Große Denker:
Sokrates
Vater des Abendlandes
Werner Horvath: "Sokrates". Öl auf Leinwand, 50 x 40 cm, 2002.
Am
Anfang der europäischen Philosophie steht - alle vorhergehende
Leistungen überragend - der Grieche Sokrates, eine
faszinierende Gestalt, die
das abendländische Denken maßgeblich
geprägt, vielleicht sogar erst in seiner
spezifischen Form begründet hat.
Dieser
Held der intellektuellen Redlichkeit und der Wahrheitssuche
war in seinem bürgerlichen Leben eigentlich ein rechter
Anti-Held. Als
gelernter Steinmetz hatte er seinen Beruf mehr oder weniger an den
Nagel gehängt;
sein aus erhaltenen Büsten zu schließendes
Äußeres war unansehnlich; und
seine Ehe mit Xanthippe war ebenfalls nicht glücklich, woran
wohl nicht einzig
und allein das wirklich oder vermeintlich zänkische Wesen
seiner Frau Schuld
getragen haben mag, sondern auch Sokrates’
schmähliche Vernachlässigung
seiner Pflichten als Vater und Ehemann. Er zog es nämlich
(salopp gesagt) vor,
sich als eine Art “philosophischer Sandler” in den
Straßen Athens
aufzuhalten und Disputationen mit allerlei Menschen über
allerlei Themen zu führen,
anstatt eine gleichsam “anständige” wie
auch enge und kleinbürgerliche
Existenz zu wählen, die aber - dies muss wiederum zu seinen
Gunsten gesagt
werden - sein bedeutendes Werk letztlich verunmöglicht
hätte.
Sein
philosophisches Programm ist nirgends so gründlich dargelegt
wie in der von Platon überlieferten
“Apologie”. Es handelt sich dabei um
die Verteidigungsrede des Sokrates vor dem Gericht, das ihn
letztendlich zum
Tode verurteilte.
Eines
Tages befragte einer seiner Freunde im Überschwang, so
erzählte
der Angeklagte, das Orakel von Delphi, ob denn jemand weiser ist als
Sokrates.
Die Priesterin des dem Apollon geweihten Orakels, das den Griechen als
hohe
geistliche Autorität galt, verneinte diese Frage -
für Sokrates selbst überraschend.
Zunächst fand er keine Erklärung für den
rätselhaften Orakelspruch. Er hatte
sich nämlich niemals eingebildet, großartiges oder
besonderes Wissen zu
besitzen. Vielmehr kann man des Sokrates bescheidene Einstellung zu
seinem
eigenen Wissen ungefähr in der berühmten Formel
wiedergeben: “Ich weiß,
dass ich nichts weiß.” Was meinte das Orakel, als
es verkündet, dass er, der
Nicht-Wissende, weiser ist als all die anderen begabten und
kunstfertigen
Menschen Athens?
Sokrates
wollte der Sache auf den Grund gehen und den Orakelspruch
gleichsam “testen”. So ging er zu jenen
Mitbürgern, die allgemein im Ruf
standen, in irgendeiner Form begabt, kunstfertig, wissend und
vielleicht sogar
weise zu sein - zuerst zu den Staatsmännern, dann zu den
Dichtern, zuletzt zu
den Handwerkern. Er suchte das Gespräch mit ihnen, fragte sie
über allerlei
Themen aus und unterzog ihre Antworten einer intellektuellen
Prüfung. Und er
kam zu dem Ergebnis, dass ihre vermeintlichen Fähigkeiten in
Wahrheit sehr dürftig
waren.
Von
den Staatsmännern war er überhaupt fast
gänzlich enttäuscht.
Die Dichter und Handwerker hingegen beherrschten ihr Spezialgebiet
insoferne
gut, dass die Dichter schöne Sätze formen und die
Handwerker brauchbare Sachen
anfertigen konnten. Über die wirklich wichtigen Dinge - z.B.
ethische
Grundwahrheiten oder philosophische Fragen über Kosmos,
Götter, Seele etc. -
konnten sie keine brauchbaren Antworten geben. Vielmehr begegneten
Sokrates
viele Menschen, die sich einbildeten, gar viel über diese
Dinge zu wissen, in
Wirklichkeit aber nur eitlem Scheinwissen anhingen. Sokrates deutete
daher nach
diesen Erfahrungen den delphischen Orakelspruch
folgendermaßen: Er ist deshalb
der weiseste Mensch von allen, weil er zwar kein großartiges
Wissen besitzt, es
aber auch für sich nicht in Anspruch nimmt; die anderen wissen
zwar auch nichts
Rechtes, glauben aber fälschlicherweise, es zu tun. Sie
verkünden lauthals ihr
Scheinwissen, das sie dogmatisch als unhinterfragbare Wahrheit
verkaufen und täuschen
damit sich selbst und andere über ihre eigentliche
Unwissenheit hinweg.
Sokrates’ Weisheit besteht hingegen gerade in seiner
intellektuellen
Bescheidenheit.
Wie sahen die Gespräche des
Sokrates mit den scheinbar
Wissenden aus? Anhand der von Platon überlieferten Dialoge
können wir uns ein
gutes Bild über die sokratische Methode der
Gesprächsführung machen. Vor
seinem Prozess traf Sokrates z.B. auf Euthyphron, der sich besonderer
Frömmigkeit
rühmte. Sokrates bat ihn, ihm doch zu erklären, was
Frömmigkeit ist und -
ohne Zweifel mit jener Ironie, für die der Philosoph
berühmt war - ihn als Schüler
anzunehmen. Euthyphron - begeistert von der Möglichkeit,
seinen vermeintlichen
Geist leuchten zu lassen - versuchte die Frömmigkeit anhand
von frommen
Einzelbeispielen zu definieren.
Aber
Sokrates ließ dies nicht gelten. Hier fällt das
sokratische
Bemühen um klare Begriffsbestimmungen auf. Zunächst,
meinte Sokrates, muss
doch allgemein festgelegt werden, was
Frömmigkeit ist. Erst dann kann
man für den Einzelfall entscheiden, ob die
betreffende Handlung wirklich
fromm ist oder nicht. Sokrates wird in diesem Bestehen auf die
Festlegung einer
allgemeinen Begrifflichkeit zum Urheber der wissenschaftlichen
Definition. Erst,
wenn wir festlegen, worüber wir eigentlich reden und was wir
mit gewissen
Worten eigentlich meinen, können Fortschritte im Diskurs
erzielt werden. Es
sind gerade die am häufigsten und wie
selbstverständlich verwendeten Begriffe,
die am dringendsten einer Klärung bedürfen.
Euthyphron
versuchte nun die Frömmigkeit zu definieren. Im
Anschluss an jeden Definitionsversuch stellte Sokrates kritische
Fragen. Die
Antworten, die Euthyphron auf die Fragen geben musste, führten
zur Erkenntnis
der Unzulänglichkeit der Definition. Euthyphron nannte z.B.
die Frömmigkeit
das, was den Göttern gefällt. Sokrates fragte ihn, ob
er denn an die vielen Götter
der Griechen glaubt und an all die Erzählungen über
sie, die etwa Homer
gegeben hatte. Als Euthyphron dies bejahte, wies Sokrates darauf hin,
dass die Götter
dieser Erzählungen oftmals miteinander in Konflikt liegen und
sich oft nicht
darüber einigen können, was gefällt und was
nicht oder welche Partei - etwa
im Trojanischen Krieg - zu fördern und zu bekämpfen
ist. Ohne Zweifel blitzte
hier auch eine gewisse Kritik an den überkommenen griechischen
Göttervorstellungen
durch - wie können Götter miteinander in solchem
Hader liegen? Dennoch: Die
Richtigkeit dieser Erzählungen vorausgesetzt stellt sich die
Frage, was denn
fromm ist im Falle eines Konfliktes zwischen dem, was den einen
Göttern gefällt
und dem, was den anderen gefällt. Euthyphron sah sich
genötigt, seine
Definition zu verbessern und zu präzisieren: Fromm ist, meinte
er, was allen Göttern
gefällt.
Die
weiteren Fragen des Sokrates ließen ihn auch diese Definition
verwerfen. Ist etwas wirklich fromm, nur weil es den Göttern
gefällt? Oder ist
es nicht vielmehr umgekehrt so, dass etwas den Göttern
gefällt, eben gerade
weil es fromm ist? Euthyphron erschien die zweite Formulierung
plausibler; die
erste wurde verworfen. In einem neuen Anlauf definierte er
Frömmigkeit als eine
Art Gerechtigkeit, nämlich als die Gerechtigkeit, die sich auf
die Behandlung
der Götter bezieht. Der Dienst an den Göttern besteht
z.B. darin, dass man
ihnen schmeichelt und opfert etc.; dies gefällt ihnen
nämlich sehr, erläuterte
er auf Sokrates’ Fragen hin. Sokrates wies darauf hin, dass
nach dieser
Definition die Frömmigkeit wiederum das ist, was den
Göttern gefällt - eine
Ansicht, die man doch soeben verworfen hatte. Euthyphron hatte es
daraufhin plötzlich
sehr eilig und suchte vor dem fragenden Philosophen das Weite.
Das
Endergebnis dieses Gespräches war auf jeden Fall, dass der
Frömmler
nicht wirklich wusste, was Frömmigkeit ist. Neben dem bereits
erwähnten
Streben nach klarer Begriffsbestimmung fällt an der
sokratischen Gesprächsmethode
auf, dass sie den Gesprächspartner nicht indoktrinierte,
sondern sich einzig
auf den “zwanglosen Zwang” der Vernunft
verließ. Sokrates nahm sein Gegenüber
ernst genug, um ihn für ein mit Vernunft begabtes Wesen zu
halten. Er leitete
sein Denken lediglich durch geschickt gestellte Fragen. Die Antworten
auf diese
und die aus den Antworten zu ziehenden Schlüsse
überließ er stets dem
anderen.
Letztlich
verfolgten die sokratischen Gespräche das Ziel, das
Scheinwissen des anderen als solches zu enttarnen. Sein
Gegenüber sollte im
Endeffekt durch selbstständiges Denken quasi
“geläutert” werden und zur
Erkenntnis des eigenen Nichtwissens gelangen. Dann, auf derselben Stufe
wie
Sokrates, sollte das weitere gemeinsame Lernen beginnen. Das
Gespräch mit
Euthyphron konnte nicht zu dieser letzten Stufe geführt
werden, weil der
wirklich oder vermeintlich fromme Mann vor seiner Läuterung
davonlief. Günstiger
verlief, um ein anderes Beispiel zu bringen, das Gespräch mit
Laches und Nikias,
zwei kriegserfahrenen Männern, deren vermeintliches Wissen um
die Tapferkeit
sich gegenüber den sokratischen Fragen als
unzulänglich erwies. Die beiden
zeigten sich verständig und selbstkritisch; der Dialog mit
ihnen führte zum
Ergebnis der Verwerfung des Scheinwissens und dem Aufruf zu weiterem
Bemühen
auf dem Gebiet der Wahrheitssuche.
Im
Prinzip enthalten die sokratischen Dialoge jene Lehre, die ein
anderer griechischer Philosoph namens Xenophanes
sinngemäß so formulierte,
dass niemals ein Mensch sicheres Wissen besaß, noch jemals
besitzen wird. Aber
im ständigen Bemühen vermögen wir das
Bessere zu finden, denn wir können
alte Lösungen, die sich nach kritischer Prüfung als
unzulänglich erwiesen
haben, verwerfen und neue Lösungen entwickeln, die zwar auch
nicht perfekt
sind, aber dennoch einigermaßen besser zur Realität
“passen” als die
alten. Das fast zweieinhalb Jahrtausende später von Karl
Popper entwickelte
Modell, das die Grundlage unserer heutigen Sichtweise von Wissenschaft
bildet,
folgt im Prinzip diesem Grundgedanken. Die sokratische Sichtweise der
Wahrheit
ist demnach sehr zeitgemäß. Sie ist auch wegen ihrer
intellektuellen
Bescheidenheit ein beeindruckendes Plädoyer der Menschlichkeit
gegenüber der
eitlen Anmaßung der Fanatiker und Fundamentalisten aller
Zeiten, die ihre
absurden Dogmen für den einzigen und unhinterfragbaren
Maßstab der Wahrheit
halten und aus diesem Grund Dialoge verweigern, um stattdessen Gewalt
zu säen.
Sokrates
selbst wurde am Ende das Opfer der Intoleranz seiner Mitbürger
und damit einer der ersten großen Denker in einer langen
Reihe, die für ihre
menschlichen und aufgeklärten Ideen sterben mussten. Viele
hegten Hass gegen
ihn, eben weil er ihr Scheinwissen als solches enttarnte, was
für sie zu
schmerzlich war und ihnen auch Ansehen nahm, zumindest wenn sie aus
ihrem
vermeintlichen Wissen eine bevorzugte Stellung in der Gemeinschaft
ableiteten.
Sokrates wurde letztlich vor Gericht wegen seiner Ansichten angeklagt
und verlor
den Prozess auch darum, weil er nicht bereit war, sich jenen Athener
Gepflogenheiten vor Gericht zu unterwerfen, die stark an die heutigen
Verhältnisse der U.S.-amerikanischen
Unterhaltungsgesellschaft erinnern:
Vom Angeklagten wurde erwartet, dass er schauspielerte, brillante Reden
hielt,
klagte und weinte, den Geschworenen schmeichelte, an die
Gefühle des Publikums
zu appellierte etc.
Sokrates
hingegen liebte nichts so sehr wie die menschliche
Vernunft und die aufrichtige, bescheidene, ungekünstelte Rede.
Mit
intellektuell überzeugenden Argumenten legte er in seiner
Verteidigungsrede,
der oben erwähnten “Apologie”, seine
Unschuld dar. Aber er verzichtete z.B.
darauf, dem Gericht seine weinenden Kinder vorzuführen, derer
er eigentlich
drei besaß, oder unwürdig um eine milde Strafe zu
bitten, wo er sich keiner
Schuld bewusst war. Dieses Verhalten war - rein strategisch gedacht -
einigermaßen
unklug. Aber es war eine konsequente Umsetzung seines
aufklärerischen
philosophischen Programmes, für das er einstand und das er
nicht verraten
wollte.
Sokrates
konnte so zwar erweisen, dass die Anklage gegen ihn
unhaltbar war. So wurde er z.B. des Atheismus bezichtigt,
während ihm
gleichzeitig vorgeworfen wurde, neue Götter einführen
zu wollen, was ja nicht
sein kann: Man kann nicht gut an gar keine Götter glauben und
gleichzeitig an
andere als an die alten. Außerdem beruhte die Anklage auf
einem Missverständnis:
Sokrates hatte zuvor oft erklärt, in
regelmäßigen Abständen vom
“Dämonischen”
heimgesucht zu werden. Dieses “Dämonische”
war aber keine neue Gottheit,
die er einzuführen gedachte, sondern eine Art innere Stimme,
das überaus
starke Gewissen des Philosophen, das ihm von moralisch schlechten
Handlungen
abriet. Auch der Vorwurf, dass er die Jugend verdirbt, erwies sich
angesichts
der treuen und liebevollen Anhängerschaft seiner
Schüler sowie der positiven
Meinung ihrer reiferen Angehörigen als haltlos. Dennoch fiel
das Urteil
letztlich negativ gegen ihn aus, weckte er doch durch sein
ungewöhnliches
Auftreten nicht genügend Sympathien; und er wurde im Jahre 399
v.Chr. dazu
verurteilt, den Schierlingsbecher zu leeren - mit dem aus der
Schierlingspflanze
gewonnenen Gift wurden damals Hinrichtungen vollstreckt. Der
“Fall Sokrates”
gehört damit ohne Zweifel zu den skandalösesten
Justizirrtümern der
Geschichte, ist aber nur der Beginn dessen, was große Denker
aller Jahrhunderte
an Verfolgungen zu erleiden hatten.
Der
Philosoph selbst nahm das Urteil gelassen hin. Er ist, so
führte
er aus, bereits siebzig Jahre alt; bald wäre er sowieso
gestorben. Für das,
was nach dem Tod ist, gibt es aus seiner Sicht zwei
Möglichkeiten: Entweder es
ist ein Nichts, will heißen: ein langer, traumloser Schlaf -
angesichts der
Leiden im Diesseits ist dies doch gar nicht so schlecht. Oder die Seele
ist tatsächlich
unsterblich, trifft im Jenseits die Großen der Geschichte und
findet Glückseligkeit.
Die Zurückbleibenden machen vielleicht ein schlechteres
Geschäft, wenn sie
weiterleben. Auf jeden Fall ist nach Sokrates der Schaden für
Athen größer
als für ihn. Denn einerseits werden die nachfolgenden
Generationen der Stadt
das Fehlurteil vorwerfen. Andererseits ist er zwar seinen
Mitbürgern lästig
geworden, aber dies hat sie auch daran gehindert, in den trunkenen
Schlaf der
Selbstgefälligkeit und der Unwissenheit zu versinken. Man kann
Sokrates - wie
er es selbst getan hat - vielleicht mit einer Stechmücke
vergleichen, deren
Dienst an der Gemeinschaft eben darin besteht, sie durch ihr Stechen
rechtzeitig
aufzuwecken.
Bei
allen negativen Erfahrungen mit seiner Heimatstadt und bei
aller Ungerechtigkeit, die er durch diesen Justizirrtum erfuhr, blieb
Sokrates
aber dennoch ein gesetzestreuer und loyaler Bürger Athens.
Dies beweist auch
der Dialog mit seinem Freund Kriton, der ihn vor der Hinrichtung (die
aufgrund
religiöser Feiertage verschoben worden war) im
Gefängnis besuchte. Kriton bot
Sokrates an, seine Flucht aus dem Gefängnis zu organisieren -
ein Unterfangen,
das aufgrund der guten Vorbereitung und des starken Zusammenhaltes von
Sokrates’ Freunden, Schülern und Verehrern mit
großer Sicherheit erfolgreich
gewesen wäre. Sokrates lehnte die Flucht aus dem
Gefängnis allerdings aus
zahlreichen Gründen ab. Unter gewissen Bedingungen, so
argumentierte der
Philosoph sinngemäß, sind die Bürger
verpflichtet, den Gesetzen ihres Landes
zu gehorchen, auch wenn ihnen selbst daraus große Nachteile
oder sogar
Ungerechtigkeiten erwachsen. Eine Bedingung ist, dass der
Bürger das Recht hat,
in Meinungsfreiheit die Zustände in seinem Land zu
kritisieren. Dazu kommt noch
die weitaus wichtigere Bedingung, dass er jederzeit auswandern darf,
wenn er mit
den Gesetzen nicht einverstanden sein will oder kann. Ihm, Sokrates,
ist es
jederzeit möglich gewesen, seine Meinung zu
äußern und zudem stand einer
Auswanderung nie etwas im Weg; denn kein Gesetz hat ihm jemals
verboten, sich
einen anderen Wohnort zu suchen. Er ist allerdings immer mit den
Gesetzen seiner
Heimatstadt einverstanden gewesen. Daher muss er nun den Gesetzen
gehorsam sein
und auch ihre negativen Seiten (d.h. für ihn selbst
nachteiligen Seiten)
ertragen. Und so leerte er einige Tage später in Treue zu
Athen und seinen
legitimen politischen Institutionen jenen Giftbecher, der seinem Leben
ein Ende
bereitete.
In
späteren Zeiten, z.B. im autoritären Deutschland,
wurde die
Gesetzestreue des Sokrates interpretiert als Pflicht des
Bürgers, dem Staat
jederzeit und unbedingt Gehorsam zu leisten. Aber nichts ist falscher
als diese
Interpretation der sokratischen Anliegen! Zunächst bezog sich
Sokrates’ oben
skizzierte Bereitschaft zum treuen Gehorsam nur auf die Duldung von
Nachteilen für
seine eigene Person. Dass man an anderen Menschen keine Verbrechen
verüben darf
aufgrund von Befehlen der Obrigkeit hat er an anderer Stelle (in seiner
“Apologie”) klar ausgeführt. Er
erzählt darin, wie in seiner Heimatstadt
das Regime der “dreißig Tyrannen” an die
Macht gekommen war und ihn zwingen
wollte, einen unschuldigen Mann zu verhaften und hinzurichten. Sokrates
verweigerte - trotz Lebensgefahr - den entsprechenden Befehl und ging
seelenruhig nach Hause. Angeordnete Gräuel z.B. der Nazis
hätte ein Mann vom
Schlage Sokrates’ aus falsch verstandenem Gehorsam heraus
also niemals
begangen!
Eine
konsequente Anwendung des sokratischen Argumentes gegenüber
Kriton würde auch im Endeffekt zu einem Ergebnis
führen, mit dem autoritäre
Systeme niemals einverstanden sein könnten. Denn seine auf den
ersten Blick so
“braven” und “angepassten”
Aussagen (die in Wahrheit einigen Zündstoff
beinhalten) besagen ja indirekt auch, dass Staaten, welche
demokratisches
Mitspracherecht und Auswanderung verbieten, von Haus aus jegliche
Legitimitätsgrundlage
verlieren. Man muss ihren Gesetzen nicht Folge leisten, hat man sich ja
auch
niemals durch freiwilliges Bleiben damit einverstanden
erklärt, die von ihnen
auferlegten Pflichten zu übernehmen. Menschen sind keine
Werkzeuge, die der
Staat nach Belieben zu seinen Zwecken benutzen darf. Vielmehr sollen
Menschen
frei über ihre Lebensgestaltung entscheiden dürfen.
Dazu gehört auch, dass
die Entscheidung über die Zugehörigkeit zu einem
Gemeinwesen eine freie zu
sein hat. Der israelische Satiriker Ephraim Kishon, der vor der
Unfreiheit des
damals kommunistischen Ungarn nach Israel fliehen musste, bemerkte,
dass zur
Beurteilung der Qualität eines politischen Systems nur eine
Frage nötig ist:
“Darf man auswandern?” Wenn die Frage bejaht wird,
so Kishon, kann das
System nicht so schlimm sein. Wenn die Frage verneint wird, hat er
hingegen
keine weiteren Fragen mehr.
Dieses
“Kishon’sche Kriterium” der
Erträglichkeit eines
politischen Systems ist im Grunde genommen sehr sokratisch. Die
Loyalität bzw.
Zugehörigkeit zu einem Staat kann und soll genauso wenig
erzwungen werden wie
Liebe oder Heirat. Sie ist vielmehr ein Akt des freien Willens, eine
persönliche
Entscheidung, die aber bindet und Pflichten auferlegt, wenn sie
getroffen wird.
Erzwungene Entscheidungen aber sind ungültig. Ein Staat wie
z.B. die DDR ist
deswegen ein Unrechtsstaat, weil man ihn nicht verlassen darf, wenn man
es wünscht;
ein solcher Staat ist ein großes Gefängnis und seine
Gesetze haben keine höhere
moralische Stellung als die erzwungene Hausordnung eines solchen. Der
Bürger
ist nicht verpflichtet, ihnen aus Überzeugung zu folgen, wenn
er unbemerkt
gegen sie verstoßen kann; sie sind schlicht und einfach
ungültig. Erst das
Recht auf Auswanderung ist in der Lage, Freiheit zu schaffen und damit
politische Legitimität zu begründen.
Über
die bleibenden Leistungen des Sokrates ließe sich noch
vieles sagen. Während z.B. frühere Denker
über die in der Natur wirksamen Kräfte
nachgedacht hatten, stand der Mensch und seine Belange - also z.B. die
Politik
oder ethisches Handeln - im Mittelpunkt aller sokratischen
Überlegungen. Diese
Tradition sollte später auch von Immanuel Kant fortgesetzt
werden, der die
Hauptfrage der Philosophie entsprechend definierte als: “Was
ist der
Mensch?”
Der
Mensch bzw. die Menschheit ist aber nicht nur das Thema der
sokratischen Philosophie, sondern auch der Wert, dem sie sich
verpflichtet fühlt.
Man kann durchaus sagen, dass Sokrates der erste war, der sich
bemühte, eine
Philosophie der allgemeinen Menschlichkeit zu entwerfen. Dies
äußert sich u.a.
in folgenden Details: Im Dialog mit Kriton verwarf Sokrates den Einwand
seines
Gesprächspartners, dass er unbedingt zur Flucht verpflichtet
ist, weil er für
Kinder zu sorgen hat. Sokrates meinte stattdessen, dass er verpflichtet
ist,
immer das Rechte zu tun und das Unrechte zu vermeiden; Gerechtigkeit
war für
ihn offensichtlich aber keine Frage der Blutsverwandtschaft. Sokrates
war ohne
Zweifel kein Anhänger einer Moral, deren Gültigkeit
sich einzig auf
Blutsverwandte, Clanmitglieder oder Volksgenossen erstreckte.
Er bemühte sich auch, die menschliche Würde der Verachtetsten der damaligen Gesellschaft, der Sklaven, aufzuzeigen. Im Gespräch mit seinem Freund Menon ließ Sokrates einen Sklaven hinzukommen; er leitete ihn durch kritische Fragen und ließ ihn aus seinen eigenen Antworten selbstständige Schlüsse ziehen. Der völlig ungebildete Sklave war auf diese Art in der Lage, den mathematischen Beweis zu führen, dass das Quadrat über der Diagonale eines Quadrates den doppelten Flächeninhalt des ursprünglichen Quadrates besitzt (eine Modifikation des pythagoreischen Lehrsatzes). Damit wurde gezeigt, dass auch ein Sklave Vernunft besitzt und daher doch wohl ein vollwertiger Mensch sein muss. Obwohl Sokrates sich selbst nicht dazu durchrang, die Sklaverei generell zu verdammen, waren seine Gedanken dennoch der Beginn einer ganz neuen, bisher ungekannten Entwicklung. Diese reicht über den römischen Philosophen Seneca, der in seinem berühmten “Sklavenbrief” die gute Behandlung der Abhängigen fordert, bis zur “Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte” der UN-Generalversammlung, die Sklaverei als unnatürliche Unterdrückung verbietet und die Menschen für frei und gleich geborene Wesen hält, die, mit Vernunft und Gewissen begabt, einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen sollen.
© dieses Textes: Patrick Horvath, Wien, 2002.