Große Denker:

Arthur Schopenhauer

Philosoph des Willens

Werner Horvath: "Arthur Schopenhauer". Buntstifte auf Papier, 30 x 30 cm, 1999.

Im Zentrum von Schopenhauers Werk steht seine Überzeugung von der Existenz einer unpersönlichen, aber gewaltigen Kraft, die das gesamte Universum durchwaltet, ja sogar hervorgebracht hat, und gleichzeitig - halb bewusst, halb unbewusst - im tiefsten Inneren unserer menschlichen Psyche zu finden ist. Diese ominöse Kraft kann man mit folgenden Attributen charakterisieren: Sie ist unbezwingbar mächtig, dazu grausam und zutiefst unvernünftig; sie ist ein ständiges Drängen, sie ist triebhaft und wesensmäßig eine unersättliche und zutiefst sinnlose, weil niemals auch nur entfernt zufriedengestellte Gier. 

Wie wird die Existenz dieses wirklichen oder angeblichen Urgrundes, auf dem  das Universum ruhen soll, bewiesen? Im ganz strengen Sinne erfolgt dieser Beweis nicht. Aber es sind hauptsächlich zwei Argumente, welche die Existenz desselben dem Leser plausibel machen sollen. 

Einerseits fordert Schopenhauer einen Blick bzw. ein Hineinfühlen in das eigene Innere (vgl. Welt als Wille und Vorstellung §18). Dort, am Grund unserer Seele, sollen wir eine solche wilde Triebhaftigkeit entdecken können, die unseren eigentlichen Wesenskern ausmacht; dieser ist, so der Philosoph, jedem unmittelbar bekannt und von ihm erfühlbar. Diese drängende, gierige, unersättliche Triebenergie in uns bezeichnet Schopenhauer als “Wille”. 

Andererseits vermeint er denselben in unserem Inneren unmittelbar erkannten Trieb auch als universales, in der Natur wirkendes Prinzip zu finden. Man kann sich an dieser Stelle natürlich fragen, ob er bei diesem Gedankenschritt nichts anderes tut, als die eigene gefühlte Triebhaftigkeit quasi “nach außen” zu projizieren. Wie dem auch sei, Schopenhauer schildert auf jeden Fall mit den grellsten Worten die Brutalität, den Kampf, die Grausamkeit und das ständige unbefriedigte Streben in der Natur; er führt dem Leser z.B. Insektenarten vor Augen, die ihre Eier in die Larven anderer Arten einpflanzen und ihre Brut das arme Opfer von innen zerfressen lassen. Oder er spricht vom jungen Armpolypen, der als Zweig aus einem alten emporwächst und sich später von diesem abtrennt; noch an seinem Stammvater festsitzendend kämpft er mit diesem heftig um jeden Brocken Nahrung. Dann landet der Philosoph bei der Beschreibung von Bäumen, die von parasitären Weinreben umschlungen, ausgesaugt und stranguliert werden und beklagt schließlich sogar das sinnlose Verdammtsein der Planeten zum “Streben vorwärts in den unendlichen Raum, ohne Ziel und Rast” (Welt als Wille und Vorstellung §27). Von einer solchen Naturbetrachtung handelt auch sein Nebenwerk “Über den Willen in der Natur”. Und es ist eben besagter “Wille”, auf dessen Wirken als alles durchwaltendes Weltprinzip Schopenhauer den brutalen Kampf und das sinnlose Streben in der Natur zurückführt. 

Das auf einem solchen wahrhaft bösartigen Urgrund beruhende Universum ist entsprechend nach Schopenhauer kein sehr angenehmer und friedlicher Platz zum Leben. Vielmehr ist besagtes Drängen die Ursache von Leid und Qual bzw. von Fressen und Gefressenwerden. Entsprechend dieser Ansicht gilt Schopenhauer als Vertreter eines philosophischen Pessimismus. Die Welt ist aus seiner Sicht eine große Folterkammer, eine Art Hölle; ihr “Brennstoff” ist der sowohl in unserer Psyche, als auch in der Natur wirkende “Wille”. 

Auch die Menschen werden vom gierigen “Willen” getrieben. Dieser äußert sich auf verschiedene Arten. Hunger, Durst, Geschlechtstrieb, Ehrgeiz sind z.B. seine Ausflüsse, die uns durch die Welt hetzen lassen. Wie in einer Tretmühle müssen wir schuften, um all diese Begehren zu befriedigen. Doch der “Wille” ist in Wahrheit unersättlich. Kaum haben wir den einen Trieb befriedigt, regt sich schon der neue; und die Befriedigung jedes Triebes hält nur für kurze Zeit an. 

Schopenhauers Sichtweise war in etwa die: Wir arbeiten, um genug zum Essen zu haben; kurz sind wir satt, viel zu bald aber quält uns der Hunger erneut. Oder wir mühen uns ab, eine Frau zu erobern; monate- bis jahrelanges Werben wird mit wenigen Minuten Geschlechtsverkehr “entlohnt”, der wiederum jahrzehntelange, mühevolle Sorge für Kinder nach sich zieht und - ganz schlimm! - womöglich auch noch in einer Ehe endet, welche (mit den Worten des vom Zusammenleben mit Frauen nicht gerade begeisterten und natürlich eine rein männliche Perspektive einnehmenden philosophischen Griesgrams) unsere “Rechte halbiert” und unsere “Pflichten verdoppelt”. Oder wir streben nach der erfolgreichen Bewältigung einer Aufgabe, also z.B. eines Studiums, eines beruflichen Projektes etc.; bei Gelingen sind wir nach jahrelanger, harter Arbeit für wenige Tage glücklich, dann regt sich wieder Unzufriedenheit. Neues Streben und die ganze Schufterei beginnt von vorne. Das soll der Lohn sein für unsere Mühen? Das Leben, so spricht der Kaufmannssohn Schopenhauer, ist ein Geschäft, das die Kosten nicht deckt. Wir streben, leiden und plagen uns; für diese “Investition” an Leid bekommen wir aber keine angemessene Entschädigung; für ein Zentner Leiden gibt es stattdessen nur ein Gramm Glück, das nur allzu schnell verfliegt. Aber wie entkommt man aus diesem nichtigen und elenden Dasein? Die Triebe sprechen unaufhörlich; und sollte einmal wirklich der seltene Zeitpunkt kommen, da uns die Not des ewig unbefriedigten Strebens einmal loslässt, werden wir von unerträglicher Langeweile gepackt, die uns erneut zwingt, irgendeinem eitlen Ziel nachzujagen. 

Dies alles schickt uns der “Wille”, der als allmächtiges Urprinzip uns Menschen und dieses ganze absurde, hinfällige, leidende Universum geschaffen hat als - um das obige Beispiel nochmals zu verwenden - eine Art Tretmühle, in der sich alles für die Befriedigung seiner unendlichen, unersättlichen, ewigen Gier abmühen muss. Uns, seinen Sklaven, hat er für dieses Ziel eine schreckliche Existenz zugedacht, aus der wir im eigenen Interesse irgendwie entfliehen müssen. 

Aber wie? Das ist nicht so einfach. Naheliegend wäre der Selbstmord. Tatsächlich bezeichnet Schopenhauer die meisten Argumente gegen den Selbstmord als “seicht”. Für die meisten Menschen ist der Weg des Selbstmordes aber schon allein deshalb nicht gangbar, weil der “Wille” uns vor dieser Lösung mit großer Macht zurückhält, z.B. durch einen mächtigen Überlebenstrieb und die damit zusammenhängende Angst vor dem Tod. Damit kettet er uns an dieses entsetzliche und eigentlich nicht lebenswerte Dasein. Die meisten Argumente gegen den Selbstmord sind für Schopenhauer Ausdruck dieser versteckten Lebensgier und nicht zuletzt aus diesem Grund so intellektuell dürftig. Es gibt seiner Ansicht nach aber nur ein “wahres” Argument, das wirklich gegen den Selbstmord spricht: Wenn ein Lebewesen stirbt, bringt der gierige “Wille” sogleich ein anderes hervor, das seinen Platz einnimmt, einen neuen leidenden Sklaven; dieser ist als eine Art “Wiedergeburt” des Toten erneut in diese Folterbank eingespannt. Es muss aber einen anderen, tiefgreifenderen Weg geben; einen, der diese Welttragödie ganz beendet und so etwas wie Erlösung aus diesem Jammertal bringt. 

Im dritten und vierten Buch seines Hauptwerkes “Die Welt als Wille und Vorstellung” zeigt Schopenhauer sogar zwei Wege dazu - einen ästhetischen und einen ethischen. Zunächst zum ersteren: Der Kunst spricht Schopenhauer die Fähigkeit zu, den Menschen von seinen Trieben kurzzeitig abzulenken. In seltenen Momenten der Verzückung über das “Schöne”, so Schopenhauer, treten alle Triebe in den Hintergrund, werden vergessen, durch Kunstbetrachtung quasi eingeschläfert. Auch das “Erhabene” - ein Begriff aus der Kant’schen Kunsttheorie, der gewaltige Eindrücke wie tosende Wasserfälle, gigantische Klippen, riesige Berge bezeichnet - hat eine ähnliche Wirkung; es reißt das Subjekt vom “Willen” los und befreit es auf diese Weise. Für kurze Zeit denken wir dann nicht mehr an alles, was wir im Alltag noch zu verrichten haben, sondern sind vollauf mit der Betrachtung beschäftigt. Wir sind “schauendes Weltauge”. Aber wehe! Echter Kunstgenuss hält nur wenige Momente an, bald werden sich die Triebe wieder regen und uns unerbittlich in ihre Knechtschaft zwingen. Die Erlösung durch die Kunst ist also nur eine vorübergehende. 

Der zweite Weg ist der einzig dauerhafte. Es ist der ethische Weg des Asketen. Dieser hat die Nichtigkeit des Daseins, das Leiden der Welt, die Bösartigkeit des “Willens” zumindest intuitiv erkannt. Er verneint ihn daher konsequent, er bekämpft ihn, er tötet ihn im langen Ringen in seiner eigenen Person ab. 

“Da er den in seiner Person erscheinenden Willen selbst verneint, wird er nicht widerstreben, wenn ein anderer (...) ihm Unrecht zufügt: darum ist ihm jedes von außen, durch Zufall oder fremde Bosheit auf ihn kommendes Leiden willkommen, jeder Schaden, jede Schmach, jede Beleidigung: er empfängt sie freudig als die Gelegenheit, sich selber die Gewissheit zu geben, dass er den Willen nicht mehr bejaht, sondern freudig die Partei jedes Feindes der Willenserscheinung, die seine eigene Person ist, ergreift. Er erträgt daher solche Schmach und Leiden mit unerschütterlicher Geduld und Sanftmut, vergilt das Böse (...) mit Gutem und lässt das Feuer des Zornes so wenig als die Begierde je wieder in sich erwachen.” Und weiter: “So greift er zum Fasten, ja er greift zur Kasteiung und Selbstpeinigung, um durch stetes Entbehren und Leiden den Willen mehr und mehr zu brechen und zu töten, den er als die Quelle des eigenen und der Welt leidenden Daseins erkennt und verabscheut. - Kommt endlich der Tod, der diese Erscheinung des Willens auflöst, dessen Wesen hier (...) abgestorben war; so ist er, als ersehnte Erlösung, hoch willkommen und er wird freudig empfangen.” (Welt als Wille und Vorstellung §68) 

Nach einem langen Prozess einer solchen selbstquälerischen Askese wird der so das Leben Verneinende endlich ins “Nichts” eingehen; er wird dort, so verheißt uns Schopenhauer, Befreiung und süße Erlösung finden, die endgültige Ruhe vor Trieb und Qual mit sich bringt, nämlich ewigen Frieden in Form eines unendlichen, traumlosen Schlafes. 

Alleine in letzterer Konzeption sind außereuropäische Einflüsse unschwer zu erkennen, z.B. das “Nirvana” des Buddhismus; von dieser Religion spricht  Schopenhauer oft und immer mit höchster Anerkennung. Das Christentum wird von ihm hingegen eher kritisiert. Zwar lobt er manche christliche Heilige, die auch, wie er es als Ideal empfand, das Leben asketisch verneint haben. Aber die Idee eines persönlichen, allmächtigen und gleichsam allgütigen Weltschöpfers erscheint ihm ungereimt - genauso wie die Weltreligion des Buddhismus ist Schopenhauer atheistisch eingestellt. Dass ein allgütiger und zugleich allmächtiger Gott eine solch leidende Welt hervorgebracht hätte, ist für ihn unplausibel. Warum lässt ein solches Wesen z.B. zu, dass Millionen Kinder in Afrika jämmerlich verhungern? Allgütig wie er ist, wird er ihr Leid nicht wollen; allmächtig wie er ist, könnte er sie jederzeit satt machen. Warum tut er es dann nicht? Schopenhauer ist gewiss, dass dieses uralte Problem der Rechtfertigung Gottes vor dem Leiden in der Welt (auch unter dem Namen “Theodizee” bekannt) philosophisch nicht lösbar ist, sondern als unerklärter “Rest” dieser Weltanschauung stehen bleibt - wie bei einer nicht aufgehenden Division, deren Ansatz daher falsch ist (Fragmente zur Geschichte der Philosophie §12). Man kann höchstens versuchen, den “Rest” zu verschleiern, indem man z.B. sagt: “Gottes Wege sind eben unergründlich”, was wenig mehr heißt als “Denk nicht darüber nach”. Für einen großen Denker ist es aber unbefriedigend, wenn er seiner liebsten Beschäftigung nicht mehr nachgehen darf. Dies hat wohl auch Kant so gesehen und zu seiner Schrift “Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee” veranlasst. 

Auch das Streben nach ewigem individuellen Leben ist für Schopenhauer wenig mehr als ein ins Jenseits projizierte Überlebenstrieb (vgl. Parerga und Paralipomena II, §141). Dass das Christentum die höchste jemals erreichte Moral sein soll, weist er auch zurück; der Höllenglaube, der besagt, dass endliche Vergehen mit unendlichen Qualen bestraft werden, ist z.B. empörend ungerecht, weil unverhältnismäßig. Die Idee der Seelenwanderung, in fernöstlichen Religionen sehr verbreitet, ist nach Schopenhauer besser geeignet, ein religiöses System von Lohn und Strafe zu begründen. (ebd. §177). Zuletzt beklagt er u.a. den Umstand, dass der Schutz der Tiere im Christentum keinen ausreichenden Platz findet. Er findet es z.B. empörend, wenn christlich motivierte Philosophen die Tiere als bloße seelenlose Dinge betrachten, mit denen man alles tun darf. Schopenhauer sieht demgegenüber vieles, was Mensch und Tier miteinander gemeinsam haben und verbindet; zudem meint er: “Mitleid mit Tieren hängt mit der Güte des Charakters so genau zusammen, dass man zuversichtlich behaupten darf, wer gegen Tiere grausam ist, könne kein guter Mensch sein.” (Grundlage der Moral §19). Eine wahre Moral, hier ist Schopenhauer gewiss, muss also den Tieren eine bessere Stellung einräumen als das Christentum dies in der Regel tut. Wie aber soll eine solche Moral aussehen? 

“Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer”, ist einer der bekannten Leitsätze der Schopenhauer’schen Ethik. Die meisten Philosophen vor ihm haben sich seiner Ansicht nach vor allem auf das erstere verstanden, auf das Predigen von Moral. Sie verließen sich eher auf autoritäres Auftreten, verbunden mit dem Aushecken erkünstelter, komplizierter, abstrakter, spitzfindiger, schwer verständlicher Vernunftsprinzipien, die oft in der Praxis unanwendbar sind und auch von niemandem tatsächlich angewendet werden. Dabei wären die Grundlagen der Moral - weil sie Schopenhauer zufolge gefühlt werden - viel einfacher, viel naheliegender, viel unmittelbar bekannter, wenn man sie nur zur Geltung kommen ließe: “Die Ethik ist in Wahrheit die leichteste aller Wissenschaften...”, schreibt er in der “Grundlage der Moral” §18. Gerade das vor der Nase Liegende wird aber oft übersehen. 

Schopenhauer selbst hält den puren Egoismus für den zunächst übermächtigen Antrieb in allen lebenden Wesen. Er entspringt aus der oben beschriebenen Triebhaftigkeit des “Willens”, der in allem wirkt. 

“Dieser Egoismus ist, im Tiere wie im Menschen, mit dem innersten Kern und Wesen desselben aufs genaueste verknüpft, ja eigentlich identisch. (...) Der Egoismus ist, seiner Natur nach, grenzenlos: der Mensch will unbedingt sein Dasein erhalten, will es von Schmerzen, zu denen auch aller Mangel und Entbehrung gehört, unbedingt frei, will die größtmögliche Summe von Wohlsein und will jeden Genuss, zu dem er fähig ist (...) Alles, was sich dem Streben seines Egoismus entgegenstellt, erregt seinen Unwillen, Zorn, Hass; er wird es als seinen Feind zu vernichten suchen. Er will, wo möglich, alles genießen, alles haben; da aber dies unmöglich ist, wenigstens alles beherrschen. ‘Alles für mich, nichts für die anderen’, ist sein Wahlspruch. Der Egoismus ist kolossal: er überragt die Welt. Denn, wenn jedem Einzelwesen die Wahl gegeben würde zwischen seiner eigenen und der übrigen Welt Vernichtung; so brauche ich nicht zu sagen, wohin sie, bei den allermeisten, ausschlagen würde.” (Grundlage der Moral §14) 

Der Egoismus ist für Schopenhauer die hauptsächlichste antimoralische Triebfeder im Menschen. Er führt uns dazu, unser eigenes Wohl über alle Rücksichten auf andere zu setzen und bringt uns dazu, unseren Mitmenschen die schlimmsten, himmelschreienden Ungerechtigkeiten anzutun, nur um die kleinsten Vorteile zu erlangen: “mancher Mensch wäre imstande, einen anderen totzuschlagen, bloß um mit dessen Fette sich die Stiefel zu schmieren.” 

Gibt es dennoch eine Chance für ein solidarisches Miteinander, eine kleine Hoffnung für die Moral angesichts der übermächtigen Gewalt des egoistischen “Willens”, der die Welt beherrscht, durchdringt, überragt? 

Schopenhauer, der düstere Denker, der aber dann doch nicht alles verloren geben will, bejaht diese Frage trotz allem. Der Mensch, meint er, ist unter Umständen auch zu so etwas fähig wie echtem, ungekünsteltem Mitleid, zu spontaner Teilnahme am Leid des anderen und dem aufrichtigen Wunsch, es zu beenden. Dieses Mitleid ist ein “ethisches Urphänomen” und das “große Mysterium der Ethik”, das bei seinem Auftreten geeignet ist, die ansonsten so unverrückbare Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich für kurze Zeit einzureißen (normalerweise lebt man nur in seiner eigenen Welt, inmitten seiner eigenen Gedanken und Gefühle, die man unmittelbar kennt, während das Innere der anderen verborgen bleibt). Mitleid ist die Grundlage der Moral; aus ihm entspringen uneigennützige d.h. gute Taten. Es ist die antiegoistische Kraft in uns. Durch dieses Gefühl können zulässige ethische Regeln ihre Absicherung finden - wie z.B. “Schade niemandem; sondern hilf allen, so gut du kannst” oder “Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu”. 

Die Praxis des Mitleids kann allemal durch die theoretische Erkenntnis befördert und gestärkt werden, dass es ein Prinzip gibt, das in allen Lebewesen wirkt und alles mit allem verbindet. Der Egoist sieht eine riesige Kluft, einen mächtigen Unterschied zwischen sich und den anderen Lebewesen; für den guten Menschen ist der Unterschied gar nicht so groß. Vielmehr sieht er in den anderen kein Nicht-Ich, sondern ein “Ich noch einmal”. Er erkennt seinen “Willen” in dem “Willen” des anderen wieder und begreift beide als verbunden, als wesensgleich, als größere Einheit d.h. als Ausdruck derselben und alles durchwaltenden Macht. 

So kann die Erkenntnis des “Willens”, der eigentlichen Quelle allen Übels, auch zur Begründung des guten Lebens verwendet werden. Die Triebe eines Menschen schreien nach Befriedigung; er folgt ihnen und verfährt dabei ohne Gnade, unmoralisch und rücksichtslos; aber wenn dieser Getriebene erkennt, dass auch der andere hungert, dürstet, friert, überhaupt ewig sinnlos begehrt und eben dadurch leidet, findet er eine verbindende Gemeinsamkeit, die ihn vielleicht insgesamt rücksichtsvoller machen kann. 

Wenig rücksichtsvoll verfuhr Schopenhauer in seinen Schriften mit seinem Intimfeind, dem Philosophen Hegel. Es kann nicht Aufgabe dieser kleinen Arbeit  sein, die Schopenhauer’sche Hegelkritik bis ins letzte Detail darzustellen. Sie war zudem bis zu einem gewissen Grad persönlich motiviert, wovon zeugt, dass sie sehr emotional und verbunden mit zahlreichen wüsten Beschimpfungen geäußert wurde (“...der Unsinnsschmierer und Kopfverderber Hegel...”). Dennoch steckt in ihr ein argumentativer Kern, eine inhaltliche Kontroverse, die sich um bestimmte Werte dreht, die Schopenhauer in der philosophischen Fachwelt und überall sonst einfordert; sie sind ein unverzichtbarer Teil seiner Existenz als Denker und daher hier unbedingt anzuführen. 

Schopenhauer verwendet eine Sprache, die nach seinem Ideal so sein soll “wie ein Schweizer Bergsee” - klar und dennoch tief; d.h. hochstehende Inhalte sollen auf verständliche Art und Weise dargelegt werden. Hegel hingegen wirft er vor, dunkle und unklare Worte zu verwenden, die er auf bizarre Art zusammenfügt, ohne wesentliche Rücksicht auf den Leser. “Und doch ist nichts leichter, als so zu schreiben, dass kein Mensch es versteht; wie hingegen nichts schwerer, als bedeutende Gedanken so auszudrücken, dass jeder sie verstehen muss”, schreibt er beispielsweise; bekannt ist auch seine Bemerkung: “Der Stil ist die Physiognomie des Geistes”. Weil Denken und Schreibstil für ihn so eng zusammenhängen, fordert er klare Worte, die ein klares Denken einerseits beweisen, andererseits ermöglichen. (vgl. Parerga und Paralipomena II, §282f.). 

Hinter Hegels dunkler Sprache treten sodann Ansichten hervor, die nicht akzeptiert werden können. Dazu gehören nach Schopenhauers Meinung zügellose metaphysische Spekulationen, die oft unbeweisbar und gewagt sind und - trotz ihres Anspruches, in einer von Kant begründeten Tradition zu stehen - in Wahrheit eine Absage an dessen methodische Strenge darstellen. Aber auch die praktischen Ergebnisse sind unbefriedigend z.B. auf dem Feld der Politik und Rechtslehre. Der von Preußen begeisterte Hegel verherrlicht etwa den Staat als die “Wirkung der sittlichen Idee” und fordert vom Einzelnen fast völlige Aufopferung. Russel beschreibt dies so (Denker des Abendlandes, S.361): 

“Hier stehen Hegelianismus und Lockes Liberalismus einander diametral gegenüber. Für Hegel ist der Staat an sich gut, und die Bürger als solche zählen nicht, sondern nur als Diener der Herrlichkeit des Ganzen. Der Liberalismus geht vom anderen Ende aus und betrachtet den Staat als dienendes Mittel zum Besten der Bürger. Der idealistische Standpunkt erzeugt Intoleranz, Rücksichtslosigkeit, Tyrannei. Die liberale Auffassung hingegen fördert Toleranz, Rücksicht, Kompromiss.” 

Schopenhauer steht letzterer Auffassung nahe. Aus seiner Sicht stoßen die egoistischen “Willen” der Menschen ständig zusammen; Rechte werden so eingeschränkt und verletzt - ein “Krieg aller gegen alle” entsteht, eine Hobbes’sche Vorstellung, die Schopenhauer übernimmt. Für den pragmatischen Zweck, die Menschen vor den egoistischen Übergriffen des jeweils anderen zu schützen, wird der Staat geschaffen; er ist also ein Instrument für die Sicherheit der Menschen, die Hauptzweck der Politik sind und bleiben. Dieses Instrument der Staatsmacht ist aber beileibe nicht perfekt; und moralische Erhöhungen desselben sind unangebracht. In einer eindeutig gegen Hegel gerichteten Stelle (Grundlage der Moral §17) bemerkt er über den Staat: 

“Einige deutsche Philosophaster dieses feilen Zeitalters möchten ihn verdrehen zu einer Moralitäts-, Erziehungs- und Erbauungsanstalt: wobei im Hintergrunde der Jesuitische Zweck lauert, die persönliche Freiheit und individuelle Entwicklung des Einzelnen aufzuheben, um ihn zum bloßen Rade einer chinesischen Staats- und Religions-Maschine zu machen.” 

Dies ist aber der Weg, so Schopenhauer weiter, der zu Inquisition und Verfolgungen führt. Die individuelle Freiheit ist für Schopenhauer ein kostbares Gut, das im Sinne der Menschlichkeit gerade gegen einen übermächtigen Staatsapparat unbedingt verteidigt werden muss. Karl Popper sollte später eine ähnliche Hegelkritik vertreten. Aber auch andere Aspekte des Schopenhauer’schen Werkes haben, nebenbei bemerkt, bedeutsame Nachwirkungen gehabt. Friedrich Nietzsche z.B. war von seiner “Philosophie des Willens” stark geprägt, nur bejahte er im Gegensatz zu seinem Lehrer das Leben in all seiner unschuldigen Grausamkeit. Sigmund Freud zitiert Schopenhauer mehrmals in seinen “Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie”; er übernahm von ihm auch u.a. den Gedanken der weitgehenden Bestimmung des Menschen durch seine Triebe. Thomas Mann meint dazu in seinem Vortrag “Freud und die Zukunft”: “Freuds Beschreibung aber des Es und Ich - ist sie nicht aufs Haar die Beschreibung von Schopenhauers ‘Wille’ und ‘Intellekt’ - eine Übersetzung seiner Metaphysik ins Psychologische?” 

Sehr berühmt ist ebenfalls ein Nebenwerk Schopenhauers, das sogenannte “Stachelschweingleichnis”. Es bewegt, weil es ein menschliches Grunddilemma zeigt: Der Mensch ist hin- und hergerissen zwischen seinem Wunsch nach Geborgenheit in der Gemeinschaft und Selbstbestimmung in der Einsamkeit. Der Gemeinschaft eigentlich bedürftig und sich nach ihr sehnend, flieht er doch vor ihr in die Einsamkeit, weil er die anderen Menschen doch nicht wirklich erträgt. Ganz allein ist er aber wieder unglücklich; er geht zurück zu den anderen, wo die “Willen” der Menschen aufeinanderprallen - und leidet wieder. 

“Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich an einem kalten Wintertage recht nahe zusammen, um durch die gegenseitige Wärme sich vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln; welches sie dann wieder von einander entfernte. Wann nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes zweite Übel; sodass sie zwischen beiden Leiden hin- und hergeworfen wurden, bis sie eine mäßige Entfernung von einander herausgefunden hatten, in der sie er am besten aushalten konnten. - So treibt das Bedürfnis der Gesellschaft, aus der Leere und Monotonie des eigenen Inneren entsprungen, die Menschen zueinander; aber ihre vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler stoßen sie wieder von einander ab. Die mittlere Entfernung, die sie endlich herausfinden, und bei welcher ein Beisammensein bestehen kann, ist die Höflichkeit und feine Sitte. Dem, der sich nicht in dieser Entfernung hält, ruft man in England zu: keep your distance! - Vermöge derselben wird zwar das Bedürfnis gegenseitiger Erwärmung nur unvollkommen befriedigt, dafür aber der Stich der Stacheln nicht empfunden.” (Parerga und Paralipomena II, §396) 

Der Mensch ist nach Schopenhauer zur Einsamkeit und zur Gemeinschaft gleichermaßen verdammt; dieses Spannungsfeld zu bewältigen ist eines der Hauptprobleme und damit auch eine der Aufgaben seines Daseins. Wie viel Selbstständigkeit und wie viel Gemeinsamkeit ein Einzelmensch braucht, ist tatsächlich eine immerwährende Grundfrage der Politik, die im Laufe der Geschichte verschieden beantwortet worden ist. Es spricht sehr für Schopenhauer, dass er der individuellen Freiheit, obwohl er Gemeinschaftspflichten nicht negiert, doch einen wesentlichen Platz reserviert (wie auch in seiner oben kurz angerissenen Staatslehre klar wurde). Diese unbedingte Wertschätzung der persönlichen Freiheit, die er in intellektueller Unabhängigkeit auch lebte, lässt ihn ein großer Denker sein und macht ihn - bei allen Einflüssen außereuropäischer Philosophie, die er mit Recht hochschätzte - zu einem Fortsetzer und Pfleger desjenigen griechischen Freiheitsdenkens, das in der europäischen Aufklärung volle Entfaltung fand.

© dieses Textes: Patrick Horvath, Wien, 2002.

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