Große Denker:

Sokrates

Vater des Abendlandes

Werner Horvath: "Sokrates". Öl auf Leinwand, 50 x 40 cm, 2002.

Am Anfang der europäischen Philosophie steht - alle vorhergehende Leistungen überragend - der Grieche Sokrates, eine faszinierende Gestalt, die das abendländische Denken maßgeblich geprägt, vielleicht sogar erst in seiner spezifischen Form begründet hat. 

Dieser Held der intellektuellen Redlichkeit und der Wahrheitssuche war in seinem bürgerlichen Leben eigentlich ein rechter Anti-Held. Als gelernter Steinmetz hatte er seinen Beruf mehr oder weniger an den Nagel gehängt; sein aus erhaltenen Büsten zu schließendes Äußeres war unansehnlich; und seine Ehe mit Xanthippe war ebenfalls nicht glücklich, woran wohl nicht einzig und allein das wirklich oder vermeintlich zänkische Wesen seiner Frau Schuld getragen haben mag, sondern auch Sokrates’ schmähliche Vernachlässigung seiner Pflichten als Vater und Ehemann. Er zog es nämlich (salopp gesagt) vor, sich als eine Art “philosophischer Sandler” in den Straßen Athens aufzuhalten und Disputationen mit allerlei Menschen über allerlei Themen zu führen, anstatt eine gleichsam “anständige” wie auch enge und kleinbürgerliche Existenz zu wählen, die aber - dies muss wiederum zu seinen Gunsten gesagt werden - sein bedeutendes Werk letztlich verunmöglicht hätte. 

Sein philosophisches Programm ist nirgends so gründlich dargelegt wie in der von Platon überlieferten “Apologie”. Es handelt sich dabei um die Verteidigungsrede des Sokrates vor dem Gericht, das ihn letztendlich zum Tode verurteilte. 

Eines Tages befragte einer seiner Freunde im Überschwang, so erzählte der Angeklagte, das Orakel von Delphi, ob denn jemand weiser ist als Sokrates. Die Priesterin des dem Apollon geweihten Orakels, das den Griechen als hohe geistliche Autorität galt, verneinte diese Frage - für Sokrates selbst überraschend. Zunächst fand er keine Erklärung für den rätselhaften Orakelspruch. Er hatte sich nämlich niemals eingebildet, großartiges oder besonderes Wissen zu besitzen. Vielmehr kann man des Sokrates bescheidene Einstellung zu seinem eigenen Wissen ungefähr in der berühmten Formel wiedergeben: “Ich weiß, dass ich nichts weiß.” Was meinte das Orakel, als es verkündet, dass er, der Nicht-Wissende, weiser ist als all die anderen begabten und kunstfertigen Menschen Athens? 

Sokrates wollte der Sache auf den Grund gehen und den Orakelspruch gleichsam “testen”. So ging er zu jenen Mitbürgern, die allgemein im Ruf standen, in irgendeiner Form begabt, kunstfertig, wissend und vielleicht sogar weise zu sein - zuerst zu den Staatsmännern, dann zu den Dichtern, zuletzt zu den Handwerkern. Er suchte das Gespräch mit ihnen, fragte sie über allerlei Themen aus und unterzog ihre Antworten einer intellektuellen Prüfung. Und er kam zu dem Ergebnis, dass ihre vermeintlichen Fähigkeiten in Wahrheit sehr dürftig waren. 

Von den Staatsmännern war er überhaupt fast gänzlich enttäuscht. Die Dichter und Handwerker hingegen beherrschten ihr Spezialgebiet insoferne gut, dass die Dichter schöne Sätze formen und die Handwerker brauchbare Sachen anfertigen konnten. Über die wirklich wichtigen Dinge - z.B. ethische Grundwahrheiten oder philosophische Fragen über Kosmos, Götter, Seele etc. - konnten sie keine brauchbaren Antworten geben. Vielmehr begegneten Sokrates viele Menschen, die sich einbildeten, gar viel über diese Dinge zu wissen, in Wirklichkeit aber nur eitlem Scheinwissen anhingen. Sokrates deutete daher nach diesen Erfahrungen den delphischen Orakelspruch folgendermaßen: Er ist deshalb der weiseste Mensch von allen, weil er zwar kein großartiges Wissen besitzt, es aber auch für sich nicht in Anspruch nimmt; die anderen wissen zwar auch nichts Rechtes, glauben aber fälschlicherweise, es zu tun. Sie verkünden lauthals ihr Scheinwissen, das sie dogmatisch als unhinterfragbare Wahrheit verkaufen und täuschen damit sich selbst und andere über ihre eigentliche Unwissenheit hinweg. Sokrates’ Weisheit besteht hingegen gerade in seiner intellektuellen Bescheidenheit. 

Wie sahen die Gespräche des Sokrates mit den scheinbar Wissenden aus? Anhand der von Platon überlieferten Dialoge können wir uns ein gutes Bild über die sokratische Methode der Gesprächsführung machen. Vor seinem Prozess traf Sokrates z.B. auf Euthyphron, der sich besonderer Frömmigkeit rühmte. Sokrates bat ihn, ihm doch zu erklären, was Frömmigkeit ist und - ohne Zweifel mit jener Ironie, für die der Philosoph berühmt war - ihn als Schüler anzunehmen. Euthyphron - begeistert von der Möglichkeit, seinen vermeintlichen Geist leuchten zu lassen - versuchte die Frömmigkeit anhand von frommen Einzelbeispielen zu definieren. 

Aber Sokrates ließ dies nicht gelten. Hier fällt das sokratische Bemühen um klare Begriffsbestimmungen auf. Zunächst, meinte Sokrates, muss doch allgemein festgelegt werden, was Frömmigkeit ist. Erst dann kann man für den Einzelfall entscheiden, ob die betreffende Handlung wirklich fromm ist oder nicht. Sokrates wird in diesem Bestehen auf die Festlegung einer allgemeinen Begrifflichkeit zum Urheber der wissenschaftlichen Definition. Erst, wenn wir festlegen, worüber wir eigentlich reden und was wir mit gewissen Worten eigentlich meinen, können Fortschritte im Diskurs erzielt werden. Es sind gerade die am häufigsten und wie selbstverständlich verwendeten Begriffe, die am dringendsten einer Klärung bedürfen. 

Euthyphron versuchte nun die Frömmigkeit zu definieren. Im Anschluss an jeden Definitionsversuch stellte Sokrates kritische Fragen. Die Antworten, die Euthyphron auf die Fragen geben musste, führten zur Erkenntnis der Unzulänglichkeit der Definition. Euthyphron nannte z.B. die Frömmigkeit das, was den Göttern gefällt. Sokrates fragte ihn, ob er denn an die vielen Götter der Griechen glaubt und an all die Erzählungen über sie, die etwa Homer gegeben hatte. Als Euthyphron dies bejahte, wies Sokrates darauf hin, dass die Götter dieser Erzählungen oftmals miteinander in Konflikt liegen und sich oft nicht darüber einigen können, was gefällt und was nicht oder welche Partei - etwa im Trojanischen Krieg - zu fördern und zu bekämpfen ist. Ohne Zweifel blitzte hier auch eine gewisse Kritik an den überkommenen griechischen Göttervorstellungen durch - wie können Götter miteinander in solchem Hader liegen? Dennoch: Die Richtigkeit dieser Erzählungen vorausgesetzt stellt sich die Frage, was denn fromm ist im Falle eines Konfliktes zwischen dem, was den einen Göttern gefällt und dem, was den anderen gefällt. Euthyphron sah sich genötigt, seine Definition zu verbessern und zu präzisieren: Fromm ist, meinte er, was allen Göttern gefällt.  

Die weiteren Fragen des Sokrates ließen ihn auch diese Definition verwerfen. Ist etwas wirklich fromm, nur weil es den Göttern gefällt? Oder ist es nicht vielmehr umgekehrt so, dass etwas den Göttern gefällt, eben gerade weil es fromm ist? Euthyphron erschien die zweite Formulierung plausibler; die erste wurde verworfen. In einem neuen Anlauf definierte er Frömmigkeit als eine Art Gerechtigkeit, nämlich als die Gerechtigkeit, die sich auf die Behandlung der Götter bezieht. Der Dienst an den Göttern besteht z.B. darin, dass man ihnen schmeichelt und opfert etc.; dies gefällt ihnen nämlich sehr, erläuterte er auf Sokrates’ Fragen hin. Sokrates wies darauf hin, dass nach dieser Definition die Frömmigkeit wiederum das ist, was den Göttern gefällt - eine Ansicht, die man doch soeben verworfen hatte. Euthyphron hatte es daraufhin plötzlich sehr eilig und suchte vor dem fragenden Philosophen das Weite. 

Das Endergebnis dieses Gespräches war auf jeden Fall, dass der Frömmler nicht wirklich wusste, was Frömmigkeit ist. Neben dem bereits erwähnten Streben nach klarer Begriffsbestimmung fällt an der sokratischen Gesprächsmethode auf, dass sie den Gesprächspartner nicht indoktrinierte, sondern sich einzig auf den “zwanglosen Zwang” der Vernunft verließ. Sokrates nahm sein Gegenüber ernst genug, um ihn für ein mit Vernunft begabtes Wesen zu halten. Er leitete sein Denken lediglich durch geschickt gestellte Fragen. Die Antworten auf diese und die aus den Antworten zu ziehenden Schlüsse überließ er stets dem anderen. 

Letztlich verfolgten die sokratischen Gespräche das Ziel, das Scheinwissen des anderen als solches zu enttarnen. Sein Gegenüber sollte im Endeffekt durch selbstständiges Denken quasi “geläutert” werden und zur Erkenntnis des eigenen Nichtwissens gelangen. Dann, auf derselben Stufe wie Sokrates, sollte das weitere gemeinsame Lernen beginnen. Das Gespräch mit Euthyphron konnte nicht zu dieser letzten Stufe geführt werden, weil der wirklich oder vermeintlich fromme Mann vor seiner Läuterung davonlief. Günstiger verlief, um ein anderes Beispiel zu bringen, das Gespräch mit Laches und Nikias, zwei kriegserfahrenen Männern, deren vermeintliches Wissen um die Tapferkeit sich gegenüber den sokratischen Fragen als unzulänglich erwies. Die beiden zeigten sich verständig und selbstkritisch; der Dialog mit ihnen führte zum Ergebnis der Verwerfung des Scheinwissens und dem Aufruf zu weiterem Bemühen auf dem Gebiet der Wahrheitssuche. 

Im Prinzip enthalten die sokratischen Dialoge jene Lehre, die ein anderer griechischer Philosoph namens Xenophanes sinngemäß so formulierte, dass niemals ein Mensch sicheres Wissen besaß, noch jemals besitzen wird. Aber im ständigen Bemühen vermögen wir das Bessere zu finden, denn wir können alte Lösungen, die sich nach kritischer Prüfung als unzulänglich erwiesen haben, verwerfen und neue Lösungen entwickeln, die zwar auch nicht perfekt sind, aber dennoch einigermaßen besser zur Realität “passen” als die alten. Das fast zweieinhalb Jahrtausende später von Karl Popper entwickelte Modell, das die Grundlage unserer heutigen Sichtweise von Wissenschaft bildet, folgt im Prinzip diesem Grundgedanken. Die sokratische Sichtweise der Wahrheit ist demnach sehr zeitgemäß. Sie ist auch wegen ihrer intellektuellen Bescheidenheit ein beeindruckendes Plädoyer der Menschlichkeit gegenüber der eitlen Anmaßung der Fanatiker und Fundamentalisten aller Zeiten, die ihre absurden Dogmen für den einzigen und unhinterfragbaren Maßstab der Wahrheit halten und aus diesem Grund Dialoge verweigern, um stattdessen Gewalt zu säen. 

Sokrates selbst wurde am Ende das Opfer der Intoleranz seiner Mitbürger und damit einer der ersten großen Denker in einer langen Reihe, die für ihre menschlichen und aufgeklärten Ideen sterben mussten. Viele hegten Hass gegen ihn, eben weil er ihr Scheinwissen als solches enttarnte, was für sie zu schmerzlich war und ihnen auch Ansehen nahm, zumindest wenn sie aus ihrem vermeintlichen Wissen eine bevorzugte Stellung in der Gemeinschaft ableiteten. Sokrates wurde letztlich vor Gericht wegen seiner Ansichten angeklagt und verlor den Prozess auch darum, weil er nicht bereit war, sich jenen Athener Gepflogenheiten vor Gericht zu unterwerfen, die stark an die heutigen  Verhältnisse der U.S.-amerikanischen Unterhaltungsgesellschaft erinnern: Vom Angeklagten wurde erwartet, dass er schauspielerte, brillante Reden hielt, klagte und weinte, den Geschworenen schmeichelte, an die Gefühle des Publikums zu appellierte etc. 

Sokrates hingegen liebte nichts so sehr wie die menschliche Vernunft und die aufrichtige, bescheidene, ungekünstelte Rede. Mit intellektuell überzeugenden Argumenten legte er in seiner Verteidigungsrede, der oben erwähnten “Apologie”, seine Unschuld dar. Aber er verzichtete z.B. darauf, dem Gericht seine weinenden Kinder vorzuführen, derer er eigentlich drei besaß, oder unwürdig um eine milde Strafe zu bitten, wo er sich keiner Schuld bewusst war. Dieses Verhalten war - rein strategisch gedacht - einigermaßen unklug. Aber es war eine konsequente Umsetzung seines aufklärerischen philosophischen Programmes, für das er einstand und das er nicht verraten wollte. 

Sokrates konnte so zwar erweisen, dass die Anklage gegen ihn unhaltbar war. So wurde er z.B. des Atheismus bezichtigt, während ihm gleichzeitig vorgeworfen wurde, neue Götter einführen zu wollen, was ja nicht sein kann: Man kann nicht gut an gar keine Götter glauben und gleichzeitig an andere als an die alten. Außerdem beruhte die Anklage auf einem Missverständnis: Sokrates hatte zuvor oft erklärt, in regelmäßigen Abständen vom “Dämonischen” heimgesucht zu werden. Dieses “Dämonische” war aber keine neue Gottheit, die er einzuführen gedachte, sondern eine Art innere Stimme, das überaus starke Gewissen des Philosophen, das ihm von moralisch schlechten Handlungen abriet. Auch der Vorwurf, dass er die Jugend verdirbt, erwies sich angesichts der treuen und liebevollen Anhängerschaft seiner Schüler sowie der positiven Meinung ihrer reiferen Angehörigen als haltlos. Dennoch fiel das Urteil letztlich negativ gegen ihn aus, weckte er doch durch sein ungewöhnliches Auftreten nicht genügend Sympathien; und er wurde im Jahre 399 v.Chr. dazu verurteilt, den Schierlingsbecher zu leeren - mit dem aus der Schierlingspflanze gewonnenen Gift wurden damals Hinrichtungen vollstreckt. Der “Fall Sokrates” gehört damit ohne Zweifel zu den skandalösesten Justizirrtümern der Geschichte, ist aber nur der Beginn dessen, was große Denker aller Jahrhunderte an Verfolgungen zu erleiden hatten. 

Der Philosoph selbst nahm das Urteil gelassen hin. Er ist, so führte er aus, bereits siebzig Jahre alt; bald wäre er sowieso gestorben. Für das, was nach dem Tod ist, gibt es aus seiner Sicht zwei Möglichkeiten: Entweder es ist ein Nichts, will heißen: ein langer, traumloser Schlaf - angesichts der Leiden im Diesseits ist dies doch gar nicht so schlecht. Oder die Seele ist tatsächlich unsterblich, trifft im Jenseits die Großen der Geschichte und findet Glückseligkeit. Die Zurückbleibenden machen vielleicht ein schlechteres Geschäft, wenn sie weiterleben. Auf jeden Fall ist nach Sokrates der Schaden für Athen größer als für ihn. Denn einerseits werden die nachfolgenden Generationen der Stadt das Fehlurteil vorwerfen. Andererseits ist er zwar seinen Mitbürgern lästig geworden, aber dies hat sie auch daran gehindert, in den trunkenen Schlaf der Selbstgefälligkeit und der Unwissenheit zu versinken. Man kann Sokrates - wie er es selbst getan hat - vielleicht mit einer Stechmücke vergleichen, deren Dienst an der Gemeinschaft eben darin besteht, sie durch ihr Stechen rechtzeitig aufzuwecken. 

Bei allen negativen Erfahrungen mit seiner Heimatstadt und bei aller Ungerechtigkeit, die er durch diesen Justizirrtum erfuhr, blieb Sokrates aber dennoch ein gesetzestreuer und loyaler Bürger Athens. Dies beweist auch der Dialog mit seinem Freund Kriton, der ihn vor der Hinrichtung (die aufgrund religiöser Feiertage verschoben worden war) im Gefängnis besuchte. Kriton bot Sokrates an, seine Flucht aus dem Gefängnis zu organisieren - ein Unterfangen, das aufgrund der guten Vorbereitung und des starken Zusammenhaltes von Sokrates’ Freunden, Schülern und Verehrern mit großer Sicherheit erfolgreich gewesen wäre. Sokrates lehnte die Flucht aus dem Gefängnis allerdings aus zahlreichen Gründen ab. Unter gewissen Bedingungen, so argumentierte der Philosoph sinngemäß, sind die Bürger verpflichtet, den Gesetzen ihres Landes zu gehorchen, auch wenn ihnen selbst daraus große Nachteile oder sogar Ungerechtigkeiten erwachsen. Eine Bedingung ist, dass der Bürger das Recht hat, in Meinungsfreiheit die Zustände in seinem Land zu kritisieren. Dazu kommt noch die weitaus wichtigere Bedingung, dass er jederzeit auswandern darf, wenn er mit den Gesetzen nicht einverstanden sein will oder kann. Ihm, Sokrates, ist es jederzeit möglich gewesen, seine Meinung zu äußern und zudem stand einer Auswanderung nie etwas im Weg; denn kein Gesetz hat ihm jemals verboten, sich einen anderen Wohnort zu suchen. Er ist allerdings immer mit den Gesetzen seiner Heimatstadt einverstanden gewesen. Daher muss er nun den Gesetzen gehorsam sein und auch ihre negativen Seiten (d.h. für ihn selbst nachteiligen Seiten) ertragen. Und so leerte er einige Tage später in Treue zu Athen und seinen legitimen politischen Institutionen jenen Giftbecher, der seinem Leben ein Ende bereitete. 

In späteren Zeiten, z.B. im autoritären Deutschland, wurde die Gesetzestreue des Sokrates interpretiert als Pflicht des Bürgers, dem Staat jederzeit und unbedingt Gehorsam zu leisten. Aber nichts ist falscher als diese Interpretation der sokratischen Anliegen! Zunächst bezog sich Sokrates’ oben skizzierte Bereitschaft zum treuen Gehorsam nur auf die Duldung von Nachteilen für seine eigene Person. Dass man an anderen Menschen keine Verbrechen verüben darf aufgrund von Befehlen der Obrigkeit hat er an anderer Stelle (in seiner “Apologie”) klar ausgeführt. Er erzählt darin, wie in seiner Heimatstadt das Regime der “dreißig Tyrannen” an die Macht gekommen war und ihn zwingen wollte, einen unschuldigen Mann zu verhaften und hinzurichten. Sokrates verweigerte - trotz Lebensgefahr - den entsprechenden Befehl und ging seelenruhig nach Hause. Angeordnete Gräuel z.B. der Nazis hätte ein Mann vom Schlage Sokrates’ aus falsch verstandenem Gehorsam heraus also niemals begangen! 

Eine konsequente Anwendung des sokratischen Argumentes gegenüber Kriton würde auch im Endeffekt zu einem Ergebnis führen, mit dem autoritäre Systeme niemals einverstanden sein könnten. Denn seine auf den ersten Blick so “braven” und “angepassten” Aussagen (die in Wahrheit einigen Zündstoff beinhalten) besagen ja indirekt auch, dass Staaten, welche demokratisches Mitspracherecht und Auswanderung verbieten, von Haus aus jegliche Legitimitätsgrundlage verlieren. Man muss ihren Gesetzen nicht Folge leisten, hat man sich ja auch niemals durch freiwilliges Bleiben damit einverstanden erklärt, die von ihnen auferlegten Pflichten zu übernehmen. Menschen sind keine Werkzeuge, die der Staat nach Belieben zu seinen Zwecken benutzen darf. Vielmehr sollen Menschen frei über ihre Lebensgestaltung entscheiden dürfen. Dazu gehört auch, dass die Entscheidung über die Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen eine freie zu sein hat. Der israelische Satiriker Ephraim Kishon, der vor der Unfreiheit des damals kommunistischen Ungarn nach Israel fliehen musste, bemerkte, dass zur Beurteilung der Qualität eines politischen Systems nur eine Frage nötig ist: “Darf man auswandern?” Wenn die Frage bejaht wird, so Kishon, kann das System nicht so schlimm sein. Wenn die Frage verneint wird, hat er hingegen keine weiteren Fragen mehr. 

Dieses “Kishon’sche Kriterium” der Erträglichkeit eines politischen Systems ist im Grunde genommen sehr sokratisch. Die Loyalität bzw. Zugehörigkeit zu einem Staat kann und soll genauso wenig erzwungen werden wie Liebe oder Heirat. Sie ist vielmehr ein Akt des freien Willens, eine persönliche Entscheidung, die aber bindet und Pflichten auferlegt, wenn sie getroffen wird. Erzwungene Entscheidungen aber sind ungültig. Ein Staat wie z.B. die DDR ist deswegen ein Unrechtsstaat, weil man ihn nicht verlassen darf, wenn man es wünscht; ein solcher Staat ist ein großes Gefängnis und seine Gesetze haben keine höhere moralische Stellung als die erzwungene Hausordnung eines solchen. Der Bürger ist nicht verpflichtet, ihnen aus Überzeugung zu folgen, wenn er unbemerkt gegen sie verstoßen kann; sie sind schlicht und einfach ungültig. Erst das Recht auf Auswanderung ist in der Lage, Freiheit zu schaffen und damit politische Legitimität zu begründen. 

Über die bleibenden Leistungen des Sokrates ließe sich noch vieles sagen. Während z.B. frühere Denker über die in der Natur wirksamen Kräfte nachgedacht hatten, stand der Mensch und seine Belange - also z.B. die Politik oder ethisches Handeln - im Mittelpunkt aller sokratischen Überlegungen. Diese Tradition sollte später auch von Immanuel Kant fortgesetzt werden, der die Hauptfrage der Philosophie entsprechend definierte als: “Was ist der Mensch?” 

Der Mensch bzw. die Menschheit ist aber nicht nur das Thema der sokratischen Philosophie, sondern auch der Wert, dem sie sich verpflichtet fühlt. Man kann durchaus sagen, dass Sokrates der erste war, der sich bemühte, eine Philosophie der allgemeinen Menschlichkeit zu entwerfen. Dies äußert sich u.a. in folgenden Details: Im Dialog mit Kriton verwarf Sokrates den Einwand seines Gesprächspartners, dass er unbedingt zur Flucht verpflichtet ist, weil er für Kinder zu sorgen hat. Sokrates meinte stattdessen, dass er verpflichtet ist, immer das Rechte zu tun und das Unrechte zu vermeiden; Gerechtigkeit war für ihn offensichtlich aber keine Frage der Blutsverwandtschaft. Sokrates war ohne Zweifel kein Anhänger einer Moral, deren Gültigkeit sich einzig auf Blutsverwandte, Clanmitglieder oder Volksgenossen erstreckte. 

Er bemühte sich auch, die menschliche Würde der Verachtetsten der damaligen Gesellschaft, der Sklaven, aufzuzeigen. Im Gespräch mit seinem Freund Menon ließ Sokrates einen Sklaven hinzukommen; er leitete ihn durch kritische Fragen und ließ ihn aus seinen eigenen Antworten selbstständige Schlüsse ziehen. Der völlig ungebildete Sklave war auf diese Art in der Lage, den mathematischen Beweis zu führen, dass das Quadrat über der Diagonale eines Quadrates den doppelten Flächeninhalt des ursprünglichen Quadrates besitzt (eine Modifikation des pythagoreischen Lehrsatzes). Damit wurde gezeigt, dass auch ein Sklave Vernunft besitzt und daher doch wohl ein vollwertiger Mensch sein muss. Obwohl Sokrates sich selbst nicht dazu durchrang, die Sklaverei generell zu verdammen, waren seine Gedanken dennoch der Beginn einer ganz neuen, bisher ungekannten Entwicklung. Diese reicht über den römischen Philosophen Seneca, der in seinem berühmten “Sklavenbrief” die gute Behandlung der Abhängigen fordert, bis zur “Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte” der UN-Generalversammlung, die Sklaverei als unnatürliche Unterdrückung verbietet und die Menschen für frei und gleich geborene Wesen hält, die, mit Vernunft und Gewissen begabt, einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen sollen.

© dieses Textes: Patrick Horvath, Wien, 2002.

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