu führen. Der Krieg wurde als legitimes Mittel der Rechtsdurchsetzung zwischen Staaten betrachtet. Noch Denker wie z.B. Hegel waren der Gedankenwelt des klassischen Völkerrechts vollständig verhaftet. Erst unter dem Eindruck des 1.Weltkriegs änderte sich diese Rechtsauffassung; Schritt für Schritt begann man, den Krieg zu ächten und als Mittel der internationalen Konfliktlösung zu verbieten. Meilensteine auf diesem Weg waren z.B. der Briand-Kellogg-Pakt in der Zwischenkriegszeit oder das Allgemeine Gewaltverbot, ausgesprochen in der UNO-Charta von 1945. Als Schmitt seine Hauptwerke verfaßte, war dieser Wandel gerade im Gang.
Schmitt war dem autoritären Denken seiner Zeit nicht abgeneigt; töricht wäre es auch zu verschweigen, daß er zeitweise mit dem nationalsozialistischen Ungeist liebäugelte. Aber seine Feindschaft zu den modernen Entwicklungen macht ihn zu ihrem scharfsichtigen Kritiker, der all ihre Schwächen ohne Gnade aufdeckt (das - teilweise - auch von ihm vertretene reaktionäre Gedankengut erscheint allerdings aus der Perspektive der heutigen Zeit nicht als bessere Alternative).
Für die Kriege im Zeitalter des modernen Völkerrechts prophezeit Schmitt sinngemäß folgendes: Es wird sie weiterhin geben (denn sie gehören seiner Meinung nach wesentlich zur Politik), man wird sie aber nicht mehr "Krieg" nennen, sondern sich andere schöne Namen für dieselbe Sache ausdenken, z.B. "Humanitäre Intervention", "Internationaler Polizeieinsatz" oder "Friedenseinsatz". Krieg wird also weiterhin geführt werden, nur unter anderen Namen, was im Prinzip verlogen ist. Krieg wird auch nicht mehr erklärt werden - er wird zwar immer eine Realität bleiben, aber eben eine verbotene. Daß er aber de facto nicht aus der Internationalen Politik verschwinden wird, dessen ist sich Schmitt sicher.
Für Schmitt ist die Herausbildung des modernen Völkerrechts kein Fortschritt, sondern ein Rückfall in die Barbarei des Mittelalters, in dem man "heilige Kreuzzüge" und "gerechte Kriege" führte - nur diesmal eben nicht im Namen des Christentums, sondern im Namen des Friedens, der Demokratie und der Menschenrechte. Das klassische Völkerrecht enthielt sich des Moralisierens. Krieg war eben eine Auseinandersetzung zwischen zwei Staaten aufgrund gewisser verschiedener Interessen und Rechtsauffassungen. Da Krieg ein legitimes Mittel der Konfliktlösung war, mußte man nachher keinen "Schuldigen" suchen, den man "bestrafen" muß, schon gar nicht in der Zivilbevölkerung. Ein Kreuzzug, in dem der Gegner als absolut böse und moralisch zutiefst verwerflich verdammt wird, neigt hingegen zu Greueltaten und einer gewissen Radikalisierung. Er entwickelt eine Dynamik, in der die "Hegung", d.h. Zivilisierung des Kriegs nicht mehr möglich wird.
Auch das "Humanitäre Kriegsrecht" wird zwar vielleicht nicht formal, aber doch in der Praxis geschwächt. Im Rahmen des klassischen Völkerrechts war Krieg erlaubt, es bildete sich aber ein gewisser Kodex heraus, der den Krieg menschlicher machte. Übergriffe auf die Zivilbevölkerung wurden genauso verboten wie die Zerstörung von Kulturdenkmälern. Eine Kriegserklärung wurde zur Pflicht, damit jeder Staat eine gewisse Zeit zur Vorbereitung hatte.
Wenn aber Krieg überhaupt verboten wird - wie kann man ihn dann noch hegen? "Der Krieg ist verboten; und außerdem ist es euch verboten, im Krieg Übergriffe auf die Zivilbevölkerung zu unternehmen". Wäre dies nicht genauso absurd wie die Aussage: "Schnapsbrennen ist verboten; und euer selbstgebrannter Schnaps darf zudem nicht mehr als 40% Alkoholgehalt besitzen" oder "Abtreibung ist verboten; und wenn eine Frau eine Abtreibung unternimmt muß sie aber ein Beratungsgespräch bei einer staatlichen Stelle führen". Wer gegen das Verbot, Schnaps zu brennen, verstößt, wird sich doch nicht an das Verbot halten, eine gewisse Grenze des Alkoholgehalts zu akzeptieren! Ein Gesetzesbruch liegt ohnehin schon vor, da ist ein anderer sowieso schon egal. Außerdem: Wer kann es überprüfen? Der Schnapsproduzent wird seine illegale Brennerei kaum der staatlichen Kontrolle unterstellen. Der Staat nimmt sich durch ein globales Verbot also selbst Regelungsmöglichkeiten. Wäre es in diesem Fall nicht klüger zu sagen: Nun gut, Schnaps getrunken und gebrannt wird mit oder ohne Verbot; aber im Falle der Legalisierung kann man wenigstens den Alkoholgehalt regeln, ein gewisses Reinheitsgebot sicherstellen und so den Schaden in Grenzen halten. Im Falle der Abtreibung kann man ähnlich argumentieren: Es wird dieses moralische Übel immer geben. Wenn man es legalisiert und unter medizinisch hygienischen Bedingungen anbietet, aber an Beratungsgespräche bindet, kann man vielleicht für die zu diesem Schritt entschlossenen Frauen andere Lösungen finden. Wäre es mit einer ähnlichen Legitimation nicht besser, die Kriege zu erlauben, die es ohnehin gibt, aber dafür zu hegen? Schmitt würde dies bejahen.
Konsequent zu Ende gedacht, läßt das moderne Völkerrecht auch keinen Platz für die Neutralität. Die Neutralität ist historisch ein Produkt des klassischen Völkerrechts. Wenn es Staaten freisteht, im Rahmen des ius belli Kriege zu führen oder auch nicht, können sie sich am Krieg beteiligen oder neutral bleiben. Wie kann man aber Neutralität noch rechtfertigen, wenn Krieg verboten, der Angreifer also ein schuldiger Verbrecher, der Angegriffene hingegen das unschuldige Opfer ist? Wie ist hier eine Nicht-Einmischung möglich? Ist man in diesem Fall nicht moralisch sogar verpflichtet, dem Opfer zu helfen? Wenn es aber keine Neutralität mehr gibt, gibt man da nicht die Vorteile aus der Hand, die letztere für die Menschlichkeit bietet? Etwa die besseren Möglichkeiten, humanitäre Hilfen für die Opfer beider Seiten zu leisten, wie es das in der neutralen Schweiz angesiedelte und mit Schweizer Bürgern besetzte Internationale Rote Kreuz tut, das niemals ins Kriegsgebiet oder zu den Kriegsgefangenen vorgelassen würde, wenn es sich der Parteilichkeit schuldig machte? Nun wurden die Abschaffung des Humanitären Völkerrechts und der Neutralität trotz moderner Völkerrechtsordnung zwar bis heute nicht endgültig vollzogen (obwohl die Neutralität, zumindest in Österreich, ja schon sehr aufgeweicht wurde) - dies deutet aber eher auf bisher noch mangelnde Konsequenz hin als auf Schmitts Irrtum.
Die Kriegsführenden der Zukunft werden, so Schmitt, zwischen zwei Extremen schwanken. Auf der einen Seite werden sie, um menschlich zu erscheinen, erklären, sie würden "nicht gegen das andere Volk, sondern nur gegen seine Regierung kämpfen" - was besonders glaubwürdig ist, vor allem dann, wenn die ersten Bomben in den Wohnvierteln der großen Städte explodieren. Gleichzeitig werden sie sich in moralischen Verurteilungen und Verdammungen ihrer Kriegsgegner ergehen und so den Krieg und den Gedanken nach Bestrafung jedes irgendwie am Krieg Beteiligten (und somit eines großen Teil des anderen Volkes) nach dem Sieg radikalisieren. Auch von der Idee eines Kantschen Friedensbundes hält Schmitt nicht viel. Kant meinte vereinfacht ausgedrückt, um den Weltfrieden zu garantieren, sollen sich Staaten, am besten Republiken, zu einer großen Allianz zusammenschließen, die einerseits potentielle Aggressoren abschreckt, andererseits eine Friedensordnung in der Welt ermöglicht. Wer aber, würde Schmitt fragen, garantiert, daß betreffende "Friedensallianzen" nicht eines Tages selbst aggressiv würden, um ihre überlegene Stärke für imperialistische Ziele auszunützen?
Für Schmitt sind Werte wie Demokratie, Menschenrechte und vor allem der Pazifismus nichts anderes als eigentlich realitätsfremde Konzepte, die sich aber ideal zur Bemäntelung eines neuen Imperialismus eignen. Man wird weiterhin Kriege führen, aber angeblich im Namen des Friedens, der Freiheit, der Menschenrechte. Und man wird dies brutaler tun als jemals zuvor, da aufgrund der Moralisierung des Kriegs, den man nun nicht mehr Krieg nennt, dieser keine Hegung mehr erfahren kann - weder durch Humanitäres Kriegsrecht noch durch Neutralität (wie oben ausgeführt). Diese von "Friedenstruppen" geführten "Friedenseinsätze" zur "Bewahrung des Weltfriedens" und "Durchsetzung von Demokratie und Menschenrechten" werden nach Schmitt nichts anderes sein als heuchlerische Kreuzzüge mit letztlich machtpolitischer Motivation eines übermächtigen "Friedensbundes", der diesen Namen höchstens in dem Sinne verdient, daß er andere Länder befriedet, d.h. niederkämpft. Eine traurige Perspektive, wenn Schmitt recht behalten sollte.
Da kann man ja nur froh sein, daß seine in den dreißiger Jahren durchgeführte Analyse schon überholt ist im Zeitalter des Kosovo-Kriegs, der nach Aussage des Pressesprechers der NATO kein Krieg gewesen ist, sondern nur ein Friedenseinsatz. In dem Friedenstruppen ins Felde geführt und Bomben (Friedensbomben?) auf Städte geworfen wurden, nicht um dem serbischen Volk zu schaden, nein, nur im Kampf gegen seine Regierung. Dessen Ziel es war, Menschenrechte durchzusetzen, wobei die NATO gleichzeitig als Ankläger, Streitpartei, Richter und Geschworener auftrat, um dies zu erreichen. Und das ohne Mandat des UNO-Sicherheitsrats! Geführt, zumindest auf der Seite Deutschlands, von einer pazifistischen, rot-grünen Regierung, deren Amtsantritt die erste deutsche Kriegsbeteiligung seit 1945 bedeutete. Hätte das Volk das gedacht, als es die Pazifisten wählte?
Nun darf man aber natürlich nicht einseitig urteilen und auch nicht übertreiben. Die serbische Regierung hat tatsächlich Kriegsverbrechen begangen und systematisch Menschenrechte verletzt. Milosevic ist ein abscheulicher Kriegsverbrecher, der keinerlei Sympathien verdient. Imperialistisch war der Kosovo-Krieg ebenfalls nicht - es gibt im Kosovo keine reichen Bodenschätze oder sonst irgendwelche Beute zu holen. Daher ist der NATO sogar zuzugestehen, daß sie handelte, um die unterdrückte Minderheit der Albaner zu schützen. Dennoch markiert der Kosovo-Krieg eine Wende - vor allem, weil er an die Friedensbewegung ziemlich viele Zugeständnisse machte: Man nannte den Krieg nicht mehr Krieg, erklärte ihn auch nicht, führte ihn im Namen des Friedens, der Demokratie und der Menschenrechte, also im Namen der Werte der Friedensbewegung. Das wesentlichste Zugeständnis, auf das es eigentlich ankäme, macht man jedoch nicht: Nämlich de facto keinen Krieg mehr zu führen.
So ist der Kosovo-Krieg wahrscheinlich nicht einmal zu verurteilen und vielleicht sogar moralisch gerechtfertigt. Bedenklich scheint nur die Mißbrauchsanfälligkeit seiner Methoden, z.B. der "Selbstmandatierung" zum humanitären Einsatz oder der Verwendung des Friedens-, Menschenrechts- und Demokratiegedankens zur Rechtfertigung eines Kriegs. Selbst wenn diese letztere Legitimation im Falle des Kosovo-Kriegs möglicherweise sogar berechtigt war, liegt die Sorge nahe, daß die Berufung auf Menschenrechte und dergleichen in Zukunft zur billigen Legitimation auch von inhumanen Kriegen oder Kreuzzügen verkommt. Kann man so gute Ideen wie Frieden, Menschenrechte und Demokratie aber überhaupt mißbrauchen? Oder bieten sie durch ihre Moralität nicht genug Schutz vor unmenschlicher Verwendung?
Es wäre naiv anzunehmen, daß aus einer moralisch guten Ideologie auch immer gute Taten entspringen. Wer dies glaubt, ist, um es mit Max Weber zu formulieren, "politisch ein Kind". Vielmehr ähnelt die Realität in vielen Fällen eher dem, was symbolisch in einem von Horvaths Bildern dargestellt ist:
Man sieht darauf den Kopf des "Vaters des Kommunismus" Karl Marx, dessen soziales Gewissen und Engagement für die ausgebeuteten Arbeiter seiner Zeit selbst seinen Gegnern zu allen Zeiten Respekt abzollte. Der Kopf des bärtigen Philosophen wird auf besagtem Bild von Blumen geformt, herrlichen Blüten, die nach unten hin aber zerrinnen und sich auflösen in ein Gewirr von Schlangen und Würmern, aus denen schließlich das Antlitz Stalins wächst, des Diktators des gigantischen Sowjetimperiums. Dieser Stalin war es, der im Namen des Kommunismus (einer in vielen Punkten menschlichen Idee) die gefürchteten Gulags errichtete, die bis heute als Symbol der Unmenschlichkeit und des staatlich geplanten Terrors gelten. Er ordnete zahllose Deportationen an und schuf ein System, das für Andersdenkende, aber nicht zuletzt auch für die Arbeiter kein Paradies, sondern eine wahre Hölle auf Erden war - darf man doch nicht vergessen, daß selbst der ungebändigte Kapitalismus des 19.Jahrhunderts den Arbeiter nicht dermaßen ausbeutete und entmenschlichte wie das stalinistische Regime, das seine ehrgeizigen Fünf-Jahres-Pläne nur durch das Zu-Tode-Schinden hunderttausender arbeitender Menschen erfüllen konnte.
Auch das Christentum hat einst die Weltherrschaft erlangt. Aber um welchen Preis? Um den Preis, daß es sich selbst aufgegeben hat, daß es vereinnahmt wurde von den Mächten, die es zuvor bekämpfte. Das Christentum war einmal eine pazifistische, verfolgte Bewegung, die sich für die Schwachen einsetzte, Barmherzigkeit und Mitleid predigte und lebte; eine Religion, deren Anhänger in naiver Gläubigkeit an das Gute im Universum den Lebensmut selbst dann nicht verloren, als sie vor den kaiserlichen Schergen in die Katakomben fliehen mußten. Aus dieser Bewegung wurde schließlich die triumphierende Kirche der Inquisition, auf deren Geheiß gefoltert und gemordet wurde - während sie die Namen ihrer friedfertigen Gründer ehrfurchtsvoll im Munde führte.
Wird dasselbe nun einmal mit der Ideologie der Menschenrechte passieren? Wird der Preis, den diese für ihre weltweite Anerkennung zu bezahlen hat, darin bestehen, daß mit ihr einst die schauderhaftesten Verbrechen, die brutalsten Kriege, die unmenschlichsten Imperialismen gerechtfertigt werden? Und werden jene, die auf diesen Mißbrauch hinweisen, dann als Ketzer verbrannt und als Feinde der Menschenrechte geächtet, werden sie - vielleicht sogar im Namen der Menschenrechte - entmenschlicht?
Im Anschluß an dieses von Carl Schmitt befürchtete Szenario der Zukunft stellt sich die bange Entscheidungsfrage für "unseren" Künstler: Was wird Werner Horvath tun, wenn dereinst im Namen der Werte, für die er so leidenschaftlich eintritt, Verbrechen begangen werden sollten? Wie wird er reagieren, wenn Politiker, möglicherweise auch "unsere" westlichen Politiker, eines fernen Tages die verlockende Idee aufgreifen sollten, unter Berufung auf die Menschenrechte, die Demokratie und den Frieden imperialistische Ziele zu legitimieren (was ja angeblich noch nie vorgekommen ist)? Wird er in diesem Fall den Betrug erkennen und sich mit seiner Kunst dagegen stellen - auch auf die Gefahr hin, in der Öffentlichkeit als reaktionärer Verbündeter oder charakterloser Verharmloser von Menschenrechtsverletzungen, Diktaturen und Kriegstreibern angesehen und dargestellt zu werden? Oder wird er sich anpassen?
Literatur
Patrick Horvath: Werner Horvaths Bilder und Manifeste. In: Patrick Horvath (Hg.): Freud und Leid. Das 20.Jahrhundert in Bildern. Linz 1999.
Aldous Huxley: Brave New World Revisited. London 1994.
Nikos Kazantzakis: Alexis Sorbas. Athen 1995.
Hans Kelsen: Vom Wesen und Wert der Demokratie. Tübingen 1981.
John Stuart Mill: Über die Freiheit. Stuttgart 1974.
Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Tübingen 1992.
Volker Rittberger u.a.: Vereinte Nationen und Weltordnung. Zivilisierung der internationalen Politik. Opladen 1997.
Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Berlin 1991.
Max Weber: Politik als Beruf. Stuttgart 1992.