Große Denker:

Karl Popper

Öffner der Gesellschaft

Werner Horvath: "Sir Karl Popper: Platons Sturz und die Falsifikation". Öl auf Leinwand, 50 x 40 cm, 2000/01.

Popper, gebürtiger Österreicher, zur Zeit des Krieges in Emigration in Neuseeland und danach in England als Lehrer an der London School of Economics tätig, arbeitete vor allem auf zwei Gebieten: der Wissenschaftstheorie einerseits und der politischen Philosophie andererseits. Auf dem ersteren Gebiet schuf er das heute allgemein vorherrschende Bild von Wissenschaft, auf dem zweiten dasjenige der Demokratie, wobei er in beiden Fällen zuerst ein altes Gedankengebäude stürzen musste, um sie durch ein neues - sein neues - ersetzen zu können: in der Wissenschaftstheorie war dies der Neopositivismus des Wiener Kreises, in der politischen Philosophie die Staatslehre Platons. 

Der Neopositivismus des Wiener Kreises - von Paul Feyerabend einmal als “Primitivphilosophie” bezeichnet - ging wie jeder Positivismus von der Annahme aus, dass sichere Erkenntnis nur über zwei Quellen erreicht werden kann: Einerseits über das Experiment, das die Methode der Erfahrungswissenschaft ist, andererseits über die Schlüsse der Logik und Mathematik, also unter Anwendung der Formalwissenschaft. Die allgemeinen Gesetze der Natur werden erkannt, indem man sie aus den einzelnen Beobachtungen ableitet. Diese Vorgangsweise nennt man auch Induktion (Ableitung des Allgemeinen aus dem Besonderen). Wissenschaftliche Gesetze müssen nach dem Wiener Kreis anhand der Erfahrungstatsachen verifiziert werden, d.h. man muss ihre Wahrheit anhand der Erfahrungstatsachen erweisen. Popper meint aber, dass die genannten Forderungen des Wiener Kreises streng genommen nicht erfüllt werden können; Induktion und Verifikation sind eigentlich wissenschaftlich unmöglich. Denn man kann niemals einen Allsatz anhand von Einzelbeobachtungen begründen.  

Dies zeigt Popper u.a. in seinem berühmten Schwanengleichnis: Man kann den Satz “Alle Schwäne sind weiß” niemals durch Beobachtung einzelner Schwäne verifizieren. Denn selbst, wenn ich einen, zwei, tausend, hunderttausend weiße Schwäne beobachte, ist der Satz “Alle Schwäne sind weiß” streng genommen nicht bewiesen (denn “alle” Schwäne sind eine größere Menge als die von mir empirisch beobachtete). Und alle Schwäne, die weltweit existieren, jemals existiert haben oder existieren werden, zu beobachten, ist gänzlich unmöglich und ausgeschlossen. Daher kann man weder einen Allsatz aus der Beobachtung des Besonderen wirklich ableiten, noch die Wahrheit eines Allsatzes aufgrund der Beobachtung von Einzelfällen beweisen. 

Was man aber machen kann ist folgendes: Es ist nach Popper möglich, einen Allsatz empirisch zu widerlegen, zu falsifizieren, indem man nachweist, dass er in einem einzigen Fall nicht zutrifft. So widerlegt die Beobachtung eines einzigen schwarzen Schwans den Allsatz “Alle Schwäne sind weiß”. Der Induktion und der Verifikation des Wiener Kreises hält Popper also die Deduktion und die Falsifikation entgegen. Wissenschaft nach Popper hat also folgendermaßen vorzugehen: Wir formulieren Hypothesen in der Form von Allsätzen und versuchen, diese zu falsifizieren. Wenn der Allsatz einen Falsifikationsversuch überstanden hat, kann er vorübergehend beibehalten werden. Wird er falsifiziert, ist er zu verwerfen. Wissenschaft ist ihrer Natur nach also immer nur zu vorübergehender Erkenntnis fähig; sie ist, so wie ein Organismus, veränderlich. Popper nennt seine Philosophie aufgrund der großen Betonung der Kritik von Hypothesen mit Hilfe vernünftiger, wissenschaftlicher Methoden “Kritischer Rationalismus”. 

Die Genese einer an der Empirie zu überprüfenden Hypothese spielt für Popper keine Rolle. Popper sagt u.a. in seiner Aufsatzsammlung “Auf der Suche nach einer besseren Welt” (Kapitel “Über die sogenannten Quellen der Erkenntnis“) sinngemäß, dass es für die Wissenschaft ziemlich egal ist, warum ich einen bestimmten Allsatz aufstelle oder vertrete, ob ich ihn geträumt habe, ob er auf Alltagsbeobachtungen beruht oder sonst etwas. Vielmehr geht es darum, dass er einer kritischen Prüfung unterzogen werden kann (unwissenschaftlich ist eine Aussage nur dann, wenn sie sich dieser Prüfbarkeit entzieht) und sich gegenüber dieser versuchten Falsifikation zumindest vorübergehend bewährt. Den Ansatz des Wiener Kreises, der Wissenschaft nur zwei Erkenntnisquellen zu erlauben (wie oben gesagt, Erfahrungs- und Formalwissenschaft), hält Popper für zu autoritär und auch unkreativ. Auch der außerwissenschaftliche Bereich kann ein wichtiger und sinnvoller Ideenlieferant für Wissenschaft werden. Der Anspruch der Wissenschaft besteht darin, dass sie Aussagen, woher sie auch stammen mögen, einer kritischen Prüfung durch Empirie und Vernunft unterzieht. Die Überlegenheit der Wissenschaft über den nichtwissenschaftlichen Bereich ist für Popper relativ. Der Wissenschaft ist absolutes, endgültiges Wissen unzugänglich; es liegt auch in ihrem Wesen, sich ständig zu verändern. Dennoch ist sie, wie im “Faust” gesagt, “des Menschen allerbeste Kraft”, weil die Wissenschaft das am besten kritisierte und daher das von Irrtümern noch am meisten gesäuberte Wissen liefert, das allerdings eben nicht perfekt ist (aber eben immer noch das Beste, das wir haben). 

Politisch tritt Popper für das Konzept einer “offenen Gesellschaft” ein, die eine demokratische Gesellschaft sein soll - sein weltberühmtes Buch zur “offenen Gesellschaft” wurde inspiriert von dem Ereignis des “Anschlusses” seiner Heimat Österreich an das Deutsche Reich im Jahr 1938 und von dem Wunsch, die Demokratie gegen die autoritären Strömungen dieser Zeit zu verteidigen. 

Ursprüngliche Gesellschaften d.h. Stammesgesellschaften, sind nach Popper “geschlossene Gesellschaften”. In den “geschlossenen Gesellschaften” zählt eine altertümliche Stammesmoral, die die Blutsverwandtschaft in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellt. Was dem Clan nützt, ist gut, was ihm schadet, schlecht. Der Einzelne wird als rechtlos betrachtet und sieht sich auch selbst so; er dient dem Stamm, der Gesamtheit - natürlich nur dem eigenen Clan. 

Eines Tages beginnen Gesellschaften sich zu öffnen. Die Menschen entdecken mit der Zeit das Individuum; sie erkennen die Würde, die jedem Einzelnen innewohnt - egal, welchem Clan oder welcher Gruppe er angehört. Blutsverwandtschaft tritt in den Hintergrund, wird immer unbedeutender hinsichtlich der gesellschaftlichen und politischen Organisation. Die Idee der Menschenrechte ist ein ziemlich vollendeter Ausdruck dieser Sichtweise, die den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellt, daher auch ein zutiefst menschliches Moralsystem ist. Die Staatsform, die der offenen Gesellschaft am gerechtesten wird, ist die Demokratie. 

Popper räumt mit einem veralteten Demokratieverständnis auf, das eigentlich im Wort “Demokratie” selbst steckt: das Wort heißt eigentlich wörtlich übersetzt “Herrschaft des Volkes”, was ja in der Praxis “Herrschaft der Mehrheit” heißt. Diese Bedeutung allein ist für Popper aber unzureichend, ja sogar paradox. Poppers Bild von Demokratie orientiert sich stark an der Idee gewisser grundlegender Rechte, die jedem einzelnen Menschen zugestanden werden. Dazu gehört z.B. das Recht, seine Meinung frei zu äußern, auch und gerade, wenn es sich um eine kritische Meinung handelt. Dazu gehört das Recht, am politischen Prozess teilzunehmen und ein gewisser Schutz der Privatsphäre. Dazu gehört aber vor allem auch eine gewisse Begrenzung obrigkeitlicher Macht, indem man den politischen Institutionen genaue rechtliche Schranken setzt oder durch Gewaltenteilung dafür sorgt, dass keiner zuviel Macht erlangen kann. Poppers Demokratie bezieht ihre Legitimation nicht zuletzt aus dem Umstand, dass Diktatur schlecht ist (und Demokratie zwar nicht absolut gut, aber besser), und dass das Schlimmste auf Erden eine despotische Herrschaft ist, die Kritiker ohne ordentliches Gerichtsverfahren gewaltsam beseitigt oder die das freie Denken durch Zensur und Indoktrination knechtet und unterdrückt. Die Mehrheitsentscheidungen mögen für eine Demokratie in Ermangelung eines anderen tagespolitischen Regenten notwendig und auch zu respektieren sein - allerdings nur, solange die besagten grundlegenden Freiheiten nicht eingeschränkt werden. Die Wahrheit hat die Mehrheit aber genauso wenig gepachtet wie kleine Eliten von Priestern oder Parteikadern, die dies so gern von sich behaupten. 

Entsprechend löst Popper auch das “Paradoxon der Demokratie”, das vorher so drückend auf ihr lastete, nämlich die Frage, was denn mit einem solchen Freistaat geschehen würde, wenn die Mehrheit des Volkes einen Diktator wählt (was in regelmäßigen Abständen auch tatsächlich vorkommt). Definiert man Demokratie als “Herrschaft der Mehrheit”, muss man sie aufgeben und als Staatsform betrachten, die sich ohnehin ständig selbst abzuschaffen pflegt. Folgt man aber Poppers Sichtweise der Demokratie, die der Mehrheit keine solche Macht einräumt, dann kann der Einzelne seine demokratischen Ideale auch gegen eine autoritär denkende Mehrheit verteidigen. 

Wichtig in der Demokratie ist, sagt Popper, dass man in ihr unerträgliche Regierungen ohne Blutvergießen beseitigen kann. Die Demokratie wird also zu einem gewaltfreien Raum, in dem auch im politischen Bereich eine Falsifikation möglich wird. Hier spiegelt sich Poppers Erkenntnistheorie in seiner politischen Philosophie wider. 

Offene Gesellschaften haben, neben all ihren unbestreitbaren Vorteilen, aber auch einen nicht zu unterschätzenden Nachteil: Der Zugewinn an Freiheit wird bitter bezahlt mit dem Verlust von Sicherheit. Es gibt keine absoluten Werte in der offenen Gesellschaft, sondern eine Pluralität der Wertvorstellungen. Man kann viel freier das eigene Weltbild wählen, wird nicht mehr hineingezwungen in eine bestimmte Religion oder Ideologie, die man nicht hinterfragen darf. Aber man verliert auch einen gewissen Halt, eine gewisse Sicherheit und Unbezweifelbarkeit in der Weltanschauung, die zwar nur eine Scheinsicherheit, aber dennoch vielen Menschen eine wichtige Stütze ist. Und den Verlust der Sicherheit gibt es auch hinsichtlich des sozialen Lebens. Der Clan, der ein festgefügter Familienverband ist, bietet eine Menge Vorteile, die in einer offenen Gesellschaft verloren gehen. Man kann dies alles am Beispiel der Insel Kreta gut illustrieren (auf der das vorliegende Buch verfasst worden ist): Kreta war aufgrund seiner Insellage über Jahrhunderte hinweg eine “geschlossene Gesellschaft” im Sinne Poppers, in der die alte Stammesmoral galt. Und noch heute gibt es Reste dieser, etwa die Blutrache. Eine Beleidigung eines Familienmitgliedes durch ein Mitglied einer anderen Familie wird mit Gewalt gerächt, daraufhin erfolgt Gegenrache. Die Töchter auf Kreta werden vielfach noch von ihren Familien verheiratet, als Platz der Frau gilt vor allem am Land noch heute Heim und Herd, die (weibliche) Jungfräulichkeit bis zur Hochzeit spielt noch eine große Rolle. Viele dieser Unfreiheiten gehen durch die “Öffnung” der kretischen Gesellschaft, die nicht zuletzt durch den Tourismus und die modernen Kommunikationsmittel ausgelöst wurde, verloren. Aber damit werden langfristig auch die Vorteile der “geschlossenen Gesellschaft” zurückgedrängt, die es auf Kreta bis heute gibt. Altersheime z.B. sind dort unbekannt. Bei uns im Westen werden alte Menschen allein gelassen und in Heime abgeschoben; man stirbt einsam und nicht im Schoß der Familie. Im Falle von Arbeitslosigkeit oder Krankheit ist keine Familie mehr da, die ein soziales Auffangnetz bietet; und der moderne Sozialstaat ist nur ein verzweifelter Versuch, dieses zu ersetzen. Es gibt auf Kreta noch so etwas wie gute, solidarische, besorgte Nachbarn. Vor einiger Zeit wurde im Gegensatz dazu in einer Berliner Wohnung die verweste Leiche eines Mannes gefunden, der vier Jahre lang tot in seiner Wohnung lag; er ist offensichtlich keinem abgegangen. Im traditionellen Kreta, wo jeder einen festen Platz in der Gemeinschaft hat und jeder jeden kennt, ist so etwas bis heute undenkbar. Kreta kämpft - wie jede Gesellschaft während des Prozesses ihrer Öffnung - einen inneren Kampf, denn viele befürworten die neue Freiheit; aber viele andere fürchten das Schlechte, die Unsicherheit, das Chaos, das die neue Zeit bringt. Poppers Philosophie ist ein Aufruf, die Bürde der Unsicherheit tapfer zu tragen, um die Freiheit zu erlangen. Man sieht an diesem Aufruf, dass er der Freiheit Priorität gibt und bereit ist, den Preis dafür zu zahlen. Popper meint aber auch, dass wir gar nichts anderes als dies tun können, ohne dem rückwärtsgewandten Totalitarismus zu huldigen, ohne unmenschlich, ohne zu Bestien zu werden; denn es ist ein blutiges, aber auch hoffnungsloses Unterfangen, den Fortschritt mit Gewalt aufhalten zu wollen. 

Der Ursprung des totalitären Denkens liegt nach Popper eben darin: Menschen, welche die neue Freiheit und den aus ihr entsprungenen Verlust der Sicherheit nicht ertragen können, versuchen, das Rad der Geschichte mit Gewalt zurückzudrehen. Die Nazis etwa vertraten eine Moral der “geschlossenen Gesellschaft”. Für sie war das Individuum komplett rechtlos; sie ordneten es einer Volksgemeinschaft unter, für die es sich bedingungslos aufzuopfern hatte. Man blicke auch auf das Frauen- und Familienbild der Nazis oder ihren Blut- und Bodenmythos, um zu erkennen, dass sie einer Moral der “geschlossenen Gesellschaft” huldigten. Diese Moral innen- und außenpolitisch durchzusetzen ist allerdings nur denkbar, indem man Ströme von Blut vergießt; letztendlich bleiben aber auch diese Versuche vergeblich. 

Der Vater alles totalitären Denkens ist für Popper aber kein Geringerer als der ehrwürdige Platon, der wahrscheinlich, wie auch Popper zugesteht, der größte aller Philosophen überhaupt ist. Aber dennoch, Popper kennt keinen falschen Respekt. Platons politische Theorie ist für ihn das Produkt eines alten Aristokraten, der die Demokratie Athens, in der er lebte und heranwuchs, zutiefst verabscheute und ihr das Gegenkonzept eines totalitären Staates entgegenstellte. Platon gilt alle Veränderung als schlecht, besonders krass zeigt sich diese Sichtweise in den “Nomoi”; Veränderung ist nach Platon in jeder ihrer Ausprägungen politisch zu unterdrücken. Das Individuum ist für Platon kein Träger von Rechten. Er ordnet den Einzelnen dem Staat, der Gesamtheit unter. Gerecht ist für Platon alles, was der Gesamtheit Vorteile bringt; hier schimmert für Popper das alte Clandenken der Stammesmoral durch. Der Einzelne darf diesem Vorteil bedenkenlos hingeopfert werden, es schadet nichts, solange der Staat einen Vorteil davon hat. Diese Haltung ist aber nach Popper keineswegs altruistisch, wie sie sich immer präsentiert, obwohl sich der Einzelne für die Gesamtheit aufopfert, sondern vielmehr eine Art Gruppenegoismus. Platon steht in dieser Beziehung seiner Ansicht nach der Auffassung Dr.Goebbels nicht ferne, der einmal sagte: “Du bist nichts, dein Vaterland ist alles”. Aber hat der einzelne Mensch wirklich keine ihm innewohnende Würde unabhängig vom Nutzen für den Staat? Und was ist, wenn das eigene Vaterland anderen Vaterländern Unrecht tut? Für Platon ist diese Frage kein Thema. Moral ist für ihn, zu tun, was der Heimat nützt; dieser Zweck heiligt jedes Mittel. Einen von Blutsverwandtschaft oder Vaterland unabhängigen Moralbegriff kennt er nicht oder besser: Er wehrt sich gegen ihn. Auch innenpolitisch denkt Platon elitär. Er entwirft in seinem oftmals als Gipfelpunkt der Menschlichkeit gerühmten Hauptwerk einen Staat mit einem starren Kastensystem; und als Gerechtigkeit preist er an, dass jeder auf seinem Platz in diesem System bleibt - der Herrscher also bei der Macht und der Sklave bei seiner Fronarbeit. Wenn dies Gerechtigkeit ist, erklärt Popper, bin ich aus ganzem Herzen für die Ungerechtigkeit. Die schonungslose Analyse des Platonismus durch Popper hat in gewisser Weise ein Denkmal gestürzt. 

Zwei interessante Theorien, die in Poppers Denken eine Rolle spielen, sind an dieser Stelle noch zu erwähnen, um das Bild abzurunden: Die von ihm abgelehnte “Kübeltheorie des Geistes” und die von ihm stark vertretene “Drei-Welten-Theorie”. Kommen wir zur ersten: Die herkömmlichen pädagogischen Theorien, meint der ehemalige Lehrer Popper, sind allesamt “Kübeltheorien”. Sie sehen den Geist als einen Kübel, der das Wissen aufnimmt, das man in ihn hineinschüttet. Der Vorgang des Lernens wird also angesehen als passives Aufnehmen eines bestimmten Unterrichtsstoffes, der den Schülern autoritär vermittelt wird. In Wahrheit, meint Popper, ist der Natur des Menschen eine ganz andere Art des Lernens angemessen. Lernen ist nämlich ein aktiver, kein passiver Prozess. Wir gehen mit bestimmten Theorien an die Umwelt heran und schauen, ob diese Theorien funktionieren oder nicht, d.h. ob sie sich zumindest momentan bewähren oder ob sie durch die Realität falsifiziert werden. Lehrer sollten das aktive Lernen fördern und damit auch eine weniger autoritäre Form der Unterrichtsgestaltung wählen. Wieder merkt man, wie Poppers Erkenntnistheorie und seine Forderung nach Freiheit ineinander greifen. 

Die “Drei-Welten-Theorie” ist im Prinzip nur eine bestimmte Begrifflichkeit, die Popper in den philosophischen Diskurs einführt. Als “Welt 1” bezeichnet Popper die materielle Welt, die Welt der physikalischen Gegenstände. “Welt 2” nennt er die Welt unserer Bewusstseinsinhalte (z.B. Gedanken, Gefühle). Bei “Welt 3” handelt es sich um die Welt der Theorien; diese ist v.a. beheimatet in den Büchern, den Bibliotheken, den Datenbanken und anderen Aufzeichnungen der Menschen. Die philosophischen und dichterischen Welterklärungen gehören genauso zur “Welt 3” wie die politischen Ideologien. Auch die Ergebnisse der Wissenschaft sind ein Teil der “Welt 3”, allerdings ein besonders durch Kritik gesäuberter. 

Der Sir Karl Popper der “Welt 1” ist also der Körper eines etwas pummeligen Greises, der sich mehr oder weniger planmäßig durch Raum und Zeit bewegt, Stiegen steigt, nach Neuseeland fährt, oder sich mit Wittgenstein während eines philosophischen Streites (hartnäckigen Gerüchten zufolge) mit Schürhäken prügelt. Der Sir Karl Popper der “Welt 2” ist eine bunte Sammlung von Gefühlen, Träumen, Hoffnungen, Gedanken aller Art, die in seinem Bewusstsein durcheinander purzeln. Der Sir Karl Popper der “Welt 3” ist der große Schöpfer eines faszinierenden philosophischen Gebäudes, das ihn zu einem der größten Denker österreichischer Herkunft, ja des Westens überhaupt macht. 

Die besagten drei Welten beeinflussen einander natürlich gegenseitig. Die Materie kann unsere Bewusstseinsinhalte mitbestimmen - so kann die chemische Substanz Alkohol unser Gefühlsleben stark prägen. Aber auch unser Bewusstseinsinhalt hat Einfluss auf Vorgänge in der materiellen Welt. Ich kann z.B. ein Möbelstück verrücken, weil es mir in einem anderen Eck einfach besser gefällt, es also meinen Gefühlen zusagt. Die “Welt 3”, die Welt unserer Theorien, ist ein eindeutiges Produkt der “Welt 2”, des menschlichen Bewusstseins (denn sie wird von diesem hervorgebracht). Sie existiert aber dennoch unabhängig vom Bewusstsein des Einzelmenschen. Das Werk des Philosophen Anaxagoras oder des Geschichtsschreibers Herodot - beide Griechen wurden von Popper sehr bewundert - existiert z.B. heute noch; und ihre Gedanken wirken merklich oder unmerklich in vielen anderen Menschen fort, obwohl beide Verfasser längst tot sind. Die “Welt 3” wirkt aber auch auf die “Welt 2” zurück; so benahm sich während der Nazizeit nach Popper ein ganzes an sich zivilisiertes Volk unter dem Einfluss einer verhängnisvollen Ideologie so, als hätte es ganze Fässer von Alkohol getrunken. Aus diesem Grund glaubt Popper auch an die besondere Verantwortung der Intellektuellen, deren Produkte sehr wohl Einfluss auf die Welt nehmen können. 

Aber nicht nur die Intellektuellen, sondern eigentlich alle Menschen haben Anteil an besagten drei Welten, auch und ganz besonders an “Welt 3”. Denn, so lautet der berühmte Satz Poppers: “Alle Menschen sind Philosophen”. Ob die Menschen es wissen oder nicht, ob sie sich so selbst sehen oder nicht, ist gleichgültig; wie dem auch immer sei, hat jeder von ihnen letztlich eine gewisse Weltanschauung, die er zur Grundlage seiner Handlungen macht. Diese kann besser oder schlechter sein, bedeutender oder unbedeutender, aber sie ist immer in irgendeiner Form vorhanden. Philosophische Probleme - die ja letztlich Weltanschauungsfragen sind - betreffen und bewegen daher alle Menschen mehr oder weniger; und alle Menschen, auch solche, die nicht der engeren akademischen Fachwelt zugehören, sollen über sie nachdenken dürfen, um ihr eigenes Leben besser bewältigen zu können. Auch eine offene Gesellschaft, wie sie z.B. im Europa der Zukunft bestehen soll, braucht, will sie funktionieren, nicht nur eine denkende Elite, sondern eine große Anzahl denkender Bürger. 

Besonders interessant für die heutige Zeit sind aber Poppers Überlegungen in einem Aufsatz zum “Zusammenprall der Kulturen” (clash of civilizations). Erst kürzlich hat der U.S.-Amerikaner Samuel Huntington ein aufsehenerregendes Buch gleichnamigen Titels verfasst. Er vertritt in ihm die Meinung, dass die verschiedenen Kulturkreise der Welt (etwa die islamische Welt und der Westen) Gefahr laufen, in großen Auseinandersetzungen, die sich auch um verschiedene Wertvorstellungen drehen, aneinanderzugeraten - ein Gedanke, der seit den Terroranschlägen in New York und den darauffolgenden Kriegen sicherlich nicht ganz abwegig erscheint. Man kann Poppers Jahrzehnte zuvor im Sammelband “Auf der Suche nach einer besseren Welt” publizierten Aufsatz allerdings auch als eine gewisse Gegenposition zu Huntington lesen: Wenn verschiedene Kulturkreise aufeinanderstoßen, meint Popper sinngemäß, muss dies nicht immer nur negative Folgen haben. Vielmehr können sich unter gewissen Umständen verschiedene Kulturen gegenseitig befruchten. Das Kennenlernen Andersartiger lässt uns Bestehendes hinterfragen und regt unser kritisches Denken an. Das Fundament der europäischen Kultur wurde z.B. im alten Griechenland gelegt; wir verdanken dies nach Popper v.a. der Tatsache, dass gerade in dieser Weltgegend verschiedene Kulturen zusammenprallten und so die Voraussetzung für unermessliche intellektuelle Großleistungen bestanden. Auch die lange kulturelle Blütezeit seiner Heimat Österreich und besonders seiner Hauptstadt Wien führt Popper auf die zentrale Lage zwischen Ost und West zurück, auf die gegenseitige Befruchtung verschiedener Kulturen in einem einzigen Vielvölkerstaat und auf die Ströme begabter Zuwanderer aus all seinen verschiedensprachigen Teilen oder dem Ausland, die sich v.a. in Wien niederließen. Man denke z.B. an die zugewanderten Wiener Mozart, Haydn oder Beethoven, mit denen man sich heute noch in aller Welt schmückt.  

Erscheint angesichts einer solchen Geschichte der Ruf “Ausländer raus?” noch immer als eine so kluge und weitsichtige Maxime? Oder der ethnisch homogene (“reine”) Nationalstaat noch immer als gültiger Maßstab der Politik? Oder die Angst vor “zersetzender” Zuwanderung als sehr begründet? Zwei Zitate sollen folgen, die Poppers Absage an den Nationalismus illustrieren: 

“Warum ist das Prinzip des Nationalstaates undurchführbar, ja, auf unserer Erde, und besonders in Europa, geradezu irrsinnig? Mit dieser Frage komme ich auf das Thema des Zusammenpralls von Kulturen zurück. Die Bevölkerung Europas ist, wie jeder weiß, das Produkt von Völkerwanderungen. Seit Menschengedenken kam eine Menschenwelle nach der anderen aus den innerasiatischen Steppen, um an den südlichen, südöstlichen und vor allem an den zerklüfteten Halbinseln Asiens, die wir Europa nennen, auf frühere Einwanderer aufzuprallen und zu zersplittern. Das Resultat ist ein sprachliches, ethnisches und kulturelles Mosaik: ein Wirrwarr, ein Gemisch, das unmöglich wieder zu entwirren ist. Die Sprachen sind die verhältnismäßig besten Wegweiser durch diesen Wirrwarr. Aber da gibt es mehr oder weniger bodenständige oder natürliche Dialekte und übergreifende Schriftsprachen, die ihrer Entstehung nach glorifizierte Dialekte sind, wie zum Beispiel im Holländischen sehr klar wird. Andere Sprachen, wie Französisch, Spanisch, Portugiesisch und Rumänisch, sind Produkte der gewaltsamen Eroberungen der Römer. Es ist also sonnenklar, dass der sprachliche Wirrwarr kein wirklich verlässlicher Wegweiser durch den ethnischen Wirrwarr sein kann. (...) Aber inmitten dieses europäischen Wirrwarrs ist nun die irrsinnige Idee des Nationalitätenprinzips entstanden, vor allem unter dem Einfluss der Philosophen Rousseau, Fichte und Hegel (...) Natürlich gab es Vorläufer des Nationalismus. Aber weder die römische, noch die altgriechische Kultur war nationalistisch. Alle diese Kulturen entstanden durch den Zusammenprall der verschiedenen Kulturen am Mittelmeer und im Nahen Osten. Das gilt auch für die griechische Kultur, die wohl die wichtigsten Beiträge zu unserer gegenwärtigen abendländischen Kultur lieferte: ich meine die Idee der Freiheit, die Entdeckung der Demokratie und die kritische, die rationale Einstellung, die schließlich zur modernen Naturwissenschaft führte.” (Karl Popper, Über den Zusammenprall der Kulturen, in: Auf der Suche nach einer besseren Welt, S.131f.) 

Und an anderer Stelle meint er: 

“Das Prinzip des Nationalstaates, das heißt die politische Forderung, dass das Territorium jedes Staates mit dem von einer Nation bewohnten Territorium zusammenfallen solle, ist durchaus nicht so einleuchtend, wie es vielen Menschen heute erscheinen mag. Selbst wenn man den Begriff der Nation genauer umschreiben könnte, wäre es doch noch lange nicht klar, warum gerade die Nationalität eine fundamentale politische Kategorie sein soll, eine Kategorie, die wichtiger ist als zum Beispiel die Religion oder die Geburt innerhalb eines bestimmten geographischen Gebietes oder die Loyalität zu einer Dynastie, oder als ein politisches Bekenntnis, wie das der Demokratie.” (Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde Bd.2, S.62) 

Man kann aus Poppers Ausführungen lernen, dass Europa eine politische Ordnung braucht, die nicht auf illusorischer (und zudem ohne Genozid nicht durchführbarer) ethnischer Homogenität beruht, sondern Loyalität erhält aufgrund gemeinsamer Werte - bei Beibehaltung bereichernder ethnischer und sprachlicher Vielfalt. Lassen wir uns nicht von nationalistischen Demagogen irreführen, die Minderheiten immer nur als “Problem” begreifen, Zuwanderer als “Überfremdung” und die bevorstehende Osterweiterung der Europäischen Union als Einfallstor “volksfremder Elemente”. Bleiben wir lieber stattdessen - mit Popper - einer toleranteren Sichtweise treu und ringen wir uns durch zu einem neuen politischen Denken, das in Wahrheit gar nicht so neu ist, sondern aus einer langen, ehrwürdigen, europäischen Tradition der Menschlichkeit erwächst.

© dieses Textes: Patrick Horvath, Wien, 2002.

Werner Horvath: "Sir Karl Popper: Drei Welten". Öl auf Leinwand, 50 x 40 cm, 2001.

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