Patrick Horvath

Über die Beziehung zwischen Geistesstörung und Kreativität

Eine Fachbereichsarbeit aus "Philosophie und Psychologie" im Rahmen der Matura 1995

Prolog

"Ich sage euch: man muß noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können."1

Friedrich Nietzsche, einer der sprachgewaltigsten und gleichzeitig am heftigsten umstrittenen Philosophen des ausklingenden 19.Jahrhunderts, hat offenbar den evidenten, wenn auch von vielen geleugneten Zusammenhang zwischen verschiedenen Geistesstörungen und kreativen, schöpferischen Leistungen erkannt und diesen in seinem Buch "Also sprach Zarathustra" zum Ausdruck gebracht. Die vorliegende Arbeit soll eine wissenschaftliche, aber auch eine künstlerisch orientierte Aufarbeitung der verschiedensten Aspekte dieses Phänomens darstellen. Dabei möchte ich meine persönliche Hochachtung den landläufig als "verrückt" bezeichneten Menschen gegenüber äußeren, die unverstanden, verachtet, vertrieben oder sonstwie ungerecht behandelt über Jahrhunderte eine Außenseiterrolle einnahmen. Ihre Faszination liegt meines Erachtens in ihrer Andersartigkeit; in ihnen artikulieren sich vom normalen Bürger oftmals verdrängte oder verleugnete Triebkräfte, die, wenn richtig verwendet, großartige Leistungen hervorbringen.

I.) Einleitung und Definitionen

Eine unumgängliche Grundlage für die Annäherung an die Themenstellung stellt die Begriffsbestimmung mit Definition und Beschreibung der relevanten und zu diesem Thema untersuchten Geistesstörungen dar. Dies sind vor allem die Schizophrenie und das manisch-depressive Krankheitsbild, während andere psychische Störungen (Imbezillität, Schlaganfall) meist nur als Einzelfälle beschrieben wurden und keiner systematischen Aufarbeitung hinsichtlich ihres Einflusses auf das kreative Schaffen unterliegen.

Der Begriff Schizophrenie wurde 1911 von Eugen Bleuler geprägt und bedeutet nichts anderes als "Spaltungsirresein". Bleuler definiert die der Schizophrenie zugrunde liegende elementare Störung als "eine mangelhafte Einsicht, eine Zersplitterung und Aufspaltung des Denkens, Fühlens und Wollens und des subjektiven Gefühls in der Persönlichkeit"2. Das schizophrene Leben ist von einem Verlust von Einheitlichkeit und Ordnung geprägt. Eine Zerfahrenheit des Denkens und des Gefühlslebens ist zu beobachten, ebenso wie eine Störung des Gedankenganges. Die Aussagen Schizophrener sind oft verwirrt, sonderbar, unklar, bizarr, verschroben. Bemerkbar ist der Verlust von kausalen Zusammenhängen (Bleuler beschreibt:"Der Patient schlägt die Fensterscheiben ein, weil 'gerade der Arzt kommt')."3. Das Denken ist unlogisch, unklar. Dies ist vor allem bei von Schizophrenen beantworteten Fragen bemerkbar; Schizophrene neigen dazu, auf Fragen nicht einzugehen; die Antwort hat keinen kausalen Bezug zur Frage (nach Bleuler eine "Beziehungslosigkeit"). Als Beispiel für diese führe ich einen Teil eines von Navratil am 14.November 1969 aufgezeichneten Gesprächs an4, das er mit dem psychiatrierten Artur Säbelmann führte:

N:"Was denken Sie über Architektur ?"

S:"Die Architektur ist die Voraussetzung jedes Existentialismus."

N:"Wie ist das zu verstehen ?"

S:"Zu verstehen ist es durch den Winkel, den die Geraden zueinander einschließen. Die Gerade ist charakterisiert durch die Gleichung: y = ax + b."

N:"Hat die Architektur etwas mit Gesundheit zu tun ?"

S:"Die Architektur ist die Voraussetzung jeder Anatomie und Histologie...in normaler Formation."

N:"Was halten Sie vom Thema Genie und Architektur ?"

S:"Das hundertprozentige Genie stellt sich dar durch einen seelisch ausgeglichenen und moralisch gesicherten Menschen unter normalem Sternenzelt im afrikanischen Land."

Wie im angeführten Dialog ersichtlich, ist auch das Erstellen eines krankhaften Zusammenhangs zwischen verschiedenen Aussagen bemerkbar. Die schizophrene Sprache ist außerdem von Verdichtungen der Begriffe geprägt (traurig und grausam werden etwa zu "trauram" komprimiert). Von Bleuler werden Begriffsverschiebungen beobachtet: Eine Paranoide etwa "ist ein Bock"5, d.h. sie ist mit ihrem geliebten Pfarrer vereinigt: In ihren gestörten Gedankengängen ist Pfarrer nämlich gleichgesetzt mit Jesus Christus, dieser wieder mit dem Lamm, dieses mit dem Bock. Der Begriff "Pfarrer" ist daher durch "Bock" ersetzt. Schizophrene neigen zur Wortneuschöpfung und erfinden manchmal eine eigene Kunstsprache (Beispiel nach Bleuler: "guwesim ellsi bäschi was wie emschie wüsel dümte rischi güwe schäme brisell engwit rühsel schäme bärsel güwe" etc., Aussage einer Schizophrenen6).

Zielvorstellungen des Kranken sind dem Gesunden unverständlich; Ziele im Sinne des Gesunden fehlen.

Ebenso wie der Gedankengang ist die Affektivität gestört. Manchmal sind Patienten ohne die leisesten Gefühlsregungen, bei anderen herrscht etwa krankhafte Reizbarkeit. Die Störung der Affektivität kann sich dahingehend äußern, daß alles, was Freude erregen soll, Trauer oder Wut hervorruft (Parathymie). Oft ist auch die Reaktion auf ein gewisses Gefühl inadäquat (Paramimie); Patienten jammern etwa, wenn sie sich freuen. Der Verlust von Einheit ist auch bei den Affekten zu beobachten, Bleuler beschreibt eine Patientin, die gleichzeitig mit den Augen verzweifelt weinte und mit dem Mund herzhaft lachte7.

Schizophrene verlieren den Kontakt und den Bezug zur realen Welt, zur Wirklichkeit (Autismus). Dafür leben sie, zumindest teilweise, in einer Scheinwelt, geprägt von Gefühlen, Wunsch- und Zwangsvorstellungen oder Angstzuständen. Eine Patientin glaubt etwa ohne äußere Veranlassung, ein Arzt wolle sie heiraten. Andere sind z.B. der Überzeugung, sie wären ferngelenkt.

Der Schizophrene leidet oft an dem Gefühl der "Depersonalisation"8. Er kommt sich selbst fremd vor, fühlt sich auch von der Umwelt entfremdet. Patienten klagen z.B., sie müssen ihr "eigenes Ich suchen gehen", seien besessen oder hypnotisiert. Ihren eigenen Körper erkennen sie als verstümmelt, manche identifizieren ihr "wahres Ich" nur mit anderen Personen oder Gegenständen wie Sesseln, Stäben etc. Eine typische schizophrene Handlung in dieser Beziehung ist etwa, sich im Gesicht zu kratzen und gleichzeitig zu behaupten, ein anderer täte dies. Ein Patient Bleulers hielt sich für gestorben, als sein Bettnachbar starb9.

Sinnestäuschungen sind bei keiner anderen Geistesstörung so häufig wie bei der Schizophrenie. Dabei gibt es zahlreiche Variationen; Gehörstäuschungen, Gesichts- und Tasthalluzinationen sind die häufigsten. Schizophrene hören etwa das Flüstern, Sprechen oder Rufen fremder Stimmen, seltener dagegen Summtöne, Rasseln, Schießen, Donnern. Typische Gesichtshalluzinationen wären: Köpfe oder Hände tauchen kurz aus dem Nichts auf und verschwinden wieder; winzige Engel erscheinen; fremdartige Tiere laufen vorbei; Schlangen winden sich um den Körper; der Kranke sieht das Paradies oder die Hölle. Auch halluzinieren Kranke Körperempfindungen wie brennende Schmerzen oder fürchterliche körperliche Qualen.

Die Reaktion auf solche Täuschungen sind verschieden. Oft werden erhaltene Befehle, Eingebungen blind befolgt; am häufigsten aber folgen heftigste Gefühlsaufwallungen, Gewalttätigkeit, Drohungen.

Ebenso treten Wahnvorstellungen auf. Erwähnenswert, weil relativ oft auftretend, ist der Größenwahn. Der Betroffene hält sich für wesentlich mehr, als er ist (Erfinder, Prophet etc.). Ein von Navratil beschriebener Patient namens Thomas Wieser, ein 1827 geborener Lehrer, der um das 47.Lebenjahr herum erkrankte, unterschrieb zwei von ihm verfaßte Briefe folgendermaßen10:

1.)

Thomas Wieser

Regulator der Flüsse

Reformator österr.-ungar. Spitäler

Schriftsteller

Landesschulinspektor

Ehrenbürger

2.)

Dr. Thomas Wieser

Cardinal

Reformator

Deus

Admiral

Eroberer

Natürlich kann kein Kranker seinem Größenwahnsinn in der realen Welt und in der Gesellschaft entsprechen, daraus entspringt oft der Verfolgungswahn. Bei jenem spielen inhaltlich Nachstellungen eine Rolle. Der Kranke bildet sich ein, bestimmte Einzelpersonen (Ärzte, Verwandte) oder Gruppen (Freimaurer, Jesuiten, Mormonen, Geldwechsler, Terroristen, Gedankenleser, "die schwarzen Juden") würden ihn verfolgen, quälen, ihm Schaden zufügen und ähnliches.

Zusammenfassend ein Zitat, erneut aus dem Standardwerk Bleulers11: "Bei der Schizophrenie scheint also - und das will ihr Name besagen - die Gesamtpersönlichkeit aufgelockert, gespalten und der natürlichen Harmonie verlustig, was sich gleichermaßen in der Zerfahrenheit, der Parathymie und der Depersonalisation äußert."

Die Ursachen der Schizophrenie sind nicht geklärt. Navratil schreibt, daß es kaum einen Psychiater gibt, der nicht seine eigenen Ansichten über jene hätte12. Im wesentlichen versucht man die Krankheit durch genetische Veranlagungen, Umwelteinflüsse (etwa das Lebensschicksal) oder durch ein Zusammenwirken dieser beiden Faktoren zu erklären, wobei jedem Aspekt von unterschiedlich orientierten Fachleuten eine unterschiedlich starke Bedeutung eingeräumt wird.

Weiters müssen das manische und das depressive Krankheitsbild erklärt werden. Beide Erkrankungen treten meist gemeinsam, einander periodisch abwechselnd auf. Beide sind gekennzeichnet durch den phasischen Verlauf. Sehr selten kommt es dazu, daß nur manische Phasen ohne Depressionen auftreten; etwas häufiger, aber noch immer in einer außerordentlich geringen Zahl, kommt es vor, daß Patienten nur depressive Phasen aufweisen. Auf spezielle Sonder- und Mischformen (Galgenhumor, Mischpsychosen etc.) möchte ich hier nicht eingehen.

Der manische Zustand besteht in übertriebenem Frohmut. Die Kranken sich glücklich, von ungeahnten Kräften erfüllt, euphorisch. Traurige Ereignisse nehmen sie kaum wahr. Sind sie mit geringsten Schwierigkeiten konfrontiert, begegnen sie diesen mit rasendem Zorn und ungeheurer Wut. Das Denken manisch Kranker ist ideenflüchtig, es fällt ihnen schwer, bei einem Thema zu bleiben. Rasch verlieren sie sich in Details, springen von einer flüchtigen Vorstellung in die andere. Das Denken ist zusammenhängend, auch sind einzelne Gedankengänge klar, jedoch ist der Gedankenfluß sehr schnell und oberflächlich. Wesentliches etwa kann nicht fertig gedacht werden. Die Aufmerksamkeit ist leicht ablenkbar. Maniker setzen ihre Ideen flink in Handlungen um, aber ohne sich -wie z.B. ein Schizophrener- dazu gezwungen zu fühlen. Eine Erhöhung des Interesses für Wichtiges und Unwichtiges ist zu beobachten. Kranke kommen ohne Beschäftigung nicht aus; Bleuler schreibt, sie "leiden an Tatendrang"13. Maniker kommen selten zur Ruhe, schlafen kaum. Wesentlich öfter als Größenwahnvorstellungen treten Überschätzungsideen auf. Gegen Exzesse (z.B. sexuelle, alkoholische etc.) fehlen die Hemmungen. Maniker sind oft überzeugte Weltverbesserer. Der Verlust der Hemmungen provoziert eine Mißachtung der Konventionen (z.B. werden beiläufige Ohrfeigen verteilt, Leute leichtfertig beschimpft; Neigung zur Querulation macht sich v.a. bei Männern, schamloses erotisches Verhalten v.a. bei Frauen bemerkbar). Maniker neigen dennoch nicht zu gröberen Gewalttaten.

Depressive Kranke sind von Leid erfaßt und gequält. Ihre Handlungen sind schmerzbetont, ihre Aussagen ebenso. Eugen Bleuler beschreibt ihren Gemütszustand so: "Sie selbst kommen sich klein, häßlich, sündig, minderwertig, hilflos und befleckt vor, die Mitmenschen und die ganze Welt erleben sie als groß, bedrohlich, mächtig und unheimlich."14. Der mimische Ausdruck ist dementsprechend schmerzlich, ängstlich, verzweifelt, leidend. Depressive (auch Melancholiker genannt) fühlen eine krankhaft übersteigerte Traurigkeit. Anders als bei Manikern ist ihr Gedankengang gehemmt. Bewegungen sind kraftlos und nur unter größter Anstrengung möglich. Wahnideen fehlen nie, allesamt beziehen sie sich auf ökonomischen, körperlichen und seelischen Ruin. Manchmal wirkt sich die Depression in Schlaflosigkeit, Nervosität, Herzbeengung oder Ohrensausen aus. Schwere Melancholiker besitzen einen starken Selbstmordtrieb.

Als Ursachen des manisch-depressiven Krankseins werden nach Bleuler stoffwechselpathologische phasische Vorgänge angenommen (er ordnet diese Krankheit den "endogenen Psychosen"15 zu), posttraumatische Umstände schließt er aber nicht aus; dies sind allerdings nur Vermutungen. Die wahren Ursachen sind noch nicht geklärt.

Nachdem die für diese Arbeit wichtigen Geistesstörungen wenigstens annähernd definiert sind, muß, um auf den Titel einzugehen, bei dieser Gelegenheit auch die Frage gestellt werden: "Was ist Kreativität ?".

Ganze Abhandlungen wurden über diesen Begriff verfaßt, der kreative Prozeß wurde in Phasen gepreßt und mit -oft mangelhaften- Beispielen belegt. Es tauchen Begriffe wie "Inkubationsphase" und "Erleuchtungsphase" auf (Wallas), selbst Verbindungen zur Intelligenz wurden hergestellt, schließlich wurde die Kreativität sogar quantifiziert. So glaubten Getzels und Jackson unter 499 Kindern einer Schule 26 "sehr kreative" zu entdecken. Zweifelhaft ist dabei aber nicht nur die Art der Stichprobenauswahl, die auch von anderen Forschern kritisiert wurde, sondern vor allem die Methode der Messung der Kreativität. Es ist evident, daß solch ein Vorgehen keine Basis für eine seriöse Betrachtung dieses komplexen Phänomens darstellen kann.

Natürlich ist eine einheitliche, allgemeingültige Beantwortung der Frage nach dem Wesen der Kreativität unmöglich, zumal es keine einhellige Auffassung dieses Begriffes zu geben scheint, jedoch kann man sich dieser Beantwortung annähern.

Der große Brockhaus beschreibt Kreativität zunächst folgendermaßen:

"Kreativität (von lat. creare >erzeugen<) schöpferische Kraft, schöpfer. Einfall; im Unterschied zum rein analytischen Denken bes. durch das Finden neuer Aspekte und Ansätze zu Problemlösungen gekennzeichnet."16

Wann ist nun ein Einfall schöpferisch ?

Wenn er ein Werk schöpft bzw. der Schöpfung vorausgeht.

Was ist eine Schöpfung ?

Schöpfung ist das Setzen des Ursprunges einer Sache.

Ein Einfall ist also dann schöpferisch, wenn er den Ursprung einer gewissen Sache setzt.

Kreativität muß also den Ursprung einer gewissen Sache bedingen.

Was ist die Natur dieser Sache ?

Diese Sache könnte z.B. ein Kunstwerk sein.

Wenn Kreativität also die Setzung des Ursprunges eines Kunstwerkes sein kann, stellt sich die Frage, was der Ursprung des Kunstwerkes eigentlich ist.

An dieser Stelle liegen Überlegungen Martin Heideggers nahe: "Das, was etwas ist, wie es ist, nennen wir sein Wesen. Der Ursprung von etwas ist die Herkunft seines Wesens. Die Frage nach dem Ursprung des Kunstwerkes fragt nach seiner Wesensherkunft. Das Werk entspringt nach der gewöhnlichen Vorstellung aus der und durch die Tätigkeit des Künstlers. Wodurch aber und woher ist der Künstler das, was er ist ? Durch das Werk; denn, daß ein Werk den Meister lobe, heißt: das Werk erst läßt den Künstler als einen Meister der Kunst hervorgehen. Der Künstler ist der Ursprung des Werkes. Das Werk ist der Ursprung des Künstlers. Keines ist ohne das andere."17

Wenn der Gedankenfluß soweit gediehen ist, erkennt man, daß auf diesem Weg die Beantwortung der Frage "Was ist Kreativität ?" nicht gewährleistet werden kann, weil auch Heidegger in seiner philosophischen Arbeit keine einheitliche Beantwortung der Frage "Was ist Kunst ?" erzielen kann.

Greifen wir also zurück auf unser letztes Postulat.

Kreativität muß den Ursprung einer gewissen Sache bedingen.

Was ist die Natur dieser Sache ?

Diese könnte z.B. eine Erfindung sein.

Eine Erfindung könnte man dahingehend umschreiben, daß sie die Neukombination gewisser früher gewonnener Erkenntnisse ist. Die Erfindung der erfolgreichen Verpackung "Tetra Pak" etwa kombiniert die bekannten Vorteile des Kartons (geringes Gewicht, billige Herstellung etc.) mit den Vorteilen der Form (leichte Stapelbarkeit). Selbst komplexe Systeme wie der Computer oder das Automobil bestehen praktisch ausschließlich aus einer Kombination verschiedener vorher bereits bekannter technischer Errungenschaften.

Die Kreativität eines Erfinders liegt also hauptsächlich darin, bereits vorhandene Erkenntnisse auf eine neuartige Weise zu kombinieren. Philosophisch gesehen ist also Kreativität u.a. ein gewisser Sinn für die Neukombination.

Navratil gibt auch eine psychologische Definition :"Immer ist Kreativität eine Leistung oder zumindest die Spur einer Leistung, die auf einer höheren Erregungsstufe des Zentralnervensystems, inneren Gesetzen folgend, stattgefunden hat."18

Psychologisch gesehen ist also Kreativität durch eine höhere Erregungsstufe bedingt.

Diese beiden Postulate, die aus der hier vorgenommenen (unkonventionellen) Annäherung resultieren, sollten für die weiteren Kapitel der Arbeit zunächst ausreichend sein.

II.) Historische Aspekte

Nicht erst seit der Nacht auf den 24.Dezember 1888, als sich der heute weltberühmte Maler Vincent van Gogh in einem Anfall geistiger Umnachtung den unteren Teil seines linken Ohres abschnitt, diesen in Zeitungspapier einwickelte und der ihm bekannten Prostituierten Rachel als "Geschenk" ins Bordell brachte19, beschäftigen sich Gelehrte mit dem Phänomen der Beziehung zwischen Geistesstörung und Kreativität, vom Volksmund auch in dem geflügelten Wort "Genie und Wahnsinn" artikuliert. Schon römische Philosophen erkannten den evidenten Zusammenhang; "Non est magnum ingenium sine mixtura dementiae.", berichtet schon Seneca. Es muß zunächst einmal auf die nicht geringe Zahl schöpferischer, schaffender, kreativ tätiger Personen hingewiesen werden, die, beflügelt von wahrhaft genialen Gedanken, aus eigenem Antrieb künstlerisch tätig, im Laufe ihres Lebens von einer Geisteskrankheit heimgesucht wurden. Rousseau etwa, der geistige Vorvater der französischen Revolution, war nach E.Kretschmer ein "schwer geisteskranker Verfolgungswahnsinniger"20, Robiespierre, der maßgeblich an der Umsetzung dieses Umsturzes beteiligt war, der "Prototyp eines schizoiden Psychopathen"21. Der wahrscheinlich bedeutendste Philosoph des vorigen Jahrhunderts, Friedrich Nietzsche, war von der Geistesstörung ebenso betroffen wie Sir Francis Galton, der Begründer der Eugenik, und Sir Isaac Newton, der prägendste Physiker seiner Zeit. Alleine die Reihe der Dichter ließe sich lange fortsetzen: Tasso, Kleist, Hölderlin, Lenau, Dostojewsky, Strindberg, um nur die berühmtesten zu nennen, weisen nach E.Kretschmer "handgreifliche Geisteskrankheiten"22 auf; Maler wie der eingangs genannte van Gogh oder der Komponist Schumann gelten im Volk schon fast als Allegorien des irrsinnigen Genies. Eine Feststellung kann gleich eingangs getroffen werden, eine Feststellung, die sich auch mit den Erfahrungen und dem Wissensstand des Normalbürgers deckt: Geisteskrankheiten sind, so beweist die Geschichte, unter genialen Menschen häufiger als unter dem Durchschnitt der Bevölkerung. Goethes dichterisches Werk ist ein weiteres Beispiel für die Richtigkeit dieser Behauptung. Möbius hat festgestellt, daß es in hohem Maße in heftige manische Phasenschwankungen eingebettet ist; so weisen etwa die in depressiven Phasen entstandenen Werke eine gar künstlerische Unfruchtbarkeit auf, während die "regelmäßig wiederkehrenden, ans Hypomanische anklingenden gehobenen Stimmungsphasen die Träger fast aller genialer Leistungen Goethes geworden sind"23. Diese seltsame Periodik ist verblüffend und läßt zumindest auf ein leichtes manisch-depressives Krankheitsbild schließen, sonderlich wenn man bedenkt, daß die Geisteskrankheit in Goethes Familie häufig aufzufinden ist; diese Erbanlage äußerte sich bei seiner Schwester Cornelie als schwere Schizophrenie.

Alfred Bader stellte sich die Frage, worauf der künstlerische Rang eines Louis Soutter zurückzuführen ist. Louis Soutter, der an einer schizophrenen Psychose litt, wird für den bedeutendsten Schweizer Maler dieses Jahrhunderts gehalten. Bader nimmt an, daß Soutter gerade durch seine Krankheit die für ihn typische künstlerische Ausdrucksweise gefunden hat. "Wenn er keine Geisteskrankheit durchgemacht hätte, wie wäre dann sein Schicksal verlaufen ? Wäre er ein guter Zeichenlehrer oder ein durchschnittlicher Maler geworden wie so unzählige andere ? Oder vielleicht einer der großen Maler, die einen Platz in der Kunstgeschichte beanspruchen dürfen ?", fragt Bader und antwortet: "Was uns betrifft, so wagen wir das zu bezweifeln; wir haben gute Gründe zu glauben, daß Soutter gerade dank seiner Psychose einer der erstaunlichsten Maler der Moderne geworden ist. Seine Schizophrenie hat die Schranken der Konvention, der akademischen Gepflogenheiten, der äußerlichen Gegebenheiten zu Fall gebracht. Sie hat es ihm erlaubt, sich ohne irgendwelche Rücksicht oder Hemmung auszudrücken, in seinen Bildern seine Ängste, Qualen, Leiden, ja seine Hölle spontan zu formulieren."24

Alfred Baders Urteil lohnt sich, besprochen zu werden. Der gesunde Mensch neigt dazu, auf Geisteskranke mit einer gewissen Überheblichkeit und Arroganz herabzublicken, ohne zu bedenken, daß gerade die Unkonventionalität und Andersartigkeit des Denkens, der "Mangel an Einheit und Ordnung"25, der nach Eugen Bleuler mit der Schizophrenie einhergeht, oder der Verlust des Bezuges zu althergebrachten, oft auch verfahrenen Richtlinien und Denkschemata Vorraussetzung für neue Ideen ist. Großartige Leistungen entstehen nicht aus Herkömmlichkeit. "Geistig gesund, so können wir sagen, ist, wer im Gleichgewicht ist und sich wohl fühlt. Gemütsruhe und Behagen aber sind noch nie ein Sporn zu großen Taten gewesen."26, schreibt Kretschmer. Großartige Leistungen entstehen wohl auch nicht aus zufriedener Unbekümmertheit heraus. Ein bescheidener, ruhiger, wohlsituierter, gesunder Normalbürger paßt sich an halbwegs erträgliche Situationen an, begehrt nur selten auf. Kann man durch ein solches Verhalten zu bahnbrechenden Erkenntnissen gelangen oder virtuose Musikstücke komponieren ? Kann man, wenn man nicht durch innere Zweifel und Widersprüchlichkeit gequält ist, ein großartiges Kunstwerk schöpfen ? Wohl kaum. Vielleicht ist gerade der Verlust des inneren Gleichgewichts Vorraussetzung dafür.

"Ich sage euch: man muß noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können."27, schreibt schon Friedrich Nietzsche, der selbst von der geistigen Umnachtung heimgesucht wurde und sich des Grenzganges zwischen Genie und Wahnsinn durchaus bewußt war. Unter Berücksichtigung dieser Aspekte scheint Baders Annahme plausibel. Logische Gründe, warum die Geistesstörung künstlerische Leistungen unter bestimmten Umständen fördert, sind gegeben.

Auffällig sind die oft ungeheuer tragischen Einzelschicksale genialer Schöpfer. Als Paradebeispiel kann erneut der Philosoph Friedrich Nietzsche dienen. Seine Werke, die das gesamte 20.Jahrhundert maßgeblich prägten, blieben zu seiner Zeit praktisch ohne Resonanz; von körperlichen Gebrechen mitgenommen war er gezwungen, ohne ständige Bleibe und Unterkunft ein unstetes Wanderleben zu führen. Zeit seines Lebens war er ein unbeachteter, isolierter Außenseiter, der im ständigen Widerspruch zum Zeitgeist stand und einsam in geistiger Umnachtung starb, ohne je einen Menschen gefunden zu haben, der ihn liebte. Heinrich von Kleist, heute ein gefeierter Dramatiker, erlebte keine einzige Aufführung seiner Stücke; geplagt von Zweifel und der mangelnden Fähigkeit, sich anzupassen, führte er ein Leben, das von Unruhe, und seelischer Not geprägt war und 1811 im Selbstmord endete. Dem Lyriker Friedrich Hölderlin ist es ähnlich ergangen. Auch er starb unbeachtet nach einem Leben, das von häufigem Ortswechsel und mangelndem beruflichen Erfolg gezeichnet war, als Außenseiter in geistiger Umnachtung nach schwerer Krankheit. Der eingangs schon erwähnte Vincent van Gogh tötete sich selbst, indem er sich eine Kugel in die Brust schoß. Auch er war ein gesellschaftlicher Außenseiter. Der Künstler, dessen Bilder heute unbezahlbar sind, verkaufte selbst nur ein einziges Bild zu einem Spottpreis an einen Verwandten. Er starb mißachtet, ausgestoßen, psychiatriert. Seine Zeitgenossen erkannten die Tragweite seines Schaffens nicht.

Die Erklärung solcher tragischer Lebensläufe liefert Ernst Kretschmer: "Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, weshalb sich der geniale Mensch durch sein Leben oft so mühsam, wie durch ein endloses Dornengestrüpp durcharbeitet, weshalb er von seinen Lehrern verkannt, von seinen Eltern verstoßen, von seinen Zeitgenossen belächelt und ignoriert wird, weshalb er sich immer wieder mit seinen Gönnern überwirft, weshalb sich ihm immer wieder durch geheime Tücken die schönsten Aussichten versperren, weshalb ihm sein Leben in Sorge, Zorn, Verbitterung und Schwermut verstreicht ? Gewiß, ein großer Teil der Schuld liegt dort, wo man sie immer gesucht hat: bei der Umwelt, bei ihrem Unverständnis für das geistig Außergewöhnliche und - bewußt oder unbewußt - bei dem einfachen schlichten Neid des Gewöhnlichen, den der Ungewöhnliche überflügeln will. Die andere große Hälfte der Ursachen für die typischen Lebensschwierigkeiten des Genies aber liegt an einer anderen Stelle. Der gesunde Mensch paßt sich an, er paßt sich schließlich auch der schwierigsten Situationen an, er schlägt sich durch, hat Geduld, behält immer frohen Mut, er weiß sein Leben so zu nehmen wie es ist, er findet sich mit gesundem Instinkt unter gesunden Menschen zurecht. (...) Wer sich aber unter gesunden Menschen nicht dauernd zurechtfindet, ist aber kein ganz gesunder Mensch. Erinnern wir uns an Lebensläufe, wie etwa von Michelangelo oder von Feuerbach - ein beständiger jäher Wechsel von Erfolg und Mißerfolg, eine Kette von Verbitterungen, Verzweiflungen, Enttäuschungen, heftigen Auftritten, ein Taumel von einem Konflikt in den anderen. Dies ist nun mit das sicherste ärztliche Reagens für den regelwidrig gebauten, den psychopathischen Menschen, daß er im regelrecht gebauten normalen Leben entgleist und anstößt. Und bei genialen Naturen dieser Art finden wir nun auch sonst eine Menge, sicherlich krankhaft zu wertenden Anzeichen, Ansätze zum Verfolgungswahn, Neigung zu psychogenen Affektreaktionen, ausgesprochene Geistesstörungen in der nächsten Blutsverwandtschaft und dergleichen."28

Ein solcher Lebenswandel hängt also eng mit der psychotischen Erkrankung zusammen, die, wie eingangs schon festgestellt, unverhältnismäßig häufig bei Genies auftritt. Weist ein Künstler also ein solches Leben auf, kann man mit einer gewissen Sicherheit auf geistige Abnormalität schließen.

III.) Psychose und Kreativität

Im Kapitel II wurde geklärt, daß Geistesstörungen bei berühmten historischen Persönlichkeiten außerordentlich häufig auftreten. In diesem Kapitel gilt es, die Frage zu behandeln, inwieweit Geisteskranke gerade durch die Psychose zu kreativen Leistungen angeregt werden. Werden Geisteskranke durch die Psychose auf manchen Gebieten zu kreativen Künstlern, zu Genies ?

Es gibt wohl zwei Grundvoraussetzungen für kreative Leistungen: einerseits den Antrieb, den Willen, der die Einzelperson zu diesen veranlaßt, die primäre Überzeugung, etwas schöpfen zu können; andererseits aber die hervorragende Ausführung des Werkes. Betrachten wir zunächst den Antrieb zu kreativen Leistungen. Beim Maniker ist ein starker Tatendrang bemerkbar. Die Höhepunkte einer manischen Phase sind aber nicht unbedingt die kreativsten; Maniker sind hier zu sehr ideenflüchtig, beginnen viel zu viel und bringen kaum etwas zu Ende. Die Phasen, die bei ihnen vom leistungsfähigen Tatendrang geprägt sind, sind die "hypomanischen". In diesen Zeiträumen macht sich der verstärkte Tatendrang bemerkbar, die Krankheit ist aber noch weit von ihrem Höhepunkt entfernt und zeigt erst im weiteren Anschwellen ihre negativen Auswirkungen. Maniker sind dann, laienhaft ausgedrückt, in einer Art Zwischenstadium von gesund und krank. In der Depression, die sich meist periodisch mit der Manie abwechselt, erfolgt keine wie auch immer geartete Leistungssteigerung; schwere Melancholiker werden von jedem Tatendurst verlassen.

Die Schizophrenie verursacht nicht zwangsläufig eine Steigerung des Antriebes zu neuen Taten. Navratil berschreibt in seinen zahlreichen Büchern immer wieder Fälle von Kranken, die einer ständigen Ermunterung bedürfen, eine ständige Aufforderung benötigen. Zahlreiche Schizophrene leiden auch an so starken Ausprägungen der Psychose, daß sie sich zu sehr bzw. vollkommen von der Außenwelt abkapseln und ohne Bezug zu dieser in einer Traum- oder Scheinwelt leben; sie sind unansprechbar und untätig. Ein solches Verhalten kann wohl kaum den kreativen Antrieb erhöhen oder beschleunigen. Auf Höhepunkten der schizophrenen Psychose sind Patienten oft nur zum primitiven Hiebkritzeln fähig29. Man kann daher auf keinen Fall sagen, es sei typisch für die Schizophrenie, den Antrieb zu erhöhen. Dies wurde auch in keiner mir bekannten Studie nachgewiesen. Sicher kann man sagen, daß die schöpferische Kraft in besonders starken Phasen oder Ausprägungen dieser Psychose fast vollkommen eingeschränkt wird. Natürlich kann aber auch ein Schizophrener manische Stimmungsphasen durchlaufen, was die Schaffenskraft in dieser Zeit erhöht und ihn in Kombination mit seiner Grundkrankheit zu außergewöhnlichen Leistungen befähigt30.

Interessanter als diese Betrachtung ist aber jene der Ausdrucksformen künstlerischen Schaffens, explizit und insbesonders bei der Schizophrenie. Der Verfasser der wichtigsten und bekanntesten Werke dazu ist Leo Navratil. Der Psychiater und Wiener Universitätsprofessor gilt als Kapazität und Autorität in der Forschung an schizophrenen Künstlern und Gestaltern. Seine aus seiner langjährigen Beobachtung an seinen Patienten dokumentierten Ergebnisse dienen mir als Grundlage zur Beschreibung der schizophrenen Stilelemente, die immer wieder auftreten31.

Wir unterscheiden drei Hauptmerkmale schizophrenen Gestaltens:

1.) Physiognomisierung

In der ungewöhnlichen Gestaltung eines Briefumschlages einer schizophrenen Patientin (Bild in: Navratil, Schizophrenie und Kunst) äußert sich die sogenannte "Physiognomisierungstendenz". Unter dieser verstehen wir das Verleihen einer Physiognomie dort, wo in Wirklichkeit keine vorhanden ist. Ein von einem Geisteskranken gezeichnetes Haus erhält etwa während des Zeichenvorganges immer mehr Ähnlichkeiten mit einem menschlichen Gesicht, der Lattenzaun mutet plötzlich wie eine Reihe bleckender Zähne an, das Dach erinnert an einen Hut, der Weg zur Haustür gleicht einer Nase und die Fenster stellen eindeutig Augen dar (Bild in: Navratil, Schizophrenie und Kunst).

2.) Formalismus und Deformation

Das schizophrene Gestalten ist entweder durch Überbetonung oder durch den Verlust formaler Kategorien gekennzeichnet. Nach Navratil sind diese Elemente nahe miteinander verwandt. Er bezeichnet beide Tendenzen als "Formalismus" und "Deformation"32.

Die Geometrisierungstendenz ist ein Ausdruck des ersteren und eine Überbetonung der Ordnung. Schon Kretschmer weist auf die Neigung des Schizophrenen zu geometrisierendem Gestalten hin33. Tests haben ergeben, daß manche Schizophrene sogar in Klecksbildern geometrische Figuren erblicken. Ein von Kretschmer behandelter Kranker drückt diesen Geometrisierungsdrang folgendermaßen aus: "Ich stelle mir alle realen anschaulichen Formen gerne in geometrischer Stilisierung, als Dreieck, als Viereck und Kreis vor. Alles in ein Schema bringen, der realen Wirklichkeit entkleiden !"34. Auch dazu finden sich Bildbeispiele in Navratils Buch "Schizophrenie und Kunst", unter anderem auch schwarze quadratische Menschendarstellungen von einem Schizophrenen. Die Geometrisierung tritt vor allem in der Heilungsphase der Psychose auf und kennzeichnet vielleicht ein Zurückfinden zur Ordnung.

Deformierungen sind auffällig und "schockierend", kommen einer Entstellung des Gesamtkomplexes gleich. Unnatürliche Vergrößerungen, krasse Disproportionen und ähnliches sind in diesem Zusammenhang typisch. Dislokalisation (darunter versteht man die Wiedergabe einzelner Teile eines Gegenstandes an der falschen Stelle) treten oft auf. Arme werden z.B. direkt am Kopf angebracht oder die Brüste einer gezeichneten Frauengestalt werden gegen die Mitte verschoben. Eine Neigung zur Distorsion (=Verdrehung) tritt ebenfalls auf.

Die teilweise Verschmelzung von Vorder- und Seitenansicht des Gesichtes ist eine Sonderform der Distorsion. Man nennt dieses Stilelement das "gemischte Profil". Dieses kann in einer Fülle von verschiedenen Kombinationen auftreten. Am häufigsten sieht man Gestaltungen, bei denen zwei Augen den Betrachter frontal anblicken, wobei sich allerdings Nase oder Mund oder beides in Profilstellung befinden. Es gibt aber verschiedenste Variationen; so können Mund oder Nase weggelassen oder einzelne Details auch verdoppelt werden.

Schizophrene neigen dazu, die Konturen entweder überzubetonen (Hang zum Formalismus) oder zu vernachlässigen (Hang zur Deformation). Navratil deutet dies als "eine Störung in der Integration des Ichs und in dem Verhältnis des Individuums zur Außenwelt hin"35. Verdoppelungen der Konturen sind ebenso zu beobachten wie deren Auflösung. Anhand solcher Zeichnungen kann der Psychiater Schlüsse auf das Innenleben seines Patienten ziehen. Die Hervorhebung von Konturen findet man hauptsächlich in Restitutionsphasen schizophrener Schübe; ja man könnte vielleicht sogar soweit gehen zu behaupten, daß der Kranke zu sich selbst zurückfindet, Abwehrmechanismen gegen seine Spaltung einschaltet und dies mehr oder weniger unbewußt ausdrückt. Die Auflösung von Konturen, das Ergießen aller Details in den Raum, die mehr oder weniger daraus resultierende unvollständige Abgrenzung der Figuren zur Umwelt und deren Deformation zeigen oft einen weitgehenden Ichverlust, auch eine Art Depersonalisation. Navratil bringt ein Bildbeispiel von einem faseligen Schizophrenen (Faseln=Störung des Gedankenablaufes bei Schizophrenen; Sätze werden nur bruchstückhaft wiedergegeben und unzusammenhängend aneinandergereiht), bei dem es "zu einer weitgehenden Auflösung der Grenze zwischen Ich und Außenwelt gekommen war"36.

Eine weitere Möglichkeit des deformierenden Gestaltens ist das Verstümmeln. Bei der Zerstückelung werden einzelne Teile des Gesamtbildes nicht nur deloziert, sondern vollständig voneinander getrennt. "Meist fehlt der Umriß, der die Details zum Ganzen verbindet, oder aber es liegen einzelne Teile eines Gegenstandes außerhalb von dessen Kontur", kommentiert Navratil diese Art der Deformation37.

Wie die Überbetonung und die Vernachlässigung der Konturen ist für die Schizophrenie auch die vermehrte oder verminderte Beachtung des Randes der Zeichenfläche charakteristisch (Bild in: Navratil, Schizophrenie und Kunst).

3.) Symbolbildung

Der dem Gesunden gegenüber erhöhte Symbolismus ist neben Physiognomisierung und Formalismus eines der Hauptmerkmale der schizophrenen Bildgebung. Symbole sind nach Kretschmer bildhafte Vorstadien der Begriffe. Zur Symbolbildung wiederum ist als primärer Vorgang die Bildagglutination notwendig, also die gefühlsstarke Bildverschmelzung38. Solche Bildagglutinationen liegen z.B. in der Vielfalt der Mischwesen und Monstren vor, die die Vorstellungswelt des archaischen Menschen beherrschten. Mythische Wesen wie der Minotaurus, Sphinxe, Sirenen, Zentauren und Nixen tauchen aber auch in Werken Schizophrener immer wieder auf.

Typische Symbole und Formelemente:

- Das Auge

Augen werden von Schizophrenen entweder überbetont oder auf das Gröbste vernächlässigt. Der Schizophrene Paul, ein Patient Navratils39, ließ z.B. in depressiven Phasen die Augen seiner Figuren aus, betonte sie aber in manischer Stimmung. Andere Patienten stellen nur leere Augenhöhlen dar, manche verdecken sie, manche "vergessen" die Pupillen. Die Darstellung der Augen ist außerordentlich variantenreich und meist auf ihre Art extrem. Dies ist vor allem durch die Bedeutung des Auges in der menschlichen Psyche zu erklären; nicht nur, weil zahlreiche Gefühle mit einem bloßen Blick übermittelt werden können, sondern weil, wie die Psychoanalyse festgestellt hat, das Auge dem Menschen als Sexualsymbol gilt; so wird die Selbstblendung des Ödipus von Freud als symbolische Kastration aufgefaßt. Die Augen sind in der schizophrenen Gestaltung als Formelemente äußerst aussagekräftig; sie stehen mit den stärksten Gefühlen der menschlichen Seele in Verbindung.

 

- Die Spirale

Die jahrhundertelange Faszination, die die Kunst der Spirale entgegenbringt, ist sicherlich gerechtfertigt: die Spirale, die sich selbst unendlich nach allen Seiten vergrößert, bietet durch die seltsame Dynamik, die sie ausstrahlt, ein reichhaltiges Repertoire an Deutungsmöglichkeiten. Ein schizophrener Patient Navratils verfaßte alle seine Briefe in Spiralform40, andere benutzen sie häufig als ornamentale Verzierung ihrer Werke.

 

-Das Labyrinth

Navratil deutet die Labyrinthdarstellung einiger seiner Patienten als die Artikulation ihrer Auswegslosigkeit, ihres geistigen Dilemmas, ihrer seelischen Not, der Zwangslage, in der sie sich befinden, und der Hoffnungslosigkeit in ihrem Dasein. Es klingt plausibel, daß das Labyrinth als Umschreibung für verfahrene Situationen dient. Navratil schreibt: "Der Mensch, dem das Labyrinth Sinnbild der Welt wird, steht am Rand der Verzweiflung"41.

 

-Die Maske

Navratil schreibt: "Die Maske ist ein Hilfsmittel der Personwerdung. Sie ist ein Sinnbild des Ichs, das im Entstehen oder Zerbrechen begriffen ist"42. Die Maske kehrt als Motiv bei der schizophrenen Darstellung immer wieder. Vielleicht ist sie ein Symbol des seelischen Konfliktes ? Oder vielleicht des Versuchs der Selbstfindung und Persönlichkeitsneubildung ?

 

-Der Januskopf

Dies ist meines Erachtens das ausdrucksstärkste aller möglichen Sinnbilder. Die doppelgesichtige Gottheit zeigt vielleicht am besten und eindrucksvollsten die Gespaltenheit, das ureigenste Wesen der schizophrenen Psychose.

 

Deutung und Erklärung des schizophrenen Stils

Navratil sieht die drei oben angeführten Tendenzen nicht spezifisch für die schizophrene Psychose geltend. Er bezeichnet sie als "kreative Grundfunktionen"43 und erachtet sie als allgemeinmenschlich. Er vergleicht die Ausdrücke der schizophrenen Psychose mit den ersten Zeichnungen kleiner Kinder und findet dieselben Tendenzen; die eine tritt bald stärker, die andere bald schwächer auf. Diese Funktionen werden individuell verschieden eingesetzt, sind aber in einem starken Maß vorhanden. Wer kennt nicht das obligate Gesicht in der im Kleinkindalter gezeichneten Sonne als Beispiel für die Physiognomisierung ? Aber Navratil findet noch bestechendere Beispiele (Bilder in: Navratil, Schizophrenie und Kunst).

Diese Ähnlichkeit der Ausdrucksformen von schizophrenen Künstlern und Kleinkindern bedeutet aber keine Regression des Geistesgestörten ins Kleinkindalter. Bei genauer Analyse, wie sie etwa Zinggl und Chlubna anstellten, lassen sich die Werke beider Gruppen trotz gleicher Stilelemente durchaus auseinanderhalten44.

Natürlich sind Kleinkinder nicht schizophren, ebensowenig wie die zahlreichen Primitivvölker, die Psychologen hinsichtlich dieser Tendenzen untersuchten, wobei eben diese Stilelemente aufgefunden wurden. Die kreativen Grundfunktionen besitzt daher jeder, Gestaltungselemente dieser Art treten in jeder Kultur auf.

Navratil behauptet, es sei auf diese Art zu erklären, wie voneinander völlig unabhängige Kulturen mit denselben Symbolen (wie der Spirale) verzierten. Die als typische schizophrene Symbole angeführten Beispiele (Auge, Spirale, Labyrinth etc.) kehren auch in der Kunstgeschichte immer wieder, werden ständig von verschiedenen Kulturen neu "erfunden" und sprechen jeden Menschen an, auch den "normalsten". Weist nicht auch ein Kunstwerk, oder was als solches verstanden wird, nicht oft die kreativen Grundfunktionen auf ? In diesem Zusammenhang sei an die deformierten Gesichter Grecos, auf die geometrisierten meso- oder neolithischen Menschendarstellungen oder auf die mit geometrischen Formen und Spiralen verzierten kretischen Vasen erinnert, um wahllos nur einige Beispiele zu nennen.

Ein schizophrener, unterdurchschnittlich intelligenter Hilfsarbeiter kann Ausdrucksformen der früheren Künstler "wiedererfinden", indem er einfach die in ihm wohnenden kreativen Grundfunktionen (wie der Künstler) neu kombiniert. Schizophrene gestalten oft Janusköpfe, ohne je von der römischen Gottheit gehört zu haben, oder kreieren deformierte, langgestreckte Gesichter im Stil Grecos, ohne aber je ein kunstgeschichtliches Werk in Händen gehalten oder eine Ausstellung besucht zu haben. Navratil beschreibt in seinem Buch "Schizophrenie und Kunst" ausführlich den unterdurchschnittlich intelligenten und taubstummen Knaben Franz45 (er genoß keine wie auch immer geartete Kenntnis der Kunstgeschichte), der in der abklingenden Psychose ein bei den Azteken gängiges Motiv spontan zeichnete.

Warum zwar das Kleinkind, nicht aber der Erwachsene diese Tendenzen bei der graphischen Gestaltung verwendet, erklärt Navratil. Seinen Theorien zufolge zerstört der Sozialisierungsprozeß, dem der Heranwachsende ausgesetzt ist, diese Gestaltungsmuster. Dem Kind wird gelehrt, wie es zu gestalten hat. "Durch Tradition und Unterricht werden jedoch von Anfang an zwischen seelischer Eigentätigkeit und dem Kulturgut immer weiter ausgedehnte Synthesen hergestellt. Dabei werden die kreativen Grundfunktionen durch die wachsende Menge des Übernommenen und Erlernten ständig in den Hintergrund gedrängt."46, schreibt Navratil. Sinngemäß zusammengefaßt sagen Navratils Thesen, daß mit dem ständigen Entfernen von sich selbst, mit dem durch die Gesellschaft anerzogenen Verzicht auf die kreative Eigengestaltung (es ist im Volksschul- sowie im frühen Gymnasial-Zeichenunterricht sicherlich verboten, ein Gesicht in die Sonne zu zeichnen) der Verlust der Freude an der Gestaltung einhergeht. Die praktische Erfahrung bestätigt dies: die meisten der Kleinkinder wissen genau, wie oder was sie zeichnen, malen, tanzen, singen wollen und tun dies dann auch mit einer ungeheuren Freude und Hingabe. Nach einigen Jahren Schule kann aber dann jeder "zeichnen, wie er soll". Das Absinken der Kreativität im Volks- und Gymnasialalter ist eklatant. Kaum jemand will mehr so richtig zeichnen, die Entfremdung von der ursprünglichen Veranlagung ist schon viel zu groß. Nur langsam finden manche Künstler zu ihrer ursprünglichen Gestaltungskraft zurück. Schizophrene weisen laut Navratil die natürlichen Gestaltungsmuster wieder auf, weil sie aufgrund ihrer seelischen Lage auf ihre Veranlagungen zurückgreifen.

Vielleicht benötigt ein Mensch, um kreativ tätig zu sein, den u.a. in der Psychose gegebenen Realitätsverlust, eine gewisse Verneinung und Verleugnung sozialer Normen, die nicht nur, aber auch bei Schizophrenen auftritt47. Vielleicht ist der Geisteskranke in dieser Beziehung, trotz seiner oder gerade durch seine Ungeordnetheit seinem wahren Ich näher als der von der Gesellschaft ständig begrenzte Gesunde.

Fußnoten (Literaturverzeichnis)

1.) Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. München, Insel Verlag.

2.) Bleuler, Eugen: Lehrbuch der Psychiatrie. Berlin/Heidelberg/Göttingen, Springer Verlag 1972, 12.Auflage

S.391 (weiterhin nur unter "Bleuler" zitiert)

3.) Bleuler, S.392

4.) Navratil, Leo: a+b leuchten im Klee. Psychopathologische Texte. München, Carl Hauser Verlag 1971

S.94f. (weiterhin mit "Navratil, a+b" zitiert)

5.) Bleuler, S.393

6.) Bleuler, S.411

7.) siehe 6.)

8.) Bleuler, S.401

9.) Bleuler S.402

10.) Navratil, a+b, S.24

11.) Bleuler S.418

12.) Navratil, Leo: Schizophrenie und Kunst. München, dtv 1972, 4.Auflage S.13 (weiterhin zitiert als "Navratil, Schizophrenie und Kunst")

13.) Bleuler, S.451

14.) Bleuler, S.455

15.) Bleuler, S.449

16.) DER GROSSE BROCKHAUS in zwölf Bänden. Wiesbaden, F.A.Brockhaus 1979, Bd.6 S.497

17.) Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerkes. Stuttgart, Reclam Verlag 1992 S.7

18.) Navratil, Leo: Über Schizophrenie und Die Federzeichnungen des Patienten O.T. München, dtv 1974 S.89 (weiterhin zitiert als "Navratil, O.T.")

19.) Walther, Ingo: van Gogh. Köln, Benedikt-Verlag 1989, Bd.II

20.) Kretschmer, Ernst: Geniale Menschen. Berlin/Göttingen/Heidelberg, Springer Verlag 1958, 5.Auflage S.19 (weiterhin zitiert als "Kretschmer, Geniale Menschen"

21.) siehe 20.)

22.) Kretschmer, Geniale Menschen, S.13

23.) Kretschmer, Geniale Menschen, S.26

24.) Bader, Alfred: Louis Soutter. Eine pathographische Studie, Stuttgart 1968

25.) Bleuler, S.391

26.) Kretschmer, Geniale Menschen, S.14

27.) siehe 1.)

28.) Kretschmer, Geniale Menschen, S.15

29.) Navratil, Schizophrenie und Kunst, S.23ff.

30.) Navratil, Leo: Johann Hauser. Kunst aus Manie und Depression. Museumskatalog, S.124

31.) Navratil, Schizophrenie und Kunst, S.55

32.) Navratil, Schizophrenie und Kunst, S.80

33.) Kretschmer, Ernst: Medizinische Psychologie, Stuttgart 1969 zit. nach Navratil, O.T., S.49

34.) Kretschmer, Ernst: Medizinische Psychologie, Stuttgart 1969 zit. nach Navratil, Schizophrenie und Kunst, S.70

35.) Navratil, Schizophrenie und Kunst, S.57

36.) Navratil, Schizophrenie und Kunst, S.59

37.) Navratil, Schizophrenie und Kunst, S.86

38.) Kretschmer, Ernst: Medizinische Psychologie, Stuttgart 1969 zit. nach Navratil, O.T., S.70

39.) Navratil, Schizophrenie und Kunst, S.103

40.) Navratil, Schizophrenie und Kunst, S.102

41.) siehe 39.)

42.) Navratil, Schizophrenie und Kunst, S.107

43.) Navratil, O.T., S.43

44.) Zinggl, Wolfgang: Zur Regression im bildnerischen Schaffen psychiatrischer Patienten. Zeitschrift für Klin. Psychologie, Psychopathologie und Psychotherapie, 1990, Bd.38, S.21-36

45.) siehe 29.)

46.) Navratil, O.T., S.60

47.) Navratil, O.T., S.84

48.) Navratil, Leo: Sonneastro. Die Künstler aus Gugging. Wien, Kulturabteilung der NÖ Landesregierung 1990. S.5

49.) Navratil, Leo: Vortrag zur Ausstellung "Bilder nach Bildern", NEUE GALERIE Linz, 20.10.1994.

50.) siehe 48.)

51.) Navratil, Schizophrenie und Kunst, S.62.

Copyright Patrick Horvath, 1995.

Bei der vorliegenden Version handelt es sich um eine Kurzfassung. Die Originalarbeit enthält noch einen empirischen Teil über den früh verstorbenen und zu Lebzeiten an Schizophrenie erkrankten Künstler Johannes Markus Sturmberger mit zahlreichen Beispielen seiner Werke, welche aber aus Copyrightgründen derzeit nicht im Internet veröffentlicht werden können.  

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