Große Denker:

John Locke

Demokratie als Vertrag

Werner Horvath: "John Locke". Buntstifte auf Papier, 32 x 24 cm, 1999.

Zeit seines Lebens hat John Locke über den Einfluss des Hobbes’schen Denkens auf sein Werk geschwiegen und in all seinen Schriften jede direkte Bezugnahme auf den als Ketzer und Atheisten geltenden Autor des “Leviathan” vermieden - wohl aus Gründen der Vorsicht und um seine Bücher gegenüber moralischen und religiösen Ereiferern nicht von vornherein zu diskreditieren. Aus heutiger Sicht kann Locke aber als jüngerer Zeitgenosse und geistiger Erbe des Thomas Hobbes verstanden werden, was sich in seinen erkenntnistheoretischen und auch politisch-philosophischen Schriften deutlich zeigt. Gegenüber Hobbes zeichnen sich aber manche Denkfortschritte ab: Der “empiristische” Ansatz wird bei Locke in Richtung seiner Überwindung weiterentwickelt und die Gesellschaftsvertragslehre wird von ihm v.a. wesentlich demokratischer interpretiert. 

Thomas Hobbes kann als Vertreter einer erkenntnistheoretischen Position gesehen, die als “Empirismus” bezeichnet wird und v.a. im England der beginnenden Aufklärung (d.h. 17. und 18.Jahrhundert) beheimatet war. Hauptvertreter waren z.B. Francis Bacon, der die wissenschaftstheoretische Grundlage des naturwissenschaftlichen Experimentes legen konnte, und in weiter Folge eben z.B. sein zeitweiliger Sekretär Thomas Hobbes, der ohne Zweifel wertvolle Anregungen von ihm übernahm. Hobbes vertrat eine gegen unwissenschaftliche Spekulationen eingestellte Erkenntnislehre, die man als materialistisch bezeichnen könnte. Alle Erkenntnis begreift er im wesentlichen als Reaktion des Organismus auf Anstöße von außen. Der Empirismus hält die Erfahrung des Menschen für die einzig zulässige Erkenntnisquelle. 

John Locke bewegt sich ebenfalls im Rahmen der empiristischen Grundhaltung. Sein Kampf gilt zunächst “angeborenen Ideen” aller Art, die er zunächst relativ überzeugend mit Hinweisen auf massive kulturelle Unterschiede hinsichtlich der Moral- und Religionsbegriffe ablehnt. Er weist auf diese Art u.a. nach, dass es sich eine Moral zu einfach macht, wenn sie auf umfassende Begründung verzichtet und stattdessen vorgibt, angeboren zu sein; eine Erkenntnis, die man nicht leichtfertig verdrängen sollte. Ideen (d.h. Vorstellungen), die in unserem Bewusstsein vorhanden sind, stammen nach Locke stattdessen sämtlich aus der Erfahrung. Der menschliche Geist ist, so behauptet er in seinem “Essay Concerning Human Understanding”, ursprünglich eine weiße Tafel (“white table”), die von der Erfahrung beschrieben wird - es ist ein ziemlich passives Vermögen also. Im Laufe seiner von diesem Paradigma ausgehenden Forschungen ergibt sich allerdings eine erstaunliche Einsicht: Locke unterscheidet zwischen den “primären” und “sekundären” Eigenschaften der Dinge. Primäre Eigenschaften wären z.B. die Zahl, die Masse etc., sekundäre Eigenschaften z.B. die Farbe oder der Geschmack. Locke entdeckt in der Folge, dass die sekundären Eigenschaften Zutaten unseres Erkenntnisapparates sind. Farbe oder Geschmack eines Gegenstandes haftet nicht ihm selbst an, sondern sind Arten und Weisen, wie unsere Augen, unser Geschmackssinn, unser Gehirn etc. die Umwelt interpretieren. Die reale Existenz gesteht Locke allein den primären Eigenschaften zu. Immanuel Kant sollte später sogar diese hinterfragen und als Produkte unseres Subjektes betrachten. Wie dem auch sei, seine Forschung führte Locke u.a. zu dem Ergebnis, dass unser Erkenntnisapparat doch nicht so passiv äußere Reize aufnimmt, wie die empiristischen Vorstellungen zunächst vermuten lassen, sondern “Eigenes” hinzufügt. Die Überwindung des Empirismus, der später in gewisser Weise auch von David Hume in Anknüpfung an Locke “zuende gedacht” werden sollte, zeichnet sich bereits ab. 

Die politische Philosophie John Lockes schöpft ebenfalls aus Hobbes’ philosophischem Werk. Allerdings hat Locke das bleibende Verdienst, das demokratische Potential, das in der Lehre vom Gesellschaftsvertrag steckt, herausgearbeitet bzw. die Hobbes’sche Lehre auf demokratische Art interpretiert zu haben. Damit ist John Locke einer der Begründer der modernen Demokratietheorie. Lockes politische Philosophie - dargelegt in seinen “Two Treatises of Government” sollte sich später auch als eines der wirkungsmächtigsten Gedankensysteme erweisen, die es jemals auf diesem Planeten gegeben hat, denn die amerikanischen Gründerväter schöpften ihre politischen Vorstellungen zum größten Teil aus seinem Werk; und z.B. Thomas Jefferson, dem Verfasser der Unabhängigkeitserklärung und Mitarchitekten der U.S.-amerikanischen Demokratie wurde später vorgeworfen, die meisten der von ihm vertretenen Inhalte von Locke abgeschrieben bzw. übernommen zu haben. Durch die Rückwirkung U.S.-amerikanischer Vorstellungen auf Europa ist Locke damit auch einer der Ahnherren der europäischen Demokratien. 

Auch Locke geht von der Existenz eines vorstaatlichen Naturzustandes aus. Er verbindet diesen als einer der ersten Denker überhaupt mit der Idee natürlicher Rechte, die jedem Menschen von Geburt an zukommen und prinzipiell auch im Naturzustand wirksam sind. Namentlich nennt Locke v.a. die Menschenrechte auf Leben, Freiheit und Eigentum. Wenn es allerdings keinen Staat gibt, muss jeder der eigene Verteidiger dieser Menschenrechte sein, quasi Richter in eigener Sache; und diese Rechte sind ohne die sanktionierende Gewalt des Staates ständig bedroht. Daher wird in Form eines Gesellschaftsvertrages im freien Zusammenschluss der Einzelnen ein politisches Gemeinwesen gegründet, das v.a. die Aufgabe hat, die natürlichen und individuellen Rechte des Menschen abzusichern. Der Staat findet bei Locke also seine Legitimierung im Menschenrechtsschutz. 

Dass sich die Menschen im Naturzustand auf die Einsetzung eines absoluten Monarchen durch den Gesellschaftsvertrag einigen würde, hält Locke für unplausibel - und hierin besteht seine Polemik und Emanzipation gegenüber Hobbes. Man stelle sich Menschen vor, die sich vor den anarchischen Schrecken und Ungerechtigkeiten des Naturzustandes fürchten und ihn durch die Gründung eines Staates beenden wollen. Wenn sie einen absoluten Monarchen einsetzen, können sie unter Umständen vom Regen in die Traufe kommen. Wer garantiert ihnen denn, dass der absolute Monarch seine Macht nicht nützen wird, um Schrecken und Ungerechtigkeiten zu verbreiten, die jene der Anarchie noch bei weitem übersteigen oder ihnen zumindest gleichkommen würden? Nur: Im anarchischen Naturzustand besteht noch eine gewisse Chance, sich gegen Übeltäter zu verteidigen. Angesichts einer übermächtigen staatlichen Gewalt ist der Einzelne aber völlig ohnmächtig. Die Anarchie soll man daher nicht überwinden, indem man in das andere Extrem, also den autoritären Machtstaat, flieht. Vielmehr muss ein Weg zwischen den Extremen gefunden werden, d.h. eine Staatsform, die einen Ausgleich zwischen wünschenswerter Freiheit und notwendiger Ordnung findet. Der Versuch, einen solchen Mittelweg zu finden, ist der Ursprung der Demokratie. 

Wenn der Staat seine Legitimierung im Menschenrechtsschutz findet, dann bedeutet das umgekehrt, dass er seine Legitimität verliert, wenn er diese ihm zugedachte Aufgabe nicht mehr erfüllen kann oder will. Hier entwickelt Locke einen bahnbrechenden (bereits bei Hobbes angedeuteten) Gedanken: Er stellt die Existenz eines Widerstandsrechtes gegenüber einer despotischen Staatsmacht fest, die Unrecht gegenüber seinen Bürgern verübt. Nach Lockes Überzeugung existiert nicht der Mensch zum Wohl des Staates, sondern der Staat zum Wohl des Menschen. 

Ebenfalls in Lockes politischer Philosophie findet sich ein anderer epochemachender Gedanke: jener der Gewaltenteilung. Locke fordert die Trennung von Legislative (= die gesetzgebende Macht) und Exekutive (= die Regierungsmacht, die Gesetze umsetzt). Die Gewaltenteilung findet ihre Rechtfertigung darin, dass unbeschränkte Machtanhäufung Einzelner verhindert werden soll. Nicht bloß die Bürger eines Staates benötigen Kontrolle und Sanktionen, um das Recht nicht zu verletzen, sondern auch die Mächtigen, in deren Gutsein nicht zuviel Vertrauen gesetzt werden sollte. Zudem fordert Locke in seinen Schriften die Unabhängigkeit der Richter. Damit ist im Keim auch die Ansicht Montesquieus vorweggenommen, dass die Judikative (= die Rechtssprechung) als dritte und von den beiden anderen getrennte “Gewalt” existieren soll. Unausgesprochen war Locke der Ansicht Lord Actons, der einmal meinte, dass Macht zur Korrumpierung neigt und absolute Macht absolut korrumpiert. Das auf dieser Anschauung basierende Konzept der Gewaltenteilung gehört heute zum Grundbestand jeder demokratischen Verfassung. 

Bei all ihren großartigen Leistungen ist die Locke’sche Philosophie nicht frei von zahlreichen Problemen. Ein ganz praktisches Problem ist mit dem zuletzt besprochenen Konzept der Gewaltenteilung verknüpft. Es steht in jeder Verfassung festgeschrieben, wird aber zunehmend zu einer Regelung auf dem Papier. Alleine durch die Institution der politischen Parteien sind in den meisten europäischen Ländern Regierung (d.h. Exekutive) und Parlament (d.h. Legislative) so eng verbunden, dass z.B. von einer gegenseitigen Kontrolle nicht mehr die Rede sein kann. Wo Gewaltenteilung dann doch wieder funktioniert, wie in den USA, äußert sie sich aber auch teilweise in negativer Weise: Im U.S.-amerikanischen politischen System kann es vorkommen, dass Präsident und Kongressmehrheit von verschiedenen Parteien gestellt werden. Dann blockieren sich Exekutive und Legislative gegenseitig und sind geeignet, das politische System ineffizient zu machen, vielleicht sogar lahm zu legen. Wie steht es angesichts dieser Aspekte um das Konzept der Gewaltenteilung? Ist es noch zeitgemäß oder schon überholt? Wie man auch immer letztlich zu ihm stehen mag, eine Rückbesinnung auf seinen Ursprung, der in Lockes Schriften liegt, ist auch heute notwendig, wenn man seriös darüber diskutieren will. 

Ein mehr theoretisches Problem zeigt sich bei der Locke’schen Menschenrechtskonzeption, v.a. bei dessen Begründung. Anders als z.B. bei Popper hängen seine Erkenntnistheorie sowie seine politische Philosophie nicht konsequent zusammen; vielmehr gibt es wenig bis gar keine Verbindung zwischen ihnen. Locke geht als einer der ersten Philosophen der Neuzeit von der Existenz angeborener Menschenrechte aus, die von Natur aus vorhanden sind. Diese Annahme ist ohne Zweifel epochemachend, bahnbrechend und wünschenswert zugleich. Aber wie lässt sich dies mit einer anderen Annahme der Locke’schen Philosophie vereinbaren, dass alle legitime Erkenntnis aus der Erfahrung stammen soll? Man kann Menschenrechte nicht direkt beobachten, sondern höchstens ihre Verletzung; dies liegt v.a. daran, weil Rechte wesensmäßig nur Sollens-Anforderungen, keine Ist-Zustände sein können. Oder einfacher ausgedrückt: Man wird keine Menschenrechtserklärung als fertigen Kodex in einem Zellhaufen, einem Molekül oder einem Fixstern festgeschrieben finden; daher sind auch Sezierbesteck, Elektronenmikroskop oder Fernrohre keine geeigneten Instrumente, um dergleichen zu “entdecken” oder zu “beweisen”. Auch hüpfen Menschenrechte nicht wie Rehe und Wildschweine im Wald herum, fotografierbar für allerlei erholungssuchende Touristen oder wissensdurstige Naturforscher. Man muss sich also, um so etwas wie “von Natur aus” vorhandene Menschenrechte herzuleiten, wohl anderer Methoden bedienen als rein empirischer - wie immer diese aussehen mögen. Bloße Beobachtungen hingegen können höchstens den Anstoß zur Begründung der Menschenrechte geben, sind aber allein (d.h. ohne gedankliche Weiterführungen, Interpretationen und Zusatzannahmen) nicht ausreichend. Erst David Hume sollte später in seinem “Traktat” fordern, das “Ist” und das “Soll” ganz scharf auseinander zuhalten (“Humes Gesetz”). Locke ist dieses Problem wohl nicht klar ins Bewusstsein getreten; und seine methodische Begründung bzw. Beweisführung der Existenz der Menschenrechte bleibt streckenweise unklar. 

Zum Locke’schen Begriff der Menschenrechte ist auch noch ein weiterer Kritikpunkt möglich, der ebenfalls praktische politische Relevanz besitzt. Locke lebt in der Zeit des Frühkapitalismus; und der Schutz des Privateigentums durch den Staat spielt eine zentrale Rolle bei ihm. Im Naturzustand ist nach Locke Privatbesitz möglich, aber ständig gefährdet; der im Gesellschaftsvertrag begründete Staat findet seine Legitimation u.a. darin, dass er das Recht auf Privateigentum schützen muss. Im vorliegenden Buch soll nun nicht bestritten werden, dass ein naturgegebenes Recht auf Privateigentum existiert. Es erscheint aber aus heutiger Sicht sehr defizitär, dass Locke nur von politischen und wirtschaftlichen, aber in keinster Weise von der Existenz sozialer Menschenrechte ausgeht. Man hat aber nicht sehr viel von einem Recht auf freie Meinungsäußerung, wenn man zur selben Zeit hungert und friert; und auch nichts vom Schutz des Eigentums durch die Staatsmacht, wenn man gar nichts hat - und wenn im Namen der Eigentumsrechte der Reichen auf gesellschaftliche Solidarität gegenüber den Schwächsten der Gesellschaft verzichtet wird, sind diese unter Umständen sogar schädlich. Ein Menschenrecht auf zumindest minimale soziale Absicherung ist ohne Zweifel wünschenswert; und es ist durchaus denkbar, einen durch den Gesellschaftsvertrag geschaffenen Staat wenigstens zum Teil über die von ihm wahrgenommenen sozialen Pflichten zu legitimieren. 

In diesem Zusammenhang ist Lockes Erklärung von der Entstehung des Privateigentums von Interesse. Ursprünglich (d.h. im Naturzustand) war die Welt nach Locke Gemeinschaftsbesitz. Doch durch Arbeit eigneten sich einzelne Menschen Teile ihrer Umwelt an. Der eine bebaute sein Feld, der andere schöpfte Wasser, der andere fällte Bäume. Er fügte zur Umwelt daher seine Arbeitskraft hinzu; der gefällte Baum z.B. ist ein Rohstoff plus die in sein Fällen investierte Arbeitskraft. Die Arbeit als der weitaus wertvollere Teil dieser Verbindung gehört aber immer dem Arbeitenden; denn jeder hat von Natur aus ein Recht auf die eigene Person, welche die Arbeit verrichtet. Auf den gefällten Baum konnte daher im vorstaatlichen Zustand noch der am ehesten Anspruch erheben, der für sein Fällen gearbeitet hat; dies ist der naturrechtliche Ursprung des Privatbesitzes. Erst später, nach Abschluss des Gesellschaftsvertrags, wurden von dieser ursprünglichen Praxis abweichende Regeln und Gesetze zum Erwerb von Privatbesitz durch Übereinkunft aufgestellt. Die ursprüngliche Praxis tritt uns aber nach Locke immer dort wieder entgegen, wo die Situation mit der des Naturzustandes vergleichbar ist, z.B. bei der zu seiner Zeit erfolgten Besiedelung des noch unerschlossenen amerikanischen Kontinentes, auf dem ein Siedler auch Besitzansprüche v.a. durch Bearbeitung eines Stück Landes erwerben konnte. 

Ursprünglich war es nach Locke nicht legitim und auch nur schwer möglich, mehr Besitz zu erwerben als für den persönlichen Bedarf. In ganz frühen Zeiten fingen die Menschen Fische oder Wild, soviel sie eben aßen, und besetzten soviel Land, wie sie eben mit eigenen Händen sinnvoll bearbeiten konnten. Dies änderte sich nach Locke mit der Einführung des Geldes. Während die dauerhafte Anhäufung z.B. von selbstgefangenen Fischen durch die begrenzte Haltbarkeit derselben schwierig ist, kann Geld besser angesammelt werden. Erst durch die Einführung des Geldes konnten nach Locke also die massiven Besitzunterschiede innerhalb der menschlichen Gesellschaft entstehen. 

Dass manche ausgesprochen viel besitzen und andere vielleicht fast gar nichts, damit hat Locke aber keine Probleme. Die Einführung des Geldes, so argumentiert er, geschah im umfassenden Konsens der Menschen (dass man in der Gesellschaft mit Geld überhaupt bezahlen kann, setzt seine allgemeine Akzeptanz voraus; Geld gewinnt nur Wert durch Übereinkunft). Durch die Akzeptanz der Einführung des Geldes, meint er, haben sich die Menschen aber auch mit den sich daraus ergebenden Folgen einverstanden erklärt - und diese liegen eben in unterschiedlich großem Privatbesitz. Aber waren sich, könnte man zu dieser Argumentation kritisch anmerken, die das Geld prinzipiell akzeptierenden Menschen über diese Folge überhaupt bewusst? Und wenn sie darüber unwissend waren, wie können sie dann mit diesen einverstanden gewesen sein? Und selbst wenn man ein Einverständnis mit einer bestimmten Sache und Kenntnis der negativen Folgen voraussetzt - ist es nicht dennoch legitim, sich über die Abmilderung mancher negativer Folgen Gedanken zu machen? Wenn ich freiwillig ein Medikament nehme, um einer Krankheit zu entgehen, bin ich dann auch automatisch mit allen “unerwünschten Nebenwirkungen” einverstanden gewesen? Wenn, dann habe ich sie höchstens in Kauf genommen; aber wenn der Entwickler eines neuen Medikamentes sie beseitigt, wäre dies mehr als wünschenswert. Locke blieb aber wie gesagt gegenüber massiven Einkommensunterschieden innerhalb einer Gesellschaft unkritisch. Dennoch sind seine ökonomischen Einsichten beachtlich: Er erkannte z.B. die menschliche Arbeit als Quelle des Wohlstandes und gestand auch jedem Menschen ein ursprüngliches Recht auf seine Arbeit zu (angesichts der im Laufe der Geschichte immer wieder von Staatsbürgern geforderten Zwangsarbeit ist dies keineswegs selbstverständlich!). Ein Staat ist nach Locke dann mächtig, wenn er reich an Menschen ist; ihre Arbeit wird ihn aufblühen lassen. Flächenmäßig große Territorien sind seiner Meinung nach allerdings eher unwichtig. Der Besitz von riesigen, aber von Menschen unbearbeiteten und damit brachliegenden Ländereien nützt nicht viel. 

Weitere philosophische Probleme der Locke’schen politischen Philosophie hängen mit der Idee des Gesellschaftsvertrages zusammen, diese sind aber lösbar sind. Locke begriff den Naturzustand und den Gesellschaftsvertrag als historische Realität. Als solche können sie aber sehr schnell widerlegt werden: Staaten sind faktisch auf andere, viel irrationalere Art entstanden, als dass sich irgendwo eine große Anzahl Menschen versammelt und in einem von allen unterzeichneten Vertrag Rechte an eine Obrigkeit übertragen hätte. Doch es wäre vorschnell, das Gesellschaftsvertragsmodell einfach aus historischen Gründen zu verwerfen. V.a die “Theorie der Gerechtigkeit” des zeitgenössischen Denkers John Rawls, auf dessen Ansätze aus Platzgründen in diesem Buch nicht eingegangen werden kann, hat uns gelehrt, das Gesellschaftsvertragsmodell als das zu schätzen, was es ist, nämlich als philosophisches Konstrukt, als Gedankenexperiment, anhand dessen man die politische Legitimität eines real existierenden Staates überprüfen kann. Man kann z.B. Fragen: Wäre es vernünftigerweise denkbar, dass die Institutionen dieses Staates von rationalen Wesen bei freier und gleicher Entscheidung im Konsens festgelegt würden? Oder sind die Institutionen, Gesetze etc. so absurd, dass sie gegenüber diesem Modell nicht bestehen könnten? Solche und ähnliche Fragen sind im Sinne einer vernünftigen Reflexion über das eigene politische Gemeinwesen ständig notwendig; und als Hilfestellung zu diesem Nachdenken kann das Gesellschaftsvertragsmodell auch in Zukunft Bedeutung haben.

© dieses Textes: Patrick Horvath, Wien, 2002.

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