Große Denker:

Niccolò Machiavelli

Philosoph der Macht

Werner Horvath: "Niccolo Machiavelli". Buntstifte auf Papier, 32 x 24 cm, 1999.

Wir wissen wenig von der Jugend und dem genauen Ausbildungsweg des 1469 geborenen Florentiners Niccolò Machiavelli, dessen Einsichten in das Wesen politischer Macht gleichsam große Bewunderer wie auch erbitterte Gegner fanden. Im Alter von 29 Jahren tritt er uns allerdings als Sekretär (d.h. Leiter) des “Zweiten Auswärtigen Amtes” sowie des “Rates der Zehn” (einer außenpolitischen Behörde seiner Heimatstadt) entgegen. Machiavelli war also eine Art Außen- und Kriegsminister von Florenz; man muss in diesem Zusammenhang wissen, dass im 16.Jahrhundert Italien in zahlreiche Kleinstaaten gespalten und von den Interventionen ausländischer Großmächte - v.a. des deutschen Imperiums einerseits und des französischen Königreiches andererseits - gekennzeichnet war. Die Republik Florenz war einer von vielen Akteuren in einer verworrenen und oftmals in Brutalität ausartenden politischen Lage, die als Dauerkrise begriffen werden kann. Machiavelli konnte diese Politik aus nächster Nähe miterleben und lernte auf seinen zahlreichen diplomatischen Missionen die wichtigsten Herrscher seiner Zeit kennen, z.B. den deutschen Kaiser Maximilian oder die berühmt-berüchtigte Familie Borgia, die mit Dolch, Gift und heimtückischen Intrigen viele ihrer Gegner zu Fall brachte. Der Aufstieg und Fall Cesare Borgias, des Sohnes Papst Alexanders VI., beeindruckte Machiavelli besonders stark. 

Der Philosoph der Macht selbst konnte für die Republik Florenz einen maßgeblichen politischen Erfolg verbuchen, nämlich die Organisation des Feldzuges zur Rückeroberung Pisas. Im ewigen Auf und Ab der Politik, die er später von der Willkür des Schicksals, personifiziert in “Fortuna”, beherrscht sah, verlor er aber seinen Posten und fiel bei den Mächtigen seiner Heimat - der Familie Medici - in Ungnade. Als Privatmann legte er seine politischen Ansichten v.a. in zwei Büchern dar: Er schrieb den “Fürsten” über die Monarchie und die “Discorsi” über die Republik, dazu zahlreiche historische Werke, von denen das wichtigste die “Geschichte von Florenz” ist, in denen erstmals seit den alten Griechen der Kampf um Macht (und nicht z.B. göttliches Eingreifes etc.) als zentral für den historischen Prozess dargestellt wurde. Mit seinen Schriften begründet er das politisch-philosophische Denken der Neuzeit; und sein Einfluss auf die Geistesgeschichte hat sich als dauerhafter erwiesen als seine tagespolitischen Erfolge oder sein kurzes “Comeback” in öffentliche Ämter knapp vor seinem Tod. 

Machiavellis Denken stellt einen radikalen Bruch mit der politischen Philosophie des Mittelalters dar. Unter dem Eindruck der schweren Krise des damaligen Italiens fragt die politische Theorie Machiavellis nicht mehr nach den Bedingungen eines guten und tugendhaften Lebens, wie noch das Mittelalter. Für den mittelalterlichen Denker Thomas von Aquin z.B. war die menschliche Gemeinschaft auf ein höheres Ziel ausgerichtet, nämlich auf die christlich verstandene Tugend und damit letztlich auf das Seelenheil. Was Machiavelli interessiert, ist hingegen allein “die Dauerhaftigkeit, die innere Stabilität und die äußere Expansionsfähigkeit der staatlichen Gemeinschaft”. Nach Herfried Münkler zeigt sich in Machiavellis Denken eine neue, fundamentale politische Kategorie der Neuzeit: Die Selbsterhaltung - vor allem des Staates. Damit kehrt Machiavelli die Prioritäten des Mittelalters quasi um: Während etwa Thomas von Aquin noch die Selbsterhaltung dem Heil der Seele unterordnen würde, spielt letzteres bei Machiavelli praktisch keine Rolle mehr. Vielmehr könnte es fast scheinen, dass Machiavelli mit dem berühmten Satz aus seiner Florentiner Geschichte, in dem er jenem Anerkennung zollt, der das Vaterland höher schätzt als sein Seelenheil, aus dem vormals Wesentlichen ein bloßes Anhängsel macht. Machiavelli verlässt damit den normativen Ansatz der Politikbetrachtung früherer Zeiten und bahnt den Weg zum realistischen Paradigma. 

Machiavelli verwandelt die Religion von der Norm der Politik zu ihrem Mittel. Für ihn ist Religion lediglich ein Instrument, das für die Erreichung politischer Ziele eingesetzt werden kann. Dies bedeutet unter anderem auch eine Emanzipation der Politik gegenüber der Religion. Die Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit der Politik werden gegenüber der vormals übermächtigen Theologie zur Geltung gebracht. Diese besonders von Machiavelli betriebene Säkularisierung des politischen Denkens - Grundvoraussetzung aller späteren maßgeblichen Entwicklungen auf diesem Gebiet - sollte seine epochale, historische Leistung werden. Seine Arbeit ist damit durchaus der eines Kopernikus zur Seite zu stellen, der die Naturwissenschaft gegenüber der Theologie zur Geltung brachte. Man kann mit Fug und Recht behaupten, die Neuzeit beginnt - zumindest auf dem Gebiet des politischen Denkens - mit Machiavelli. Seine Arbeit ist im Zusammenhang mit der allgemeinen Säkularisierungstendenz der Renaissance zu sehen. Der der mittelalterlichen Geborgenheit verlustig gegangene Mensch ist bei Machiavelli auf sich allein gestellt. “Es soll niemand so töricht sein, zu glauben, wenn sein Haus einstürzt, dass er es Gott verlassen kann, ihn zu retten”, verkündet Machiavelli seinen Zeitgenossen. Machiavelli ist ein Denker der Krise. Der Krise Italiens, der Krise seiner Heimatstadt Florenz, der Krise der schon zerbröckelnden mittelalterlichen Welt, die schon vieles an ihrer Glaubwürdigkeit verloren hat. Machiavelli versucht, das Gottvertrauen durch Selbstvertrauen zu ersetzen - nicht nur der Staat, auch der in der Politik tätige Mensch muss für seine Selbsterhaltung sorgen. Dazu braucht er die Fähigkeit der “virtù”, was bei Machiavelli ungefähr soviel bedeutet wie politische Tüchtigkeit. Damit zeigt sich in Machiavellis Schriften auch eine andere Tendenz der Renaissance: Die Besinnung des Individuums auf sich selbst und seine Fähigkeiten. Machiavelli ist auch ein vom heraufdämmernden bürgerlichen Zeitalter geprägter Autor. Wie das aufstrebende Bürgertum seiner frühkapitalistischen Heimatstadt Florenz bringt Machiavelli das Individuum zur Geltung. Und er fordert in den “Discorsi” eine bürgerliche Regierungsform: Die Republik. Machiavelli ist somit einer der ersten Vertreter einer neuen Epoche. 

Wie andere Denker der Renaissance auch, greift Machiavelli auf die Antike zurück. Er benötigt die antiken Autoren als eine Art Steinbruch; sie liefern ihm das Baumaterial für eine Gegenwelt zum Mittelalter, die Machiavelli aufbauen will. Machiavelli braucht die antiken Historiker, wobei es ihm vor allem Titus Livius angetan hat: Einerseits, um aus ihnen die Vorbilder für seine politischen Schriften zu beziehen, andererseits, um ihnen eine Geschichtsauffassung zu entnehmen, die nicht auf das Transzendente ausgerichtet ist. Machiavellis Geschichtsbild kommt ohne göttliches Eingreifen aus. Die Menschen formen ihre eigene Geschichte. In dieser Sichtweise greifen Säkularisierung und das neue Selbstvertrauen der Menschen ineinander. Machiavelli gleicht einer Planierraupe, die das alte Weltbild einer sterbenden Epoche einreißt. Er baut ein neues, weltliches Gedankengebäude an die Stelle des alten. Doch es sollte anderen Denkern der Neuzeit (etwa Hobbes) vorbehalten bleiben, vieles, was Machiavelli sagte, systematisch zu vollenden. 

Noch Machiavellis Zeitgenosse Thomas Morus verfasste ein Werk namens “Utopia”, in dem ein idealer Staat beschrieben wird. Machiavelli verwirft dieses Paradigma aber gründlich und vollständig. 

“Da es aber meine Absicht ist, etwas Nützliches für den zu schreiben, der es versteht, schien es mir angemessener, der Wirklichkeit der Dinge nachzugehen als den bloßen Vorstellungen über sie. Viele haben sich Republiken oder Fürstentümer vorgestellt, die nie jemand gesehen oder tatsächlich gekannt hat; denn es liegt eine so große Entfernung zwischen dem Leben, wie es ist, und dem Leben, wie es sein sollte, dass derjenige, welcher das, was geschieht, unbeachtet lässt zugunsten dessen, was geschehen sollte, dadurch eher seinen Untergang als seine Erhaltung betreibt; denn ein Mensch, der sich in jeder Hinsicht zum Guten bekennen will, muss zugrunde gehen inmitten von so viel anderen, die nicht gut sind. Daher muss ein Fürst, wenn er sich behaupten will, die Fähigkeit erlernen, nicht gut zu sein, und diese anwenden oder nicht anwenden, je nach dem Gebot der Notwendigkeit.” (vgl. Der Fürst, Kap.XV) 

Dieses Zitat, obwohl es von Machiavelli an eine eher unauffällig Stelle seines 1513 erschienen Traktates “Der Fürst” gesetzt wurde, kann als sein zentrales Argument gelten. In dieser Passage stecken mehrere wichtige Gedanken. 

1.) Machiavelli will die Politik beschreiben, wie sie ist, nicht wie sie sein soll. Werke, in denen irgendwelche niemals existierende Staaten beschrieben werden, hält er für wertlose Luftschlösser. 

2.) Er verwehrt sich auch gegen das Moralisieren bei der Politikbetrachtung. Es ist seiner Meinung nach für einen Politiker gar nicht möglich, sich immer moralisch korrekt zu verhalten. Denn im schmutzigen Feld der Politik wird allgemein unmoralisch gehandelt; der Staatsmann ist umgeben von vielen Konkurrenten, die sich nicht unbedingt an moralische Gebote gebunden fühlen. Ist er aber nun der einzige Ehrliche inmitten lauter Lügner, der einzige Treue inmitten lauter Vertragsbrüchigen, der einzige Pazifist inmitten lauter Gewaltmenschen, wird er sich nicht auf Dauer behaupten können - genauso wenig wie das einzige unschuldige Lamm inmitten eines Wolfsrudels lange überleben könnte. Machiavelli erlaubt also seinem Fürsten in gewissen Situationen unmoralisches Handeln - ich möchte diese oben zitierte Textstelle, die mir so zentral für sein Werk erscheint, die “Machiavellische Ermächtigung” nennen. 

3.) Das heißt allerdings nicht, dass Machiavelli - und das ist ein häufiges Missverständnis! - dem blinden und sinnlosen Wüten des Tyrannen eine Generalabsolution erteilt. Machiavelli meint also nicht, dass ein Fürst immer lügen muss oder soll. Er schreibt ausdrücklich - siehe oben -, ein Fürst muss die Fähigkeit nicht gut zu handeln erlernen und “diese anwenden oder nicht anwenden, je nach dem Gebot der Notwendigkeit”. Er kann sie also auch nicht anwenden - und wenn er sie anwendet, darf er es nur nach dem Gebot der Notwendigkeit (“necessità”). 

Es gibt also Situationen, in denen der Fürst Machiavellis Meinung nach unmoralisch handeln muss, will er nicht untergehen; sein unmoralisches Handeln ist aber nur in diesen Situationen gerechtfertigt. “Notwendigkeit” meint in dieser Situation - dies erschließt sich meiner Meinung nach aus dem Textzusammenhang - vor allem “Notwendigkeit der Selbstbehauptung”. Die “Machiavellische Ermächtigung”, gilt also nur unter der Grundvoraussetzung, dass von ihr Gebrauch gemacht wird, wenn es für die Selbsterhaltung notwendig ist. Die Handlungen eines Caligula, der die Menschen seiner Umgebung nach Lust und Laune tötete, ohne dass dies seiner Selbstbehauptung in irgendeiner Form zugute kam, ist also durch Machiavellis Schriften keinesfalls abgedeckt. 

Dass Achill der Sage nach vom Zentauren Chiron unterrichtet wurde, sieht Machiavelli als tiefgründiges Symbol an. Die Alten hätten dadurch, dass sie dem großen politischen Anführer der Griechen ein Wesen, das halb Mensch, halb Tier ist, zum Lehrmeister gaben, zu verstehen gegeben, “dass ein Fürst beide Naturen annehmen können muss und dass die eine ohne die andere nicht von Dauer ist.” Dies ist vor allem so zu verstehen, dass ein Fürst nach Meinung Machiavellis - von Fall zu Fall – in der Lage sein muss, sich auch der Waffe des Tieres, nämlich der Gewalt, zu bedienen. 

Machiavelli, dies ist typisch für sein Denken in Analogien und Bildern, führt in seinem “Fürst” auch an, welche Tiere sich der Politiker seiner Meinung nach zum Vorbild nehmen soll: Löwe und Fuchs; “denn der Löwe ist wehrlos gegen die Schlingen und der Fuchs gegen Wölfe. Man muss also ein Fuchs sein, um die Schlingen zu erkennen und ein Löwe, um die Wölfe zu schrecken. Diejenigen, welche sich einfach auf die Natur des Löwen festlegen, verstehen hiervon nichts.” Löwe und Fuchs sind stark und schlau; oder negativ ausgedrückt: gewalttätig und gerissen. Beide Eigenschaften sind nach Machiavelli Bedingung für Erfolg in der Politik. Die darstellende Kunst der folgenden Jahrhunderte  hat Machiavellis Löwe und Fuchs übrigens übernommen und zu Attributen des zugleich faszinierenden und gefährlichen Machtpolitikers verarbeitet. Machiavellis Fürst ist also eine Art Tiermensch, ein mit Verstand begabtes Raubtier, eine hochintelligente Bestie. Und er muss es auch sein, um sich im Machtkampf der Politik effizient behaupten zu können. Machiavellis Zeitgenosse, der moralistische Politiker Savonarola, der aufgrund der Verfolgung hehrer und unzeitgemäßer moralischer Ideen an den Härten der Realität scheitert und schließlich von seinen eigenen Anhängern verbrannt wird, findet seinen beißenden Spott. 

An dieser Stelle sind natürlich auch kritische Bemerkungen nötig. Haben Politik und Moral wirklich nichts miteinander zu tun? In einer radikalisierten Form ist diese Sichtweise mehr als unglaubwürdig. Es gibt in der Vergangenheit Beispiele von bedeutenden Politikern, die sehr wohl von gewissen Werten der Menschlichkeit fest überzeugt waren - man denke in diesem Zusammenhang z.B. an Martin Luther King, den Bürgerrechtsaktivisten in den USA, oder an Vaclav Havel, den von den Kommunisten verfolgten Dichter und ersten Präsidenten des freien, demokratischen Tschechien. Und diese Politiker waren auch nicht immer die unerfolgreichsten der Geschichte (nicht jeder, der für eine bestimmte Moral eintritt, endet automatisch wie Savonarola)! 

Bei genauer Lektüre ist Machiavellis Werk auch - trotz all seiner Polemik gegen die Moralisierung der Politik - gar nicht so unmoralisch, wie es zunächst erscheint; und es deutet manches darauf hin, dass er letztendlich nicht gegen die Moral überhaupt polemisiert, sondern gegen die überkommene, völlig unrealistische, die politische Praxis verschmähende und ihr als wesenfremd aufgezwungene Moral des christlichen Mittelalters. 

Machiavellis Werk ist insgesamt moralischer als sein Ruf: Der Florentiner hält z.B. in den “Discorsi” ein leidenschaftliches Plädoyer für die Republik, die seiner Ansicht nach den Diktaturen überlegen ist. So kann die Republik den Änderungen der Zeitumstände durch den periodischen Wechsel an der Führungsspitze besser begegnen und ist daher überlebensfähiger; auch neigen Diktatoren zu überspannten Ideen, die das Wohl des Staates gefährden können.  

Man findet aber in Machiavellis Büchern auch Textstellen, die z.B. Genozide aus menschlicher Perspektive verurteilen (vgl. Discorsi I, 26) oder darauf hinweisen, dass es nicht der politischen und wirtschaftlichen Stabilität eines Landes dienen kann, wenn das Recht auf Eigentum durch einen Herrscher und seine Günstlinge willkürlich angetastet wird (vgl. Der Fürst, Kap.XVII). Auch plädiert er für die Integration von Zuwanderern, durch deren starken Zustrom es möglich ist, die Bevölkerungszahl - eine Quelle politischer Macht - nachhaltiger und stärker zu vergrößern als durch normale Geburten (vgl. Discorsi II, 3). Ein Land ist dann erfolgreich, wenn es die Menschen ins Land holt, nicht, wenn es diese ausschließt; und heute wissen wir, dass der Aufstieg der zu Machiavellis Zeiten noch nicht existenten USA zur Weltmacht eng mit seinem Status als Einwanderungsland zusammenhängt; Machiavelli war also alles andere als fremdenfeindlich. In solchen Meinungen blitzen teilweise auch moralische Dimensionen in den Schriften des vermeintlichen Apostels der Unmoral auf. Strategisches Denken - langfristig gedacht - und Moral fallen nämlich letztlich vielleicht sogar in eines zusammen. 

Eine zentrale Forderung Machiavellis lautet, die politische Realität stärker zu beachten und in den eigenen Überlegungen über Politik vermehrt zu berücksichtigen. Doch, dies soll eine weitere kritische Bemerkung sein, was ist das denn, die “Realität”? Machiavellis Werk enthält, dies ist eine seiner größten Schwächen, keine umfassende erkenntnistheoretische Grundlegung. Aber gerade in der Politik sieht man, dass Menschen nicht von den Sachverhalten, sondern von ihrer Meinung über diese bewegt werden. Ein Palästinenser sieht die “Realität” des Nahost-Konflikts ohne Zweifel anders als ein Israeli. Obwohl aber Machiavelli in dieser Beziehung ein wenig naiv erscheint, kann man seiner zentralen Forderung nach Berücksichtigung der Realität insoferne zustimmen, dass man es als wenig hilfreich ansehen kann, wenn man sich in ideologische Systeme “hineinspinnt”, die nicht zur Politik passen, weil sie unerfüllbare moralische Forderungen in diese hineintragen und zudem die “unangenehme” Seiten der Politik - also vor allem alles, was mit dem vielgeschmähten Begriff der Macht zu tun hat - außer acht lässt. 

In einer Beziehung verlässt Machiavellis Werk selbst den Boden des strengen Realismus, den es zunächst vehement einfordert - offenbar in der intuitiven Erkenntnis, dass der die Zukunft gestaltende Visionär oft der größere Realist ist als einer, der sich mit allem Bestehenden abfindet. Im letzten Kapitel seines “Fürsten” ruft der Florentiner zur Einigung Italiens auf. Er sah die - oben kurz beschriebene - politische Lage seiner Heimat als sehr trostlos an; er wünschte ein Italien, das sich auf seine einstige antike Größe besann und nicht von miteinander rivalisierenden Kleinstaaten und intervenierenden Großmächten verwüstet wird. Wie “unrealistisch” die Forderung nach italienischer Einheit in seiner Zeit war, kann man u.a. daran ermessen, dass noch ca. dreihundert Jahre später Metternich in einer durchaus “realistischen” Einschätzung Italien als geographischen, nicht als politischen Begriff bezeichnen konnte. Heute ist ein geeintes Italien mit einer Währung, einer Regierung, einer Armee praktisch eine Selbstverständlichkeit. Es nimmt kaum Wunder, dass italienische Nationalisten in Machiavelli immer einen ihrer Vorläufer sahen und bis heute sehen. 

Heute stellt sich die Frage, ob wir diese “nationalistische” Vereinnahmung Machiavellis teilen können. Immerhin waren es keine “ethnischen” Konzepte, die ihn zu einem Plädoyer für die italienische Einigung veranlassten, sondern ganz pragmatische Argumente, die sich in einem Analogieschluss auch auf den Europäischen Integrationsprozess übertragen ließen. Europa scheint in vielfacher Hinsicht in derselben Situation wie das Italien, das Machiavelli vorfand: Als Weltgegend mit bedeutender Vergangenheit fand es sich im Lauf seiner Geschichte immer wieder in blutige Bruderkriege verstrickt, um während des Ost-West-Konfliktes weitgehend zum Spielball ausländischer Mächte degradiert zu werden. Politische Gebilde, das war Machiavellis Punkt, können durch Vereinigung bzw. Verschmelzung ihre Macht und damit ihre Fähigkeit zur Selbstbehauptung steigern, um solche Situationen zu überwinden - entsprechend rät Machiavelli auch Republiken zum Abschluss enger, dauerhafter Staatenbünde (vgl. Discorsi II, 4). Machiavellis politische Philosophie beinhaltet Forderungen, die den Horizont seiner Zeitgenossen weit überstiegen, aber in der Zukunft einer sinnvollen Umsetzung harren.

© dieses Textes: Patrick Horvath, Wien, 2002.

Werner Horvath: "Niccolo Machiavelli - Der Fürst". Öl auf Leinwand, 50 x 40 cm, 2002.

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