Große Denker:

Immanuel Kant, Bertha von Suttner, Hannah Arendt

Denker des Friedens

Werner Horvath: "Garten des Friedens: Hannah Arendt, Mahatma Gandhi, Bertha von Suttner, Immanuel Kant". Öl auf Leinwand, 60 x 80 cm, 2002.

In diesem Abschnitt sollen nicht so sehr erkenntnistheoretische Überlegungen, sondern v.a. Immanuel Kants Gedanken über den Frieden eine Rolle spielen, die sogar heute noch von bleibender Aktualität sind. Eine spätere, kleinere Schrift des Philosophen ist dabei besonders wichtig; diese trägt den Titel “Zum ewigen Frieden”. Kant wurde, wie aus seinen einleitenden, fast schon scherzenden Bemerkungen hervorgeht, zu besagtem Buch durch den Namen eines Gasthauses inspiriert, das sich offensichtlich in der Nähe eines Friedhofes befand. Der Philosoph stellt sich unter “ewigem Frieden” aber etwas anderes vor als einen “Friedhofsfrieden” - natürlich sehnt er einen “ewigen Frieden” als politischen Zustand auf Erden herbei, von dem die Lebenden profitieren sollen. Der Begriff “ewiger Friede” ist für ihn höchstens deshalb defizitär, weil er zweimal dasselbe sagt, ungefähr so wie die Wendungen “weißer Schimmel” oder “weibliche Dame” - ein Friede muss nach Kant nämlich wesensmäßig ein ewiger oder zumindest sehr dauerhafter Zustand sein, um als solcher gelten zu können. Er kritisiert die Praxis seiner Zeit, “Friedensverträge” abzuschließen, die schon den Keim des neuen Krieges in sich tragen; oder dass der Zweck verfolgt wird, den Aufschub der Feindseligkeiten zu Rüstungen u.dgl. zu nutzen. Das ist seiner Meinung nach aber höchstens ein “Waffenstillstand”, kein wirklicher “Friede”. 

Immer wieder wurde von der Nachwelt - nicht ganz unberechtigt - der spröde und umständliche Schreibstil Kants beklagt. In seiner Friedensschrift zeigt er sich allerdings auch als glänzender Stilist; allein die Form, die er damals seiner Abhandlung gab, ist genial: Sie tritt uns mit allen formalen Aspekten eines Friedensvertrages entgegen; es gibt entsprechende Artikel, auch ein - wohl mit Augenzwinkern so genannter - “geheimer Zusatz” fehlt nicht. Und das kleine Buch versucht auch inhaltlich der gewählten Form zu entsprechen: Sein Anliegen ist es, tragfähige Gedanken zur künftigen Friedenssicherung in der Internationalen Gemeinschaft zu entwerfen, die dazu beitragen könnten, den Mensch von jener schlimmen Geißel des Krieges und all seiner Brutalitäten und katastrophalen Folgen dauerhaft zu befreien. 

Der erste Schritt zur Herstellung des Friedens liegt für Kant in der “Hegung” des Krieges, d.h. in dem Versuch, das Unmenschliche im Krieg zu mildern bzw. das Feuer seiner Hölle zunächst einmal zu dämpfen. Die Meinung, dass im Krieg alles erlaubt ist, lehnt Kant ab. Vielmehr muss auch schon Krieg in Hinblick auf den Frieden geführt werden. Gewisse im Krieg angewandte Mittel, also z.B. die extremsten Brutalitäten oder Treuebrüche, können selbst die kleine noch erhaltene Vertrauensbasis zwischen den Gegnern zerstören und den Frieden dauerhaft verunmöglichen. Er plädiert auch für ein Ende der ständigen gegenseitigen Bedrohung durch Aufrüstung; einerseits ist Rüstungspolitik so unglaublich teuer, dass sie sogar den Frieden zu einem drückenden Zustand macht, andererseits ist Kant überzeugt, dass Rüstung oft nicht den Zweck leistet, den sie leisten sollte (nämlich die Abschreckung des Feindes), sondern möglicherweise sogar Angriffe provozieren kann (im Sinne eines Präventivschlages einer Partei vor der ausgehenden Bedrohung). 

Doch alle Hegung des Krieges sowie Abrüstungsbemühungen sind natürlich nur ein erster, zaghafter Schritt in die Richtung des wirklichen Zieles - der Abschaffung des Krieges. Kant macht drei Vorschläge für die Grundzüge einer Friedensordnung, die wirklich von Dauer sein soll. 

Sein erster Vorschlag bezieht sich auf die innerstaatliche Ebene; Kant fordert, dass alle Staaten als Republiken eingerichtet werden. Unter Republik versteht Kant v.a. eine Staatsform, in der es eine Gewaltenteilung gibt und in der die Staatsbürger bzw. ihre gewählten Repräsentanten über verschiedenste Fragen, v.a. aber über jene nach Krieg und Frieden mitbestimmen können. Natürlich ist eine republikanische Staatsform keine absolute Garantie dafür, dass kein Krieg mehr geführt wird. Aber das Volk, so ist Kant gewiss, wird sehr viel vorsichtiger und zögerlicher sein, in den Krieg zu ziehen, als irgendwelche Fürsten, Könige oder gar Diktatoren. Denn das Volk muss die durch den Krieg entstandenen Schäden tragen, will heißen: es muss selbst fechten, die Kosten des Krieges bestreiten, die Verwüstungen beheben etc. Die Oberschicht der Herrscher allerdings betreffen die Kriegsfolgen in ihrem Luxusleben nur bedingt; für sie ist der Krieg, wie es Kant ausdrückt “die unbedenklichste Sache von der Welt”, da sie an den “Tafeln, Jagden, Luftschlössern, Hoffesten u.dgl. durch diesen nicht das mindeste einbüßt” und ihn daher auch umso leichtfertiger als “eine Art Lustpartie” aus unbedeutenden Ursachen heraus beschließt (vgl. Zum ewigen Frieden, S.351). Zu Kants Zeiten galt der Krieg u.a. als “Sport der Könige”. 

Kant war also wahrscheinlich der erste Denker, der herausgearbeitet hat, wie eng Friede und Demokratisierung miteinander zusammenhängen - eine Erkenntnis, die auch in der heutigen Welt noch Gültigkeit besitzt. Der Denker selbst sprach diese Forderung übrigens im 18.Jahrhundert aus, also während der Blütezeit des europäischen Absolutismus. 

Sein zweiter Vorschlag sieht vor, dass ein internationaler Staatenbund geschaffen wird, der den Krieg zwischen Staaten dauerhaft verhindert. Dabei ist es nach Kant nötig, dass die Staaten vom Konzept einer absolut verstandenen Souveränität abgehen. Eine Souveränität der einzelnen Staaten, die bedeutet, dass kein Staat auch nur irgendeine Autorität über sich anerkennt und sich weigert, Streitigkeiten anders zu entscheiden als durch Krieg und Gewalt, ist nichts anderes als ein Zustand von Anarchie in den internationalen Beziehungen. Staaten, die auf einem solchen Konzept beharren, sind wenig mehr als Friedensbrecher. Genauso wie einst der brutale Kampf zwischen den einzelnen Menschen überwunden werden musste, indem eine Staatsmacht gegründet und die Bürger gezwungen wurden, ihre Streitereien friedlich (z.B. vor einem Gerichtshof) auszutragen - vgl. den Abschnitt über Hobbes im vorliegenden Buch -, so soll auch der “Krieg aller gegen alle” zwischen den Staaten ein Ende finden; und zwar auch durch die vertragliche Schaffung übergeordneter Instanzen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass heutige internationale bzw. supranationale Organisationen wie UNO, OSZE, Europarat oder Europäische Union sich von einem ähnlichen Gedanken leiten lassen. Sie alle wollen Instanzen schaffen, die verhindern, dass die Staaten wie Hundemeuten übereinander herfallen können, um sich zu zerfleischen; sie versuchen, gemeinsame Rechtsbestände und Institutionen zu bilden, dazu Plattformen der Diskussion; und sie versuchen auch ehemalige Feinde zu versöhnen - wie dies z.B. bei Deutschland und Frankreich im Rahmen des Europäischen Integrationsprozesses erfolgreich gelungen ist. 

Kants dritter Vorschlag bezieht sich auf die Einführung eines sogenannten “Weltbürgerrechtes”: Jeder Mensch, egal wo er geboren ist, soll sich überall auf dem Planeten aufhalten dürfen, solange er sich friedlich verhält. Auch dies könnte - im Gegensatz zu staatlicher Abschottung und Isolationspolitik - zur Völkerverständigung beitragen. 

Im Zuge des ständigen Fortschrittes der Menschheitsgeschichte, den Kant zu diagnostizieren vermeint, wird die Welt aber eines Tages einen Grad an Zivilisiertheit erreichen, die eine Annäherung an einen Zustand des “ewigen Friedens” möglich macht. Als völkerverbindend betrachtet Kant dabei v.a. den “Handelsgeist”. Von internationalen Handelsbeziehungen profitieren beide Seiten sehr stark; sie kommen einander näher und wollen - schon aus dem Eigennutz heraus, um ihr Geschäft nicht zu zerstören - zugleich auch ein moralisches Ziel, den Frieden. Während also später z.B. Lenin den Kapitalismus als Triebfeder des neue Märkte begehrenden Imperialismus und damit der Kriegsführung angesehen hat, besitzt der Handel nach Kant ein friedensstiftendes Element. Obwohl Kapitalismuskritik auch in der heutigen Zeit noch Sinn macht - man denke an die v.a. von Globalisierungsgegnern diagnostizierten Probleme der Ungleichverteilung des Weltvermögens zwischen reichem Norden und armem Süden -, erscheint heute wohl Kants Einschätzung plausibler als Lenins. Es ist z.B. kaum vorstellbar, dass der Nahost-Konflikt seit fünfzig Jahren anhalten und in regelmäßig Abständen so blutig eskalieren würde, wenn sowohl Israelis, als auch Palästinenser in erster Linie wirtschaftlich orientiert wären. Die Stadt Jerusalem etwa ist mythologisch überhöht, aber wirtschaftlich weitgehend wertlos, genauso wie die paar Streifen Land in der Wüste, um die gegenwärtig gestritten und Blut vergossen wird. Alle Möglichkeiten auf Tourismus und Schaffung von Arbeitsplätzen durch diesen Wirtschaftsmotor werden aber durch Kriegshandlungen und Bombenattentate verunmöglicht; und die massiven Belastungen der jeweiligen Volkswirtschaft durch Rüstung muss ebenfalls in Kauf genommen werden. Ist das alles - von einem profanen Standpunkt aus betrachtet, d.h. ohne ideologisches Geschwätz von Blut und Boden oder fanatische Berufung auf irgendwelche Zitate aus dem religiösen Schrifttum - nicht einigermaßen dumm? 

Um Dummheit in der Politik zu verhindern, empfiehlt sich nach Kant die kritische Überprüfung aller Maßnahmen durch die Öffentlichkeit. Diese hat das Gesamtwohl ständig vor Augen; aus ihrer Billigung und Missbilligung erhält man einen Maßstab für Angemessenheit, aber auch Moralität politischer Handlungen. Diese Sichtweise ist eine Absage an alle Geheimdiplomatie, Geheimbündnisse, Geheimabsprachen etc. in der internationalen Politik. Meinungsfreiheit (v.a. auch der Intellektuellen) ist ebenfalls im Sinne des Friedens wichtig; nur in einem solchen Klima kann berechtigte Kritik an Vorgängen rund um Angelegenheiten von Krieg und Frieden vorgebracht werden. So entsteht eine Kontrollinstanz gegen grobe Machtmissbräuche. 

Eng mit Kants Friedensdenken verknüpft ist sein Menschenbild. In einem bekannten Brief hat er die Frage “Was ist der Mensch?” als die Hauptfrage der Philosophie definiert. Dadurch, dass er den Mensch in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt, setzt er eine seit Sokrates existierende Tradition der europäischen Philosophie fort. Kants Ideal ist ohne Zweifel der aufgeklärte, der selbstdenkende Mensch. Dies wird auch schon deutlich in der berühmten Einleitung seines Aufsatzes “Was ist Aufklärung?”: 

“Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne die Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.” Und weiter: “Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.” 

Kant ruft die Menschen also zum Selbstdenken auf; das eigene Denken sollen sie sich von niemandem abnehmen lassen. Dies geschieht aber nur allzu oft, denn sich das eigene Denken von anderen abnehmen zu lassen, ist sehr bequem. “Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.” (Was ist Aufklärung?, S.35). Pflicht der Regierung ist es, das Selbstdenken wenigstens zuzulassen. Dieses gereicht jedem Menschen zum eigenen Vorteil, ist aber auch seiner Würde angemessen (der Begriff der Würde des Menschen ist von Kant in die Philosophie eingeführt; er besagt u.a., dass der Mensch mehr ist als eine Sache und entsprechend auch gewisse Rechte besitzt). 

Wichtig für die Würde des Menschen ist v.a. die Autonomie seines Willens. Autonomie bedeutet letztlich, dass der einzelne Mensch sein eigener moralischer Gesetzgeber ist; noch einfacher ausgedrückt: Jeder Mensch muss seinem eigenen Gewissen folgen. Wir dürfen einer Autorität niemals blind gehorchen, egal wie groß, klug und weise sie uns auch erscheinen mag. Wenn wir den Befehl einer Autorität erhalten, sind es immer noch wir, die im Einklang mit unserem Gewissen entscheiden, ob wir dem Befehl gehorchen oder ihn verweigern, ob wir die Autorität anerkennen oder sie verwerfen. Diese Entscheidung kann uns niemand abnehmen; sie bedeutet unentrinnbare Freiheit und Verantwortung zugleich; sie aufzugeben und zu delegieren versuchen ist eine Absage an unser Menschsein. Kant besaß auch den für die damalige Zeit unverschämten Mut, diesen Grundsatz auf das Gebiet der Religion auszuweiten. Eine Moral bloß auf den Befehl Gottes zu begründen, ist nicht zulässig. Von anderen Menschen unter Berufung auf den Befehl Gottes unmoralische Dinge zu verlangen, ebenso wenig. Wenn wir einen Befehl erhalten - und sei es vom höchsten Wesen selbst! - sind es immer noch wir, die entscheiden, ob wir den Befehl ausführen dürfen oder nicht, und ob wir seinen Urheber für eine Gottheit zu halten befugt sind oder nicht. Ist das nicht eine genau umgekehrte Moral wie sie in der Geschichte um Abraham und Isaak im Alten Testament vertreten wird? Ja, denn es ist eine Moral, die den blinden Gehorsam ablehnt, sogar gegenüber einer noch so hochstehende Instanz; das macht sie zu einer zutiefst menschlichen Moral. 

Kant untersuchte aber auch, was das individuelle Gewissen, dem unbedingt Folge zu leisten ist, von uns fordern kann. Nach langen und komplizierten Ableitungen kommt er dabei auf die Formel des “Kategorischen Imperatives”, die letztlich auf Einsicht beruht. Diese Formel lautet: 

“...: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.” (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.421) 

Sinnvollerweise interpretiert besagt dieses Prüfkriterium der Moral in obiger Formulierung eigentlich nur, dass der “Privatmoral” eine Absage zu erteilen ist. Soll eine von uns getroffene Entscheidung moralisch sein, müssen wir denselben Maßstab zugleich an uns und an alle anderen anlegen. Kants Kriterium führt z.B. zur Verwerfung der Lüge oder der Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid anderer. Kann ich wollen, dass jeder andere zu seinem Vorteil lügt bzw. sich nicht um seine Mitmenschen kümmert? Die Verneinung der Frage führt zur Verwerfung der Sache. 

In einer anderen, alternativen Formulierung besagt der Kategorische Imperativ sinngemäß, dass man Menschen nicht als bloße Mittel, sondern als Zwecke verwenden muss. Weder man selbst noch andere (wie z.B. die Staatsmacht) dürfen daher Menschen instrumentalisieren. Konkret umgesetzt könnte diese moralische Regel etwa heißen, dass die Sklaverei, die Menschen zu Werkzeugen etwa des Gelderwerbes oder einer bestimmten Arbeitsverrichtung herabdrückt, unerlaubt ist. Kant gibt auch noch ein anderes Beispiel, das wiederum einen Bezug zu seinem Friedensdenken herstellt: Wenn der Staat jemanden zum Soldaten macht, drückt er ihn letztlich auf den Status einer Art Maschine herab, die tötet oder getötet wird. Dieser Zustand widerspricht nach Kant der Menschenwürde, wird der so Gezwungene doch als bloßes Mittel, nicht aber als Zweck verwendet. Höchstens Waffenübungen, die freiwillig abgeleistet werden, ist Kant bereit, der Staatsmacht zuzugestehen (Zum ewigen Frieden, S.345). 

Das Werk Kants und seine Ergebnisse gehört zu den großen Errungenschaften europäischen Denkens. Es ist einer der Höhepunkte der Aufklärung, in vielfacher Hinsicht auch der Abschluss einer Entwicklung (z.B. werden die Gedanken der englischen Empiristen Hobbes, Locke und v.a. Humes aufgenommen und weitergebildet; und dass er wie Sokrates den Mensch in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt, wurde schon bemerkt). Sein Werk ist aber auch ein Neuanfang für viele philosophische Bewegungen, die von ihm ausgehen: z.B. der Deutsche Idealismus, dessen Hauptvertreter Hegel (der Kant in vielen Punkten nicht gerecht wurde) u.a. Karl Marx inspirierte; ganz anders sah die Anknüpfung Schopenhauers an Kants Werk aus, die wiederum Nietzsche zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen nahm; auch Popper griff stark auf Kant zurück, der so zum Knotenpunkt einer Entwicklung wurde. Aber auch auf das Friedensdenken hatte Kant tiefgreifenden Einfluss; und von diesem soll im restlichen Abschnitt die Rede sein.  Zwei besonders wichtige Philosophen (eigentlich Philosophinnen) stehen dabei in einer kantischen Tradition des Friedensdenkens und sollen daher in diesem Kapitel Erwähnung und Würdigung finden: Es handelt sich um Bertha von Suttner und Hannah Arendt. 

Bertha von Suttner, gebürtige Österreicherin, ist die Gründerin der Friedensbewegung im deutschsprachigen Raum und die erste Frau, die den Friedensnobelpreis erhielt. Mit Recht erfreut sich ihr Werk und ihre Person heute großer Verehrung - ihr Gesicht findet man z.B. auf der Rückseite der “österreichischen” 2-Euro-Münze. Ihren Ruhm begründete Suttner durch ihren philosophischen Roman “Die Waffen nieder!”. Die Hauptperson des Romans ist eine gewisse Martha, die zwar nicht in jedem Detail ihrer Lebensgeschichte, aber doch v.a. in Hinblick auf ihre Charaktereigenschaften Bertha von Suttner stark ähnelt (besonders durch ihr kritisches und unabhängiges Denken). 

Martha stammt aus dem Adel der österreichischen Habsburger-Monarchie. In frühester Jugend war sie, auch durch die damalige Erziehung bedingt, Feuer und Flamme für militärischen Ruhm. Man hatte ihr die Bewunderung für große Feldherren nahegelegt; ihr Geschichtsunterricht bestand in der Schilderung großer Schlachten, die als schicksalhafte Höhepunkte und Wendungen des menschlichen Daseins dargestellt wurden - des Einzelnen wie auch ganzer Völker; und das größte Unglück ihrer Jugend bestand darin, dass ihr als Frau die Möglichkeiten militärischer Betätigung für immer versagt bleiben mussten. Doch all diese Ansichten, die sich aus obrigkeitlicher Erziehung und Propaganda speisten, erwiesen sich als weltfremd und unzulänglich, als Martha mit der Realität des Krieges konfrontiert wurde, seine sinnlose Grausamkeit sah und hautnah miterleben musste, welches Leid er über die Menschen bringt. Ihr kritisches Nachdenken begann, als ihr heißgeliebter Mann, von dem sie einen kleinen Sohn hatte, im Krieg gegen Italien umkam. 

Was ging es nun sie als trauernde Witwe an, ob die damalige Großmacht Österreich manche Gebiete wie z.B. die Lombardei verlor oder - im darauffolgenden Krieg - Schleswig gewinnen konnte, und zwar in Konflikten, die sich v.a. an dynastischen Fragen entzündeten, die die beherrschten Völker eigentlich auch nichts angingen? Was hatte sie überhaupt von allem möglichen Gebietsgewinn? Und was hatte sie nun von dem einen oder anderen Orden, den ihr Liebster vor dem Aufbruch heimzubringen hoffte? Konnte ein Stück Blech, das man sich an die Brust heften konnte, den großen Verlust für sie und ihren kleinen Sohn ersetzen? 

Nach diesem tragischen Ereignis beginnt Martha, sich mit dem Krieg näher zu beschäftigen; und die Ergebnisse ihrer Reflexionen und Erfahrungen münden in ein immer stärkeres Engagement für den Frieden. Man kann sagen, dass das Buch “Die Waffen nieder!” eine großangelegte Abrechnung mit allen militaristischen Propagandalügen darstellt. Der Leser erlebt bei Lektüre des Buches ein Schwanken zwischen den Berichten über alltägliche Erlebnisse der Hauptperson (Einblicke in ihre familiäre Situation, die Liebesgeschichten in ihrer Umgebung, Reisebeschreibungen) und tiefgreifenden philosophischen, historischen, politischen und völkerrechtlichen Analysen; er wird hin- und hergerissen zwischen Gefühl und Vernunft. Aber letztlich geht es darum, den Krieg als den wahren Feind der Menschheit und als das schlimmste Verbrechen überhaupt zu demaskieren. 

Bertha von Suttner führt in ihrem Buch jedem das entsetzliche Grauen auf den Schlachtfeldern vor Augen, vor dem eine Lobpreisung kriegerischen Edelmutes als hohler Wortkram erscheinen muss. Die Kriegsverherrlichungen der Presse werden von ihr als das, was sie sind, vorgeführt - nämlich als dumpfe Hetzreden und -schriften. In ihren Analysen stellt sie die intellektuelle Dürftigkeit der Kriegsvorwände heraus. Und sie setzt sich mit praktisch allen Vorurteilen ihrer Zeit auseinander, die dem Krieg positive Seiten abgewinnen wollen und konfrontiert sie mit der brutalen Realität: Den Aussagen, Krieg wäre eine Bewährungsprobe für den Mann und würde ihn durch abverlangte Tapferkeit männlicher machen, hält sie etwa das Beispiel jener Kriegsheimkehrer entgegen, die im Gefolge schwerer Unterleibsverletzungen ihre Zeugungskraft verloren. 

Auf Hegel geht die Meinung zurück, der Friede hätte auf ein Volk eine verhängnisvolle Wirkung, weil auf ihn Sittenverfall folgen würde; wie ein ruhendes Gewässer fault es, so seine Vorstellung, im Frieden vor sich hin; nur der Sturm des Krieges wirbelt es durcheinander und sorgt für eine Rückbesinnung auf elementare Tugenden. Bertha von Suttner bestreitet diese Ansicht vehement. Sie diagnostiziert vielmehr, dass der Krieg eine verhängnisvolle Wirkung auf die Kultur und Moralität eines Volkes hat. Propaganda schürt primitive Hassgefühle auf andere Völker; ausgewogenes und kritisches Denken wird unerwünscht; das Interesse am intellektuellen Leben erlahmt weitgehend; dazu werden die Menschen abgestumpft gegen die allgegenwärtige Gewalt. Der Krieg ist also weit entfernt, zur moralischen Gesundheit eines “Volkskörpers” beizutragen. Aber auch seine Wirkung auf die wirtschaftliche Gesundheit ist ruinös, wie Suttner illustriert: Marthas Ersparnisse werden im Laufe ihrer Lebensgeschichte von ökonomischem Zusammenbruch und Inflation aufgefressen, die im Gefolge so ziemlich jeden Krieges auftreten. Und auch zur physischen Gesundheit eines Volkes trägt der Krieg wenig bei: Ihre Verwandten rafft die Cholera dahin - eine Krankheit, die damals durch Truppeneinquartierungen selbst in die besten Familien eingeschleppt werden konnte. Die heutigen Erfahrungen zeigen übrigens, dass Bertha von Suttners Analysen richtiger waren als Hegels preußenfreundliche, militaristische Propaganda: Man sieht an aktuellen Beispielen wie Afghanistan, Kambodscha oder Jugoslawien, dass jahrelange Kriege eher geeignet sind, Gesellschaften völlig kaputt zu machen, anstatt sie zu regenerieren. 

Eine der wichtigsten Aussagen ihres Werkes ist, dass der Krieg nicht “von Natur aus” vorhanden ist (wie etwa ein Erdbeben oder ein Vulkanausbruch) und wir daher auch etwas gegen ihn tun können. Krieg, so ist Bertha von Suttners Überzeugung, wird von Menschen gemacht. Um ihn durchzuführen, braucht man Regierungen, die ihn beschließen, Diplomaten, die ihn in die Wege leiten, Generäle und Soldaten, die ihn ausfechten. Wenn Krieg von Menschen gemacht wird, können ihn Menschen auch bekämpfen und abschaffen. Krieg ist zudem nicht “gottgewollt”. Bertha von Suttner drückt an vielen Stellen ihren maßlosen Ärger über jene Priester aus, die im Namen des “Herrn der Heerscharen” den Krieg verherrlichen, die feierliche heilige Gesänge anstimmen, sobald der “Feind” (der ja auch Mensch ist) hohe Verluste zu beklagen hat und die überhaupt das Christentum in Hinblick auf das Soldatentum interpretieren (indem sie soldatischen mit christlichem Gehorsam identifizieren oder den Gefallenen Lohn im Paradies verheißen). Diese Priester verraten nach Suttners Meinung die tatsächlichen, menschlichen Anliegen, die in ihrer Religion eigentlich zu finden wären. Aber es ist ein rein aufgeklärter und menschlicher Standpunkt, der Suttner den Krieg ablehnen lässt, kein spezifisch christlicher; und es stellt sich auch die Frage, ob das Christentum - angesichts solcher oben angesprochener Tendenzen - wirklich zureichenden Schutz vor Kriegsführung bieten kann. 

Wogegen sich die Denkerin noch ausdrücklich wehrt, ist eine Kriegsführung “im Namen des Friedens”. Den uns aus dem alten Rom überkommenen Spruch “Wenn du den Frieden willst, rüste zum Krieg” hält sie für militaristische Propaganda. In Wahrheit bringt z.B. Rüstungspolitik hauptsächlich internationale Verstimmung hervor; und angewandte Gewalt Gegengewalt - und keinen Frieden. Für sie ist klar, dass der Zweck des Friedens auch mit friedlichen Mitteln angestrebt werden soll. 

Was schlägt Bertha von Suttner nun vor, um dem Krieg endgültig zu besiegen? Zunächst ist ihr (mit Kant, den sie in “Die Waffen nieder!” ausführlich zitiert) klar, dass - wie oben bereits erwähnt - eine verabsolutierte Souveränität der Staaten nichts anderes ist als Anarchie im internationalen Raum. Wenn ein Staat nichts anderes anerkennt als seine eigene Autorität und nicht bereit ist, Konflikte anders auszutragen als durch Gewalt, kann es keinen Frieden geben. Es müssen daher im internationalen Rahmen Institutionen geschaffen werden, die friedliche Konfliktbeilegung möglich machen (z.B. Diskussionsplattformen, Schiedsgerichte etc.); aber bloß der gute Wille der Machthaber, die angebotenen friedlichen Möglichkeiten von Fall zu Fall auszuschöpfen oder auch nicht scheint Bertha von Suttner zuwenig gewesen zu sein. Letztlich fordert sie, überstaatliche Institutionen zu schaffen, denen sich die Staaten bei Rechtsstreitigkeiten beugen müssen; ähnlich wie auch die einzelnen Menschen oder die einzelnen Bundesländer eines Staates nicht einfach zur Gewalt greifen dürfen, um ihre Probleme zu schlichten, sondern gezwungen werden, zur Konfliktaustragung friedliche Wege zu gehen. 

Mit diesem Gedanken wird Bertha von Suttner u.a. eine der Wegbereiterinnen der Europäischen Einigung. “Aber sagt mir doch, ihr Herren, warum schließen denn nicht die sämtlichen gesitteten Mächte Europas einen Bund? Das wäre doch das einfachste”, lässt sie ihre Heldin in einer hauptsächlich aus Generälen der k.u.k.-Armee bestehenden Tischgesellschaft sagen. Freilich erntete sie für diese bahnbrechende Idee nur Gleichgültigkeit oder Spott: “Die Herren zuckten die Achseln, lächelten überlegen und gaben mir keine Antwort. Ich hatte offenbar wieder eine jener Dummheiten ausgesprochen, wie sie ‘die Damen’ zu sagen pflegen, wenn sie sich in das ihnen unzugängliche Gebiet der höheren Politik wagen.” (vgl. Die Waffen nieder!, Drittes Buch, S.165) 

Die durch den deutsch-französischen Krieg von 1870/71 erfolgte Einigung Deutschlands zu einem Reich betrachtet sie mit gemischten Gefühlen. Einerseits begrüßt sie die darin enthaltene Verbindung der sich gegenseitig bekriegenden Kleinstaaten unter ein einheitliches politisches System; Zersplitterung wurde so überwunden. Andererseits lässt Bertha von Suttner Marthas zweiten Mann Friedrich Tilling (einen k.u.k.-Oberst, der den Krieg aufgrund seiner eigenen Erfahrungen kritisch betrachtet schließlich zur Friedensbewegung übertritt) dazu sagen: “Es ist nur schade, dass eine solche Vereinigung nicht aus friedlichem, sondern aus kriegerischem Werke hervorgegangen ist.” Besonders schlimm an besagtem Krieg war auch der zwischen Deutschen und Franzosen gesäte Hass, der ja später wesentlich für den Ausbruch des 1.Weltkriegs werden sollte. Bertha von Suttner plädiert also für das Ideal einer politischen Einigung, die friedlich erfolgt - z.B. im Rahmen von Verträgen und freiwillig abgeschlossenen Bündnissen. Es spricht vieles dafür, diese politischen Handlungsanweisungen auch in Zukunft zu berücksichtigen. Das vereinte Europa soll auch weiterhin und so wie bisher ein friedliches, kein kriegerisches Einigungswerk sein; und dieses soll auch auf eine Art durchgesetzt werden, die nicht zu einer dauerhaften Entzweiung mit anderen außereuropäischen Völkern führt. 

Alle Mahnungen Bertha von Suttners blieben zuerst ungehört; kurz nachdem sie im Jahr 1914 starb, brach der 1.Weltkrieg aus. Durch die immer weiter fortschreitende Waffentechnik wurde die in ihm entfesselte Zerstörungskraft zunehmend brutaler; und durch die allgemeine Wehrpflicht standen einander nicht bloß Armeen, sondern bewaffnete, militarisierte Völker gegenüber, die einander zu zerfleischen begannen - Bertha von Suttner hatte zuvor all diese Schrecken für den Kriegsfall prophezeit. 15 Millionen Menschen sollten im 1.Weltkrieg ihr Leben lassen; und es bedurfte sogar noch eines viel grausameren 2.Weltkrieges, dem ca. 55 Millionen Menschen zum Opfer fielen und der Europa in Schutt und Asche legte, um ein großes Umdenken in der Politik einzuleiten - ein Umdenken, das auch unblutiger erfolgen hätte können, wenn man geistig ein wenig flexibler gewesen wäre. Die Lektüre des Werkes Bertha von Suttners kann uns auch heute noch helfen, eine solche geistige Flexibilität auszubilden. Suttners Buch “Die Waffen nieder!” ist trotz aller tragischer Schicksalsschläge, die seine Hauptperson zu erdulden hat - ihr zweiter Mann Friedrich wird gegen Ende von einer hasserfüllten Meute aufgrund eines falschen Spionageverdachtes gelyncht - nicht ohne positive Zukunftsperspektive. Die Hoffnung für bessere Zeiten ruht auf Marthas Sohn Rudolf, der vom Entschluss beseelt ist, darauf hinzuarbeiten, den Frieden zu fördern und den Krieg endlich aus Europa und der Welt zu verbannen. Er ist das Symbol für den Anbruch einer neuen Ära, die dem Krieg in Europa und der Welt den Krieg erklären wird. 

Eine zweite große Frauengestalt unter den Friedensdenkern darf nicht unerwähnt bleiben: Hannah Arendt wurde 1906 in Hannover geboren und wuchs in Königsberg auf - der Heimatstadt Kants, dessen Werk sie sehr beeinflussen sollte. Ihr Philosophiestudium begann sie als 18-jährige beim deutschen Philosophen Martin Heidegger, dessen heimliche Geliebte sie wurde; später promovierte sie bei Karl Jaspers, dessen Arbeiten sie ebenfalls intellektuell maßgeblich prägten. Als die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht ergriffen, wurde sie - als deutsche Jüdin - zur Emigration gezwungen. Sie floh zuerst nach Paris, wo sie für die Résistance arbeitete und später, als Nazi-Deutschland auch Frankreich okkupierte, nach New York. Sie musste dabei mitansehen, wie die erste und wahrscheinlich größte Liebe ihres Lebens, Martin Heidegger, zum Parteigänger der Nazis wurde. Sie lebte später als staatenloser Flüchtling in den USA und litt sehr unter der weitgehenden Rechtlosigkeit, die mit diesem Status verknüpft war. Später erlangte sie die U.S.-amerikanische Staatsbürgerschaft und wirkte als Professorin für politische Philosophie, zuerst an der University of Chicago, später an der New School for Social Research in New York - der Stadt, wo sie, die Kettenraucherin, 1975 an einem Herzinfarkt starb. 

Wichtig für ihr Friedensdenken ist v.a. ihre Studie “Macht und Gewalt”, in der sie den Grundstein für ein modernes Verständnis dieser beiden Begriffe legt. Macht ist für sie nichts, was einem bestimmten Einzelmenschen gehört. Wir sind es heute gewöhnt, im Fernsehen Zeichentrickfilme wie “Superman” oder “Dragonballs” zu sehen, deren Helden mit bloßen Händen Berge ausreißen, Blitze aus ihren Augen schleudern oder durch die Kraft ihrer Gedanken schwere Lasten heben. Aber das ist nicht die Realität; ein einzelner Mensch ist nicht in der Lage, so etwas zu vollführen. Nimm einen “mächtigen” Mann, setz ihn auf eine einsame Insel, und er ist jämmerlich - so wie alle Menschen. Politische Macht entsteht immer aus einer Vielzahl von Menschen; diese schließen sich zum gemeinsamen Handeln zusammen, z.B. um ein politisches Ziel zu erreichen. In einer solchen Vielzahl von Menschen werden oft einem Einzelnen bestimmte Aufgaben delegiert bzw. er wird von einer größeren Anzahl in irgendeiner Form beauftragt, eine Funktion zu übernehmen, der vielleicht auch besonderes Gewicht zukommt. Dann nennen wir diesen Einzelnen “mächtig”. Aber selbst ein unumschränkt herrschender Diktator bedarf einer zumindest stillschweigenden Zustimmung zu seiner Macht wenigstens von einer gewissen relevanten Gruppe in der Gesellschaft. Man stelle sich vor, was passieren würde, wenn sich alle Menschen in einem Staat - ohne Ausnahme - weigern würden, den Befehlen eines Diktators Folge zu leisten - all seine Macht würde sich augenblicklich in Luft auflösen. 

Was ist aber nun Gewalt? Frühere politische Denker wie Max Weber haben die Macht als eine Form von Gewalt definiert. Wer Gewalt einsetzen kann - z.B. weil er polizeiliche und militärische Mittel zur Verfügung hat -, so dieses traditionelle Verständnis, der besitzt auch Macht. Aber Hannah Arendt sieht dies anders. Gewalt tritt nicht auf den Plan, wenn Macht vorhanden ist. Wenn Macht intakt ist, dann ist Gewalt völlig unnötig. Um ein aktuelles Beispiel zu verwenden: Warum setzte die Regierung Makedoniens kürzlich im Norden ihres Landes Gewalt ein? Warum wurden Bomben geworfen, warum flogen Kampfflieger? Etwa, weil sich die Regierung in besagtem Gebiet besonders “mächtig” nennen konnte? Oder nicht vielmehr, weil ihr die Kontrolle dort zuvor entglitten war? 

Genau dies ist der Punkt: Der Einsatz von Gewalt zeugt nicht von Macht, sondern vielmehr von Machtverlust. Wenn die Macht eines Politikers intakt ist, kann er zu aufgebrachten Demonstranten sagen: “Geht heim, ihr stört hier nur, ich kümmere mich um alles”; und die Menge zerstreut sich. Wenn er aber keine Macht über sie mehr hat, erst dann wird er vielleicht der Versuchung nicht widerstehen können, Gewalt einzusetzen. Möglicherweise kann auch dann wirklich für eine gewisse Zeit so etwas wie Ruhe und Ordnung wiederhergestellt werden - wobei sich aber die Frage stellt, wie lange sich ein Herrscher gegen den Willen seines Volkes wirklich halten kann. Die Legitimität - und damit die Grundlage der immer auf Unterstützung einer größeren Zahl Menschen beruhenden Macht - eines solchen Politikers ist nämlich verloren gegangen; und es muss übrigens nicht unbedingt sein, dass sein Befehl in Massenmord und Kapitulation des Volkes endet (obwohl dies möglicherweise passieren kann; man denke an das Massaker am “Platz des Himmlischen Friedens” in Peking). Es kann genauso gut sein, dass - wie jüngst beim Sturz des Milosevic-Regimes in Serbien - die Armee den Befehl verweigert, auf das eigene Volk zu schießen, oder dass sie - wie im Zuge des Vietnamkrieges - aufgrund des Entzuges von Legitimität durch das Volk hinsichtlich ihrer Kampfmoral völlig zerrüttet wird und Auflösungserscheinungen zeigt. Es kann auch sein, dass sich ein altes Regime durch den Einsatz von Gewalt endgültig selbst demontiert: Man denke an die Polizisten, die in den USA auf gewaltlos demonstrierende schwarze Bürgerrechtler einprügelten. Fernsehbilder solcher Aktionen haben die Legitimität und damit die Macht eines alten Systems völlig unterminiert. 

Eine Sichtweise wie die Arendt’sche, die Gewalt nicht als Voraussetzung für Macht, sondern als Zeichnen verlorener Macht erkennt, ist wahrscheinlich eine ideale Voraussetzung für modernes Friedensdenken oder gewaltlosen Widerstand, wie er z.B. erfolgreich von Mahatma Gandhi oder Martin Luther King praktiziert wurde. 

Gewalt fängt für Arendt dort an, wo Macht (und damit Politik) scheitert. Gewalt ist für sie also nicht - wie der preußische General Clausewitz dies einst definierte - die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, sondern ihr Versagen. Politik ist gemeinsames Handeln und Sprechen. Beides, das Handeln und das Sprechen, hängt für Arendt eng miteinander zusammen. Oft hört man den Sophismus, es soll nicht lang gesprochen, sondern endlich gehandelt werden. Aber wie kann man handeln, wenn man nicht spricht? Man mache die Probe aufs Exempel, verklebe sich den Mund und versuche, z.B. eine Pizza zu bestellen, eine private Feier zu veranstalten oder auch einen nationalen Katastrophenschutz zu organisieren - es wird wohl kaum gelingen. Die Kommunikation scheitert nur im Angesicht der nackten Gewalt. Mit ratternden Maschinengewehren kann man nicht diskutieren. Gewalt zerstört Kommunikation, tötet zum Handeln vereinte Menschen und damit letztlich politische Macht. Gewalt allein kann aber niemals eine neue Legitimität und damit neue Macht begründen. Macht und Gewalt sind so nach Arendt nicht Ausdruck des jeweils anderen, sondern sogar Gegenbegriffe; Macht kann die Gewalt vernichten und Gewalt die Macht; und ihre Sympathien gelten der Macht, nicht der Gewalt. Es muss wohl Aufgabe eines jeden Politikers sein, die Gewalt durch einen Zustand zu ersetzen, in dem Konflikte gewaltlos (etwa mit Mitteln der Sprache) ausgetragen werden. 

Hannah Arendts bekanntestes Buch, das am meisten Aufsehen erregte und auch die heftigste Kritik erfuhr, ist ohne Zweifel “Eichmann in Jerusalem”. Otto Adolf Eichmann war als hochrangiges Mitglied der SS in die Organisation des Holocausts involviert. Nach dem Krieg verschwand er und lebte unter falschem Namen in Argentinien. Der israelische Geheimdienst entführte ihn von dort und brachte ihn nach Jerusalem, wo ihm 1961 der Prozess gemacht wurde. Der Eichmann-Prozess stand damals im Brennpunkt des internationalen Interesses; entsprechend berichtete die Weltpresse von den dortigen Ereignissen. Hannah Arendt gehörte zu den Journalisten, die den Prozess verfolgten; ihr Buch ging aus Reportagen für die Zeitschrift “New Yorker” hervor - einem seriösen Magazin, das v.a. politische und soziale Hintergrundberichterstattung brachte. 

Hannah Arendt spart in ihrem Buch nicht an Kritik am Jerusalemer Gericht. Während sie die Richter aufgrund ihrer Integrität, umfassenden Bildung und Fairness gegenüber dem Angeklagten lobt, findet sie gegen den Staatsanwalt, der sich als Sprachrohr der israelischen Regierung zu profilieren versuchte, sehr harte Worte. V.a. seine Versuche, zionistische Propaganda und unreflektierte Lobpreisungen des Staates Israel im Rahmen des Prozesses zu verbreiten, stoßen genauso auf ihre Ablehnung wie sein ständiges politisch motiviertes Bemühen, arabische Regierungen mit den Nazis in Verbindung zu bringen und sein Bestreben, sich selbst wie ein Schauspieler oder Showmaster ins Rampenlicht zu stellen. 

Hannah Arendt wehrt sich auch gegen falsche Einschätzungen der Person Eichmanns, die sich aufgrund der Ungeheuerlichkeit der nationalsozialistischen Verbrechen zunächst aufdrängen. Manche meinten z.B., Eichmann wäre sadistisch und überhaupt geisteskrank gewesen. Nicht nur, dass dies offenkundig nicht stimmte und auch psychiatrischen Gutachten widersprach, es hätte auch dem Prozess alle Legitimität geraubt - Eichmann wäre dann kein Fall für ein Gericht gewesen, sondern eher für das Irrenhaus; er wäre auch nicht schuldig gewesen, sondern nur krank. Aber diese Erklärung ist für Arendt viel zu einfach. Das Beunruhigende an Eichmann ist für sie, dass er erschreckend normal war, vielleicht sogar zu normal. Von allen Versuchen, Eichmann zu dämonisieren, hält sie auch nicht sehr viel; damit macht man seine Person interessanter und geheimnisvoller, als sie tatsächlich ist. 

In ihrer Charakterisierung zeichnet sie das Bild eines Spießbürgers mit konservativen, fast schon klischeehaften Moralbegriffen bezüglich Familie, Sexualität etc. - als ihm z.B. der für seine persönliche Sicherheit zuständige Polizeioffizier zur Entspannung “Lolita” in die Hand drückte, beschwerte er sich kurze Zeit später mit offensichtlicher Empörung über das “unerfreuliche Buch”. Umso mehr “positive Ideen” - will heißen: konventionelle Ansichten - meinte der Gefängnispfarrer bei ihm finden zu können. 

Eichmann, so wie Arendt ihn beschreibt, war nicht wirklich intelligent, hatte auch keine Ausbildung abgeschlossen. Er war auch sehr einfallslos, eigentlich zutiefst unkreativ. Wenn er redete, sprach er in einem gestelzten Amtsdeutsch. In seinem ganzen Benehmen glich er der Karikatur eines überflüssigen Verwaltungsbeamten mit Ärmelschonern. Eichmann war kein Mastermind des Verbrechens, kein geheimnisumwittertes, dunkles Genie - einer der größten Unholde des 20.Jahrhunderts war vielmehr bloß ein gedankenloser Schreibtischtäter, der blind Befehle ausführte. Dies hat Hannah Arendt auch mit ihrer vielzitierten Formel von der “Banalität des Bösen” gemeint: Das Böse - zumindest wie es uns im Fall Eichmann entgegentritt - ist viel banaler, als man auf den ersten Blick vermeint. 

Viele Anklagepunkte gegen Eichmann waren nach Arendts Meinung unberechtigt. Er wurde manchmal zur eigentlichen Triebfeder hinter dem Holocaust stilisiert. Aber Hitler, Heydrich oder Himmler trugen weit mehr Verantwortung als er. Eichmann war nach Arendts Einschätzung der Leiter einer Abteilung, die sich v.a. mit der Organisation der Deportationen, also etwa den Zugtransporten in die Konzentrationslager beschäftigt hatte. Dieses Verbrechen - das auch von ihm zugegeben wurde - war schon schwer genug, aber man versuchte - auch unter Verdrehung der Wahrheit -, ihm noch größere anzuhängen. Der Staatsanwalt wollte ihm auch ständig nachweisen, dass er eigenhändig getötet hatte - vergeblich. Eichmann war viel zu feige gewesen, als dass er selbst getötet hätte. Dann hätte er nämlich den grausamen Konsequenzen seiner Organisationsarbeit direkt ins Gesicht sehen müssen; er war aber, wie gesagt, ein bloßer Schreibtischtäter, der seinem Beruf in einem großen Vernichtungsapparat als sturer Beamter gedankenlos nachkam, als wäre dieser Beruf der selbstverständlichste der Welt. Von der Anklage hielt Arendt also nicht sehr viel, denn sie verkannte ihrer Ansicht nach die ganze Situation. 

Allerdings hielt sie auch nicht viel von Eichmanns Verteidigung. Immer wieder meinte er z.B. (unter Ausblendung der im Widerstand Aktiven), jeder andere Deutsche hätte auch so gehandelt wie er. Aber eine solche Rechtfertigung ist nach Arendt unzureichend. Was er damit sagen wollte, war natürlich, dass in einem Land, wo alle gleich oder fast gleich schuldig sind, keiner schuldig ist - was einfach nicht stimmt, denn das Maß an Schuld ist nicht durch eine simple Division aufteilbar. Außerdem hat ein Gericht nicht darüber zu befinden, was irgendwelche anderen vielleicht getan hätten, sondern was eine bestimmte Person getan hat. Taten, die im Konjunktiv begangen wurden, sind nicht strafbar. 

Eine andere seiner Rechtfertigungen besagte, dass er doch nur Befehle ausgeführt hatte, als er die Deportationen organisierte. Hannah Arendt gibt ihm zwar einerseits recht - er hatte wirklich “nur” Befehle ausgeführt. Sie lässt es aber andererseits nicht als Entschuldigung gelten. Eichmanns moralische Schuld lag eben darin, dass er die Kant’sche Zumutung an jeden Menschen nicht akzeptieren wollte - nämlich, wie u.a. in “Was ist Aufklärung?” sinngemäß formuliert, seinen eigenen Verstand und sein eigenes Gewissen eben nicht an eine Obrigkeit zu delegieren, sondern selbst zu benutzen. Ein Befehl ist keine unhinterfragbare Größe. Es sind immer noch wir, die ihn ausführen oder verweigern können. Nur in der extremen Situation, wenn einem z.B. ein Revolver an die Schläfe gehalten wird, der unmittelbar losgeht, wenn man nicht sofort gehorcht, kann man darüber diskutieren, ob nicht mildernde Umstände vorliegen, wenn man aus unmittelbarer Todesangst heraus kooperiert. Aber interessanterweise standen in der Nazi-Ära die wenigsten hochrangigen SS-Offiziere vor einer solch extremen Wahl. Es bestanden für sie in der Regel durchaus Möglichkeiten, sich auf einen anderen Posten versetzen zu lassen, Krankheiten vorzugeben oder Befehle zu hintertreiben. Eichmann tat nichts von alledem. Er übte blinden Gehorsam - und das war nach Arendt keine Entschuldigung (wie er selbst glaubte), sondern sein Verbrechen

Gehorsam ist für Hannah Arendt - entsprechend ihres oben skizzierten Machtbegriffes - kaum etwas anderes als ausgesprochene oder unausgesprochene Unterstützung für eine bestimmte Politik. Die Politik der Nazis beinhaltete ein Verbrechen an der Menschheit, v.a. begangen am jüdischen Volk. Die Menschheit ist für Arendt wesensmäßig eine Vielheit, eine Pluralität. Jeder Mensch ist auf seine Art einzigartig. Was wir angesichts des beschränkten Platzes auf diesem Planeten - den schon Kant in seiner Friedensschrift erwähnt - und dieser angeborenen Verschiedenartigkeit aller Menschen brauchen, ist umfassende Toleranz gegenüber allen Unterschieden; sie ist der Garant für Frieden. 

Es gibt aber immer wieder Politiker und Ideologen, die sich mit der Verschiedenheit der Menschen - einer Grundtatsache unseres Daseins - einfach nicht abfinden können. Sie versuchen, die Menschen gleichzuschalten, z.B. im Militär. Sie versuchen vielleicht auch, ein ethnisch “reines” Volk aufzubauen, d.h. Menschen mit bestimmten, von der Mehrheit abweichenden Charakteristika auszuschließen, zu vertreiben und - im Extremfall - umzubringen. Die Feinde der Pluralität sind aber die Feinde der Menschheit, weil die Menschheit eben eine Pluralität ist. Eichmann hatte durch seinen blinden Gehorsam, der nicht entschuldbar ist, diese Politik unterstützt. Darum war Arendt auch mit dem Todesurteil einverstanden, das auch nach dem monatelangen Prozess in Jerusalem vollstreckt wurde. Man kann - im Sinne Karl Poppers - die Intoleranz nicht tolerieren; und es ist - im Sinne Hannah Arendts - niemandem zumutbar, diesen Planeten mit Menschen zu teilen, die ihn ihrerseits nicht mit bestimmten anderen Menschen zu teilen bereit sind. Die Nazis hatten sich angemaßt, entscheiden zu dürfen, wer lebenswert ist und wer nicht; sie hatten sich angemaßt, entscheiden zu dürfen, wer diesen Planeten bewohnen darf und wer nicht. In dieser Anmaßung, die niemandem zusteht, steckt ihre Unmenschlichkeit, die schwerste Bestrafung verdient. 

Hannah Arendt ist oftmals - nicht zuletzt aufgrund des Buches “Eichmann in Jerusalem” - Antisemitismus und jüdischer Selbsthass vorgeworfen worden. Doch diese Vorwürfe sind haltlos und beruhen auf geringer Kenntnis des Arendt’schen Werkes. Wer “Eichmann in Jerusalem” wirklich gelesen hat, weiß, dass sie keine erkennbaren Sympathien für den Angeklagten hegte, auch wenn sie sich gegen seine Dämonisierung aus guten, oben auseinandergesetzten Gründen verwahrte. Weil sie eine undifferenzierte durch eine differenzierte und eine emotional aufgeladene durch eine vernünftig begründete moralische Verurteilung Eichmanns ersetzte, wurde ihr aber fälschlicherweise unterstellt, Eichmann insgeheim zu positiv zu sehen - eine unsinnige Behauptung, hielt sie es doch nur zuviel der Ehre, aus einem lächerlichen Hanswurst einen dämonischen (und damit interessanten und geheimnisvollen) Mephisto oder Macbeth zu zimmern. 

Jüdischer Selbsthass ist in Arendts Lebenslauf ebenfalls nicht zu erkennen. Seit ihrer Kindheit stand sie zu ihrer jüdischen Herkunft; und bei all ihrer Verwurzelung in der europäischen und besonders deutschsprachigen Philosophie hielt sie nichts von Assimilation, also blinder Anpassung der Juden an die Mehrheitskultur - sie hat dagegen sogar ein Buch geschrieben. Ihre Biographie der Jüdin Rahel Varnhagen erzählt die wahre Geschichte eines solchen gescheiterten Assimilationsprojektes: Rahel war eine Jüdin, die mit allen Mitteln eine gute Deutsche werden wollte; sie heiratete einen Deutschen, begeisterte sich sogar zeitweilig für die von einem damals sehr bekannten Schriftsteller namens Fichte verbreiteten deutsch-nationalistischen Propagandareden, und versuchte überhaupt so angepasst wie möglich zu sein - ohne Erfolg. Sie konnte tun, was sie wollte, den Antisemiten galt sie doch immer nur als Jüdin. Da Prostitution und Anbiederung an die Mehrheit nichts brachte, entschied sich Rahel letztlich dafür, zu ihrer Herkunft bewusst zu stehen - eine Entscheidung, die Arendt lebhaft begrüßt. Das soll jüdischer Selbsthass sein? 

Letztlich haben die unbegründeten Antisemitismus-Vorwürfe gegen Arendt damit zu tun, dass sie mit einigen Umständen rund um die Gründung des Staates Israel nicht glücklich war - z.B. dass diese auf Kosten der Palästinenser ging. Während des Krieges hatte sie andere Ideen entwickelt: Die Juden sollten nach ihrer Vorstellung Teil der “Vereinigten Staaten Europas” sein - als Volk ohne Staatsgebiet, aber mit politischer Vertretung in den gemeinsamen europäischen politischen Institutionen. Als Alternative dachte sie oft an ein Israel, das einen langfristigen Ausgleich mit den Palästinensern findet, z.B. in einer Föderation oder ähnlichem - das sind doch, ob man sie im Detail teilt oder nicht, zumindest diskussionswürdige Ideen! 

Der bis zur Gründung Israels staatenlosen Existenz der Juden z.B. in Deutschland konnte Arendt, wie sie in Interviews oft zum Ausdruck brachte, auch positive Seiten abgewinnen. Wenn man keinen eigenen Staat hat und in dem Staat, in dem man sich gerade aufhält, in eine Außenseiterrolle gedrängt wird, kann man sich Kritik und intellektuelle Unabhängigkeit gegenüber der Obrigkeit erlauben. Eigenschaften, auf die vielleicht der große Beitrag des jüdischen Volkes in der Geschichte der Menschheit zurückgeht, werden in so einer Situation fast automatisch zur zweiten Natur. Seit der Gründung Israels wurde aber auf einmal von Juden in aller Welt erwartet, für ihren Staat Partei zu ergreifen, im Recht und auch im Unrecht - sonst galten sie als “Verräter”. Aber in der vollkommen militarisierten Gesellschaft Israels ist auch heute längst nicht alles soweit in Ordnung, als dass kritisches und menschliches Denken darüber einfach schweigen könnte oder dürfte. Es wäre auch sehr ungereimt gewesen, wenn Hannah Arendt Leuten wie Eichmann ihren blinden Gehorsam und ihre mangelnde Integrität vorgeworfen hätte, um dann in bezug auf Missstände in Israel ähnliche “Nibelungentreue” oder vergleichbaren “Kadavergehorsam” zu praktizieren. Sie war nicht bereit, ihre intellektuelle und moralische Integrität aufzugeben, auch nicht für die Gründung eines Judenstaates; sie kritisierte daher auch in “Eichmann in Jerusalem” offen und direkt, was sie z.B. am israelischen Gerichtshof oder der Anklage für falsch und unvertretbar hielt. Eben diese Integrität trug ihr die oft gehässig vorgetragene Abstempelung als “antisemitisch” ein, was uns aber aufgrund der Nichtigkeit aller diesbezüglicher Vorwürfe nicht weiter kümmern soll. 

Zurück zum Hauptanliegen der Philosophin: Trotz aller in der Weltgeschichte vorhandener Verbrechen vertritt Hannah Arendt letztlich doch ein positives Menschenbild. Wenn sich der Mensch selbst treu bleibt und nicht zum blinden Befehlsempfänger degeneriert, so ist sie gewiss, ist er zum Guten fähig. Er ist kein bloßes Rädchen in einer großen Maschinerie bzw. er muss es nicht sein; er kann ausbrechen, wenn er es nur will. Weder ist er Sklave eines bürokratischen Apparates, noch ist er als bloße Marionette wehrlos eingespannt in geschichtliche, politische oder soziale Prozesse. Hannah Arendt ist ein Feind aller Sichtweisen von Geschichte, die meinen, dass das Handeln des Menschen von äußeren Umständen völlig vorherbestimmt ist. 

In ihrem Hauptwerk “Vita activa” bestimmt sie vielmehr jeden einzelnen Menschen als einen Neubeginn. Während die meisten Philosophen vor ihr auf den Tod reflektierten, denkt sie über die Geburt nach. Jeder Mensch wurde irgendwann geboren (sie nennt sein Geboren-Sein auch seine “Natalität”). Nicht zuletzt die Tatsache der “Natalität” verleiht ihm die Fähigkeit, auch später im Laufe seines erwachsenen Lebens, seinem Wesen entsprechend etwas völlig Neues beginnen zu können. Der Mensch kann also aus eigentlich für ihn vorherbestimmten Prozessen, sozialen Trends, administrativen Räderwerken etc. ausbrechen. Und er kann, das ist wesentlich für das Friedensdenken, auch aus dem eigentlich ewigen Zyklus von Rache und Gegenrache, Gewalt und Gegengewalt, Terror und Gegenterror entkommen, die uns alle zu zerstören drohen - indem er lernt, anderen zu verzeihen und dadurch einen Neubeginn zu wagen. Letztlich ist die Tugend des Verzeihens die Voraussetzung für jeden gelebten Frieden - im privaten Leben, im Nahen Osten und auch in allen anderen Regionen dieses allzu kleinen Planeten Erde.

© dieses Textes: Patrick Horvath, Wien, 2002.

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