Große Denker:
Karl Popper
Öffner der Gesellschaft
Werner Horvath: "Sir Karl Popper: Platons Sturz und die Falsifikation". Öl auf Leinwand, 50 x 40 cm, 2000/01.
Popper, gebürtiger
Österreicher, zur Zeit des Krieges
in Emigration in Neuseeland und danach in England als Lehrer an der
London
School of Economics tätig, arbeitete vor allem auf zwei
Gebieten: der
Wissenschaftstheorie einerseits und der politischen Philosophie
andererseits.
Auf dem ersteren Gebiet schuf er das heute allgemein vorherrschende
Bild von
Wissenschaft, auf dem zweiten dasjenige der Demokratie, wobei er in
beiden Fällen
zuerst ein altes Gedankengebäude stürzen musste, um
sie durch ein neues - sein
neues - ersetzen zu können: in der Wissenschaftstheorie war
dies der
Neopositivismus des Wiener Kreises, in der politischen Philosophie die
Staatslehre Platons.
Der
Neopositivismus des Wiener Kreises - von Paul Feyerabend einmal
als “Primitivphilosophie” bezeichnet - ging wie
jeder Positivismus von der
Annahme aus, dass sichere Erkenntnis nur über zwei Quellen
erreicht werden
kann: Einerseits über das Experiment, das die Methode der
Erfahrungswissenschaft ist, andererseits über die
Schlüsse der Logik und
Mathematik, also unter Anwendung der Formalwissenschaft. Die
allgemeinen Gesetze
der Natur werden erkannt, indem man sie aus den einzelnen Beobachtungen
ableitet. Diese Vorgangsweise nennt man auch Induktion
(Ableitung des
Allgemeinen aus dem Besonderen). Wissenschaftliche Gesetze
müssen nach dem
Wiener Kreis anhand der Erfahrungstatsachen verifiziert
werden, d.h. man
muss ihre Wahrheit anhand der Erfahrungstatsachen erweisen. Popper
meint aber,
dass die genannten Forderungen des Wiener Kreises streng genommen nicht
erfüllt
werden können; Induktion und Verifikation sind eigentlich
wissenschaftlich unmöglich.
Denn man kann niemals einen Allsatz anhand von Einzelbeobachtungen
begründen.
Dies
zeigt Popper u.a. in seinem berühmten Schwanengleichnis: Man
kann den Satz “Alle Schwäne sind
weiß” niemals durch Beobachtung einzelner
Schwäne verifizieren. Denn selbst, wenn ich einen, zwei,
tausend,
hunderttausend weiße Schwäne beobachte, ist der Satz
“Alle Schwäne sind weiß”
streng genommen nicht bewiesen (denn “alle”
Schwäne sind eine größere
Menge als die von mir empirisch beobachtete). Und alle
Schwäne, die weltweit
existieren, jemals existiert haben oder existieren werden, zu
beobachten, ist gänzlich
unmöglich und ausgeschlossen. Daher kann man weder einen
Allsatz aus der
Beobachtung des Besonderen wirklich ableiten, noch die Wahrheit eines
Allsatzes
aufgrund der Beobachtung von Einzelfällen beweisen.
Was
man aber machen kann ist folgendes: Es ist nach Popper
möglich,
einen Allsatz empirisch zu widerlegen, zu falsifizieren,
indem man
nachweist, dass er in einem einzigen Fall nicht zutrifft. So widerlegt
die
Beobachtung eines einzigen schwarzen Schwans den Allsatz
“Alle Schwäne sind
weiß”. Der Induktion und der Verifikation
des Wiener Kreises hält
Popper also die Deduktion und die Falsifikation
entgegen.
Wissenschaft nach Popper hat also folgendermaßen vorzugehen:
Wir formulieren
Hypothesen in der Form von Allsätzen und versuchen, diese zu
falsifizieren.
Wenn der Allsatz einen Falsifikationsversuch überstanden hat,
kann er vorübergehend
beibehalten werden. Wird er falsifiziert, ist er zu verwerfen.
Wissenschaft ist
ihrer Natur nach also immer nur zu vorübergehender Erkenntnis
fähig; sie ist,
so wie ein Organismus, veränderlich. Popper nennt seine
Philosophie aufgrund
der großen Betonung der Kritik von Hypothesen mit Hilfe
vernünftiger,
wissenschaftlicher Methoden “Kritischer
Rationalismus”.
Die
Genese einer an der Empirie zu überprüfenden
Hypothese spielt
für Popper keine Rolle. Popper sagt u.a. in seiner
Aufsatzsammlung “Auf der
Suche nach einer besseren Welt” (Kapitel
“Über die sogenannten Quellen der
Erkenntnis“) sinngemäß, dass es
für die Wissenschaft ziemlich egal ist,
warum ich einen bestimmten Allsatz aufstelle oder vertrete, ob ich ihn
geträumt
habe, ob er auf Alltagsbeobachtungen beruht oder sonst etwas. Vielmehr
geht es
darum, dass er einer kritischen Prüfung unterzogen werden kann
(unwissenschaftlich ist eine Aussage nur dann, wenn sie sich dieser
Prüfbarkeit
entzieht) und sich gegenüber dieser versuchten Falsifikation
zumindest vorübergehend
bewährt. Den Ansatz des Wiener Kreises, der Wissenschaft nur
zwei
Erkenntnisquellen zu erlauben (wie oben gesagt, Erfahrungs- und
Formalwissenschaft), hält Popper für zu
autoritär und auch unkreativ. Auch
der außerwissenschaftliche Bereich kann ein wichtiger und
sinnvoller
Ideenlieferant für Wissenschaft werden. Der Anspruch der
Wissenschaft besteht
darin, dass sie Aussagen, woher sie auch stammen mögen, einer
kritischen Prüfung
durch Empirie und Vernunft unterzieht. Die Überlegenheit der
Wissenschaft über
den nichtwissenschaftlichen Bereich ist für Popper relativ.
Der Wissenschaft
ist absolutes, endgültiges Wissen unzugänglich; es
liegt auch in ihrem Wesen,
sich ständig zu verändern. Dennoch ist sie, wie im
“Faust” gesagt, “des
Menschen allerbeste Kraft”, weil die Wissenschaft das am
besten kritisierte
und daher das von Irrtümern noch am meisten
gesäuberte Wissen liefert, das
allerdings eben nicht perfekt ist (aber eben immer noch das Beste, das
wir
haben).
Politisch
tritt Popper für das Konzept einer “offenen
Gesellschaft” ein, die eine demokratische Gesellschaft sein
soll - sein
weltberühmtes Buch zur “offenen
Gesellschaft” wurde inspiriert von dem
Ereignis des “Anschlusses” seiner Heimat
Österreich an das Deutsche Reich
im Jahr 1938 und von dem Wunsch, die Demokratie gegen die
autoritären Strömungen
dieser Zeit zu verteidigen.
Ursprüngliche
Gesellschaften d.h. Stammesgesellschaften, sind nach
Popper “geschlossene Gesellschaften”. In den
“geschlossenen
Gesellschaften” zählt eine altertümliche
Stammesmoral, die die
Blutsverwandtschaft in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen
stellt. Was dem Clan
nützt, ist gut, was ihm schadet, schlecht. Der Einzelne wird
als rechtlos
betrachtet und sieht sich auch selbst so; er dient dem Stamm, der
Gesamtheit -
natürlich nur dem eigenen Clan.
Eines
Tages beginnen Gesellschaften sich zu öffnen. Die Menschen
entdecken mit der Zeit das Individuum; sie erkennen die Würde,
die jedem
Einzelnen innewohnt - egal, welchem Clan oder welcher Gruppe er
angehört.
Blutsverwandtschaft tritt in den Hintergrund, wird immer unbedeutender
hinsichtlich der gesellschaftlichen und politischen Organisation. Die
Idee der
Menschenrechte ist ein ziemlich vollendeter Ausdruck dieser Sichtweise,
die den
einzelnen Menschen in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen
stellt, daher auch ein
zutiefst menschliches Moralsystem ist. Die
Staatsform, die der offenen
Gesellschaft am gerechtesten wird, ist die Demokratie.
Popper
räumt mit einem veralteten Demokratieverständnis auf,
das
eigentlich im Wort “Demokratie” selbst steckt: das
Wort heißt eigentlich wörtlich
übersetzt “Herrschaft des Volkes”, was ja
in der Praxis “Herrschaft der
Mehrheit” heißt. Diese Bedeutung allein ist
für Popper aber unzureichend, ja
sogar paradox. Poppers Bild von Demokratie orientiert sich stark an der
Idee
gewisser grundlegender Rechte, die jedem einzelnen Menschen zugestanden
werden.
Dazu gehört z.B. das Recht, seine Meinung frei zu
äußern, auch und gerade,
wenn es sich um eine kritische Meinung handelt. Dazu gehört
das Recht, am
politischen Prozess teilzunehmen und ein gewisser Schutz der
Privatsphäre. Dazu
gehört aber vor allem auch eine gewisse Begrenzung
obrigkeitlicher Macht, indem
man den politischen Institutionen genaue rechtliche Schranken setzt
oder durch
Gewaltenteilung dafür sorgt, dass keiner zuviel Macht erlangen
kann. Poppers
Demokratie bezieht ihre Legitimation nicht zuletzt aus dem Umstand,
dass
Diktatur schlecht ist (und Demokratie zwar nicht absolut gut, aber
besser), und
dass das Schlimmste auf Erden eine despotische Herrschaft ist, die
Kritiker ohne
ordentliches Gerichtsverfahren gewaltsam beseitigt oder die das freie
Denken
durch Zensur und Indoktrination knechtet und unterdrückt. Die
Mehrheitsentscheidungen mögen für eine Demokratie in
Ermangelung eines anderen
tagespolitischen Regenten notwendig und auch zu respektieren sein -
allerdings
nur, solange die besagten grundlegenden Freiheiten nicht
eingeschränkt werden.
Die Wahrheit hat die Mehrheit aber genauso wenig gepachtet wie kleine
Eliten von
Priestern oder Parteikadern, die dies so gern von sich
behaupten.
Entsprechend
löst Popper auch das “Paradoxon der
Demokratie”,
das vorher so drückend auf ihr lastete, nämlich die
Frage, was denn mit einem
solchen Freistaat geschehen würde, wenn die Mehrheit des
Volkes einen Diktator
wählt (was in regelmäßigen
Abständen auch tatsächlich vorkommt). Definiert
man Demokratie als “Herrschaft der Mehrheit”, muss
man sie aufgeben und als
Staatsform betrachten, die sich ohnehin ständig selbst
abzuschaffen pflegt.
Folgt man aber Poppers Sichtweise der Demokratie, die der Mehrheit
keine solche
Macht einräumt, dann kann der Einzelne seine demokratischen
Ideale auch gegen
eine autoritär denkende Mehrheit verteidigen.
Wichtig
in der Demokratie ist, sagt Popper, dass man in ihr
unerträgliche
Regierungen ohne Blutvergießen beseitigen kann. Die
Demokratie wird also zu
einem gewaltfreien Raum, in dem auch im politischen Bereich eine
Falsifikation möglich
wird. Hier spiegelt sich Poppers Erkenntnistheorie in seiner
politischen
Philosophie wider.
Offene
Gesellschaften haben, neben all ihren unbestreitbaren
Vorteilen, aber auch einen nicht zu unterschätzenden Nachteil:
Der Zugewinn an
Freiheit wird bitter bezahlt mit dem Verlust von Sicherheit. Es gibt
keine
absoluten Werte in der offenen Gesellschaft, sondern eine
Pluralität der
Wertvorstellungen. Man kann viel freier das eigene Weltbild
wählen, wird nicht
mehr hineingezwungen in eine bestimmte Religion oder Ideologie, die man
nicht
hinterfragen darf. Aber man verliert auch einen gewissen Halt, eine
gewisse
Sicherheit und Unbezweifelbarkeit in der Weltanschauung, die zwar nur
eine
Scheinsicherheit, aber dennoch vielen Menschen eine wichtige
Stütze ist. Und
den Verlust der Sicherheit gibt es auch hinsichtlich des sozialen
Lebens. Der
Clan, der ein festgefügter Familienverband ist, bietet eine
Menge Vorteile, die
in einer offenen Gesellschaft verloren gehen. Man kann dies alles am
Beispiel
der Insel Kreta gut illustrieren (auf der das vorliegende Buch verfasst
worden
ist): Kreta war aufgrund seiner Insellage über Jahrhunderte
hinweg eine
“geschlossene Gesellschaft” im Sinne Poppers, in
der die alte Stammesmoral
galt. Und noch heute gibt es Reste dieser, etwa die Blutrache. Eine
Beleidigung
eines Familienmitgliedes durch ein Mitglied einer anderen Familie wird
mit
Gewalt gerächt, daraufhin erfolgt Gegenrache. Die
Töchter auf Kreta werden
vielfach noch von ihren Familien verheiratet, als Platz der Frau gilt
vor allem
am Land noch heute Heim und Herd, die (weibliche)
Jungfräulichkeit bis zur
Hochzeit spielt noch eine große Rolle. Viele dieser
Unfreiheiten gehen durch
die “Öffnung” der kretischen Gesellschaft,
die nicht zuletzt durch den
Tourismus und die modernen Kommunikationsmittel ausgelöst
wurde, verloren. Aber
damit werden langfristig auch die Vorteile der “geschlossenen
Gesellschaft”
zurückgedrängt, die es auf Kreta bis heute gibt.
Altersheime z.B. sind dort
unbekannt. Bei uns im Westen werden alte Menschen allein gelassen und
in Heime
abgeschoben; man stirbt einsam und nicht im Schoß der
Familie. Im Falle von
Arbeitslosigkeit oder Krankheit ist keine Familie mehr da, die ein
soziales
Auffangnetz bietet; und der moderne Sozialstaat ist nur ein
verzweifelter
Versuch, dieses zu ersetzen. Es gibt auf Kreta noch so etwas wie gute,
solidarische, besorgte Nachbarn. Vor einiger Zeit wurde im Gegensatz
dazu in
einer Berliner Wohnung die verweste Leiche eines Mannes gefunden, der
vier Jahre
lang tot in seiner Wohnung lag; er ist offensichtlich keinem
abgegangen. Im
traditionellen Kreta, wo jeder einen festen Platz in der Gemeinschaft
hat und
jeder jeden kennt, ist so etwas bis heute undenkbar. Kreta
kämpft - wie jede
Gesellschaft während des Prozesses ihrer Öffnung -
einen inneren Kampf, denn
viele befürworten die neue Freiheit; aber viele andere
fürchten das Schlechte,
die Unsicherheit, das Chaos, das die neue Zeit bringt. Poppers
Philosophie ist
ein Aufruf, die Bürde der Unsicherheit tapfer zu tragen, um
die Freiheit zu
erlangen. Man sieht an diesem Aufruf, dass er der Freiheit
Priorität gibt und
bereit ist, den Preis dafür zu zahlen. Popper meint aber auch,
dass wir gar
nichts anderes als dies tun können, ohne dem
rückwärtsgewandten
Totalitarismus zu huldigen, ohne unmenschlich, ohne zu Bestien zu
werden; denn
es ist ein blutiges, aber auch hoffnungsloses Unterfangen, den
Fortschritt mit
Gewalt aufhalten zu wollen.
Der
Ursprung des totalitären Denkens liegt nach Popper eben darin:
Menschen, welche die neue Freiheit und den aus ihr entsprungenen
Verlust der
Sicherheit nicht ertragen können, versuchen, das Rad der
Geschichte mit Gewalt
zurückzudrehen. Die Nazis etwa vertraten eine Moral der
“geschlossenen
Gesellschaft”. Für sie war das Individuum komplett
rechtlos; sie ordneten es
einer Volksgemeinschaft unter, für die es sich bedingungslos
aufzuopfern hatte.
Man blicke auch auf das Frauen- und Familienbild der Nazis oder ihren
Blut- und
Bodenmythos, um zu erkennen, dass sie einer Moral der
“geschlossenen
Gesellschaft” huldigten. Diese Moral innen- und
außenpolitisch durchzusetzen
ist allerdings nur denkbar, indem man Ströme von Blut
vergießt; letztendlich
bleiben aber auch diese Versuche vergeblich.
Der
Vater alles totalitären Denkens ist für Popper aber
kein
Geringerer als der ehrwürdige Platon, der wahrscheinlich, wie
auch Popper
zugesteht, der größte aller Philosophen
überhaupt ist. Aber dennoch, Popper
kennt keinen falschen Respekt. Platons politische Theorie ist
für ihn das
Produkt eines alten Aristokraten, der die Demokratie Athens, in der er
lebte und
heranwuchs, zutiefst verabscheute und ihr das Gegenkonzept eines
totalitären
Staates entgegenstellte. Platon gilt alle Veränderung als
schlecht, besonders
krass zeigt sich diese Sichtweise in den “Nomoi”;
Veränderung ist nach
Platon in jeder ihrer Ausprägungen politisch zu
unterdrücken. Das Individuum
ist für Platon kein Träger von Rechten. Er ordnet den
Einzelnen dem Staat, der
Gesamtheit unter. Gerecht ist für Platon alles, was der
Gesamtheit Vorteile
bringt; hier schimmert für Popper das alte Clandenken der
Stammesmoral durch.
Der Einzelne darf diesem Vorteil bedenkenlos hingeopfert werden, es
schadet
nichts, solange der Staat einen Vorteil davon hat. Diese Haltung ist
aber nach
Popper keineswegs altruistisch, wie sie sich immer
präsentiert, obwohl sich der
Einzelne für die Gesamtheit aufopfert, sondern vielmehr eine
Art
Gruppenegoismus. Platon steht in dieser Beziehung seiner Ansicht nach
der
Auffassung Dr.Goebbels nicht ferne, der einmal sagte: “Du
bist nichts, dein
Vaterland ist alles”. Aber hat der einzelne Mensch wirklich
keine ihm
innewohnende Würde unabhängig vom Nutzen für
den Staat? Und was ist, wenn das
eigene Vaterland anderen Vaterländern Unrecht tut?
Für Platon ist diese Frage
kein Thema. Moral ist für ihn, zu tun, was der Heimat
nützt; dieser Zweck
heiligt jedes Mittel. Einen von Blutsverwandtschaft oder Vaterland
unabhängigen
Moralbegriff kennt er nicht oder besser: Er wehrt sich gegen ihn. Auch
innenpolitisch denkt Platon elitär. Er entwirft in seinem
oftmals als
Gipfelpunkt der Menschlichkeit gerühmten Hauptwerk einen Staat
mit einem
starren Kastensystem; und als Gerechtigkeit preist er an, dass jeder
auf seinem
Platz in diesem System bleibt - der Herrscher also bei der Macht und
der Sklave
bei seiner Fronarbeit. Wenn dies Gerechtigkeit ist, erklärt
Popper, bin ich aus
ganzem Herzen für die Ungerechtigkeit. Die schonungslose
Analyse des
Platonismus durch Popper hat in gewisser Weise ein Denkmal
gestürzt.
Zwei
interessante Theorien, die in Poppers Denken eine Rolle
spielen, sind an dieser Stelle noch zu erwähnen, um das Bild
abzurunden: Die
von ihm abgelehnte “Kübeltheorie des
Geistes” und die von ihm stark
vertretene “Drei-Welten-Theorie”. Kommen wir zur
ersten: Die herkömmlichen
pädagogischen Theorien, meint der ehemalige Lehrer Popper,
sind allesamt “Kübeltheorien”.
Sie sehen den Geist als einen Kübel, der das Wissen aufnimmt,
das man in ihn
hineinschüttet. Der Vorgang des Lernens wird also angesehen
als passives
Aufnehmen eines bestimmten Unterrichtsstoffes, der den
Schülern autoritär
vermittelt wird. In Wahrheit, meint Popper, ist der Natur des Menschen
eine ganz
andere Art des Lernens angemessen. Lernen ist nämlich ein
aktiver, kein
passiver Prozess. Wir gehen mit bestimmten Theorien an die Umwelt heran
und
schauen, ob diese Theorien funktionieren oder nicht, d.h. ob sie sich
zumindest
momentan bewähren oder ob sie durch die Realität
falsifiziert werden. Lehrer
sollten das aktive Lernen fördern und damit auch eine weniger
autoritäre Form
der Unterrichtsgestaltung wählen. Wieder merkt man, wie
Poppers
Erkenntnistheorie und seine Forderung nach Freiheit ineinander
greifen.
Die
“Drei-Welten-Theorie” ist im Prinzip nur eine
bestimmte
Begrifflichkeit, die Popper in den philosophischen Diskurs
einführt. Als
“Welt 1” bezeichnet Popper die materielle Welt, die
Welt der physikalischen
Gegenstände. “Welt 2” nennt er die Welt
unserer Bewusstseinsinhalte (z.B.
Gedanken, Gefühle). Bei “Welt 3” handelt
es sich um die Welt der Theorien;
diese ist v.a. beheimatet in den Büchern, den Bibliotheken,
den Datenbanken und
anderen Aufzeichnungen der Menschen. Die philosophischen und
dichterischen
Welterklärungen gehören genauso zur “Welt
3” wie die politischen
Ideologien. Auch die Ergebnisse der Wissenschaft sind ein Teil der
“Welt 3”,
allerdings ein besonders durch Kritik gesäuberter.
Der
Sir Karl Popper der “Welt 1” ist also der
Körper eines
etwas pummeligen Greises, der sich mehr oder weniger
planmäßig durch Raum und
Zeit bewegt, Stiegen steigt, nach Neuseeland fährt, oder sich
mit Wittgenstein
während eines philosophischen Streites (hartnäckigen
Gerüchten zufolge) mit
Schürhäken prügelt. Der Sir Karl Popper der
“Welt 2” ist eine bunte
Sammlung von Gefühlen, Träumen, Hoffnungen, Gedanken
aller Art, die in seinem
Bewusstsein durcheinander purzeln. Der Sir Karl Popper der
“Welt 3” ist der
große Schöpfer eines faszinierenden philosophischen
Gebäudes, das ihn zu
einem der größten Denker österreichischer
Herkunft, ja des Westens überhaupt
macht.
Die
besagten drei Welten beeinflussen einander natürlich
gegenseitig. Die Materie kann unsere Bewusstseinsinhalte mitbestimmen -
so kann
die chemische Substanz Alkohol unser Gefühlsleben stark
prägen. Aber auch
unser Bewusstseinsinhalt hat Einfluss auf Vorgänge in der
materiellen Welt. Ich
kann z.B. ein Möbelstück verrücken, weil es
mir in einem anderen Eck einfach
besser gefällt, es also meinen Gefühlen zusagt. Die
“Welt 3”, die Welt
unserer Theorien, ist ein eindeutiges Produkt der “Welt
2”, des menschlichen
Bewusstseins (denn sie wird von diesem hervorgebracht). Sie existiert
aber
dennoch unabhängig vom Bewusstsein des Einzelmenschen. Das
Werk des Philosophen
Anaxagoras oder des Geschichtsschreibers Herodot - beide Griechen
wurden von
Popper sehr bewundert - existiert z.B. heute noch; und ihre Gedanken
wirken
merklich oder unmerklich in vielen anderen Menschen fort, obwohl beide
Verfasser
längst tot sind. Die “Welt 3” wirkt aber
auch auf die “Welt 2” zurück;
so benahm sich während der Nazizeit nach Popper ein ganzes an
sich
zivilisiertes Volk unter dem Einfluss einer verhängnisvollen
Ideologie so, als
hätte es ganze Fässer von Alkohol getrunken. Aus
diesem Grund glaubt Popper
auch an die besondere Verantwortung der Intellektuellen, deren Produkte
sehr
wohl Einfluss auf die Welt nehmen können.
Aber
nicht nur die Intellektuellen, sondern eigentlich alle
Menschen haben Anteil an besagten drei Welten, auch und ganz besonders
an
“Welt 3”. Denn, so lautet der berühmte
Satz Poppers: “Alle Menschen sind
Philosophen”. Ob die Menschen es wissen oder nicht, ob sie
sich so selbst
sehen oder nicht, ist gleichgültig; wie dem auch immer sei,
hat jeder von ihnen
letztlich eine gewisse Weltanschauung, die er zur Grundlage seiner
Handlungen
macht. Diese kann besser oder schlechter sein, bedeutender oder
unbedeutender,
aber sie ist immer in irgendeiner Form vorhanden. Philosophische
Probleme - die
ja letztlich Weltanschauungsfragen sind - betreffen und bewegen daher
alle
Menschen mehr oder weniger; und alle Menschen, auch solche, die nicht
der
engeren akademischen Fachwelt zugehören, sollen über
sie nachdenken dürfen,
um ihr eigenes Leben besser bewältigen zu können.
Auch eine offene
Gesellschaft, wie sie z.B. im Europa der Zukunft bestehen soll,
braucht, will
sie funktionieren, nicht nur eine denkende Elite, sondern eine
große Anzahl
denkender Bürger.
Besonders
interessant für die heutige Zeit sind aber Poppers
Überlegungen
in einem Aufsatz zum “Zusammenprall der Kulturen”
(clash of civilizations).
Erst kürzlich hat der U.S.-Amerikaner Samuel Huntington ein
aufsehenerregendes
Buch gleichnamigen Titels verfasst. Er vertritt in ihm die Meinung,
dass die
verschiedenen Kulturkreise der Welt (etwa die islamische Welt und der
Westen)
Gefahr laufen, in großen Auseinandersetzungen, die sich auch
um verschiedene
Wertvorstellungen drehen, aneinanderzugeraten - ein Gedanke, der seit
den
Terroranschlägen in New York und den darauffolgenden Kriegen
sicherlich nicht
ganz abwegig erscheint. Man kann Poppers Jahrzehnte zuvor im Sammelband
“Auf
der Suche nach einer besseren Welt” publizierten Aufsatz
allerdings auch als
eine gewisse Gegenposition zu Huntington lesen: Wenn verschiedene
Kulturkreise
aufeinanderstoßen, meint Popper sinngemäß,
muss dies nicht immer nur negative
Folgen haben. Vielmehr können sich unter gewissen
Umständen verschiedene
Kulturen gegenseitig befruchten. Das Kennenlernen Andersartiger
lässt uns
Bestehendes hinterfragen und regt unser kritisches Denken an. Das
Fundament der
europäischen Kultur wurde z.B. im alten Griechenland gelegt;
wir verdanken dies
nach Popper v.a. der Tatsache, dass gerade in dieser Weltgegend
verschiedene
Kulturen zusammenprallten und so die Voraussetzung für
unermessliche
intellektuelle Großleistungen bestanden. Auch die lange
kulturelle Blütezeit
seiner Heimat Österreich und besonders seiner Hauptstadt Wien
führt Popper auf
die zentrale Lage zwischen Ost und West zurück, auf die
gegenseitige
Befruchtung verschiedener Kulturen in einem einzigen
Vielvölkerstaat und auf
die Ströme begabter Zuwanderer aus all seinen
verschiedensprachigen Teilen oder
dem Ausland, die sich v.a. in Wien niederließen. Man denke
z.B. an die
zugewanderten Wiener Mozart, Haydn oder Beethoven, mit denen man sich
heute noch
in aller Welt schmückt.
Erscheint
angesichts einer solchen Geschichte der Ruf
“Ausländer
raus?” noch immer als eine so kluge und weitsichtige Maxime?
Oder der ethnisch
homogene (“reine”) Nationalstaat noch immer als
gültiger Maßstab der
Politik? Oder die Angst vor “zersetzender”
Zuwanderung als sehr begründet?
Zwei Zitate sollen folgen, die Poppers Absage an den Nationalismus
illustrieren:
“Warum
ist das Prinzip des Nationalstaates undurchführbar, ja,
auf unserer Erde, und besonders in Europa, geradezu irrsinnig? Mit
dieser Frage
komme ich auf das Thema des Zusammenpralls von Kulturen
zurück. Die Bevölkerung
Europas ist, wie jeder weiß, das Produkt von
Völkerwanderungen. Seit
Menschengedenken kam eine Menschenwelle nach der anderen aus den
innerasiatischen Steppen, um an den südlichen,
südöstlichen und vor allem an
den zerklüfteten Halbinseln Asiens, die wir Europa nennen, auf
frühere
Einwanderer aufzuprallen und zu zersplittern. Das Resultat ist ein
sprachliches,
ethnisches und kulturelles Mosaik: ein Wirrwarr, ein Gemisch, das
unmöglich
wieder zu entwirren ist. Die Sprachen sind die
verhältnismäßig besten
Wegweiser durch diesen Wirrwarr. Aber da gibt es mehr oder weniger
bodenständige
oder natürliche Dialekte und übergreifende
Schriftsprachen, die ihrer
Entstehung nach glorifizierte Dialekte sind, wie zum Beispiel im
Holländischen
sehr klar wird. Andere Sprachen, wie Französisch, Spanisch,
Portugiesisch und
Rumänisch, sind Produkte der gewaltsamen Eroberungen der
Römer. Es ist also
sonnenklar, dass der sprachliche Wirrwarr kein wirklich
verlässlicher Wegweiser
durch den ethnischen Wirrwarr sein kann. (...) Aber inmitten dieses
europäischen
Wirrwarrs ist nun die irrsinnige Idee des
Nationalitätenprinzips entstanden,
vor allem unter dem Einfluss der Philosophen Rousseau, Fichte und Hegel
(...)
Natürlich gab es Vorläufer des Nationalismus. Aber
weder die römische, noch
die altgriechische Kultur war nationalistisch. Alle diese Kulturen
entstanden
durch den Zusammenprall der verschiedenen Kulturen am Mittelmeer und im
Nahen
Osten. Das gilt auch für die griechische Kultur, die wohl die
wichtigsten Beiträge
zu unserer gegenwärtigen abendländischen Kultur
lieferte: ich meine die Idee
der Freiheit, die Entdeckung der Demokratie und die kritische, die
rationale
Einstellung, die schließlich zur modernen Naturwissenschaft
führte.” (Karl
Popper, Über den Zusammenprall der Kulturen, in: Auf der Suche
nach einer
besseren Welt, S.131f.)
Und
an anderer Stelle meint er:
“Das
Prinzip des Nationalstaates, das heißt die
politische Forderung, dass das Territorium jedes Staates mit dem von
einer
Nation bewohnten Territorium zusammenfallen solle, ist durchaus nicht
so
einleuchtend, wie es vielen Menschen heute erscheinen mag. Selbst wenn
man den
Begriff der Nation genauer umschreiben könnte, wäre
es doch noch lange nicht
klar, warum gerade die Nationalität eine fundamentale
politische Kategorie sein
soll, eine Kategorie, die wichtiger ist als zum Beispiel die Religion
oder die
Geburt innerhalb eines bestimmten geographischen Gebietes oder die
Loyalität zu
einer Dynastie, oder als ein politisches Bekenntnis, wie das der
Demokratie.”
(Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde Bd.2,
S.62)
Man kann aus Poppers Ausführungen lernen, dass Europa eine politische Ordnung braucht, die nicht auf illusorischer (und zudem ohne Genozid nicht durchführbarer) ethnischer Homogenität beruht, sondern Loyalität erhält aufgrund gemeinsamer Werte - bei Beibehaltung bereichernder ethnischer und sprachlicher Vielfalt. Lassen wir uns nicht von nationalistischen Demagogen irreführen, die Minderheiten immer nur als “Problem” begreifen, Zuwanderer als “Überfremdung” und die bevorstehende Osterweiterung der Europäischen Union als Einfallstor “volksfremder Elemente”. Bleiben wir lieber stattdessen - mit Popper - einer toleranteren Sichtweise treu und ringen wir uns durch zu einem neuen politischen Denken, das in Wahrheit gar nicht so neu ist, sondern aus einer langen, ehrwürdigen, europäischen Tradition der Menschlichkeit erwächst.
© dieses Textes: Patrick Horvath, Wien, 2002.
Werner Horvath: "Sir Karl Popper: Drei Welten". Öl auf Leinwand, 50 x 40 cm, 2001.