Große Denker:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Werner Horvath: "Hegel". Buntstifte auf Papier, 32 x 24 cm, 2000.
Hegels Philosophie der Geschichte geht von der Existenz eines Weltgeistes aus, der eine Art alles durchwaltende Weltvernunft ist. Die Weltgeschichte, auch in ihren politischen Aspekten, spiegelt die Selbstentfaltung des Geistes wider. Im Zusatz zu § 259 der "Rechtsphilosophie" steht:
"Die Staaten als solche sind unabhängig voneinander, und das Verhältnis kann also nur ein äußeres sein, so daß ein drittes Verbindendes über ihnen sein muß. Dies Dritte ist nun der Geist, der sich in der Weltgeschichte Wirklichkeit gibt und den absoluten Richter über sie ausmacht. Es können zwar mehrere Staaten gleichsam ein Gericht über andere bilden, es können Staatenverbindungen eintreten, wie z.B. die Heilige Allianz, aber diese sind immer nur relativ und beschränkt, wie der ewige Frieden. Der alleinige absolute Richter der sich immer gegen das Besondere geltend macht, ist der an und für sich seiende Geist, der sich als das Allgemeine und als die wirkende Gattung in der Weltgeschichte darstellt."
Den Staat definiert Hegel auf jeden Fall als Geist, "der in der Welt steht" (§270). Die Weltgeschichte, in kulturellen und politischen Dimensionen verstanden ist nach Hegel "die Auslegung und Verwirklichung" des Geistes (§342). Diese erfolgt in bestimmten Stufen und im Gegenspiel der Gedanken, Staaten, historischen Prozesse.
Einzelnen Völker ist nach Hegel "die Vollstreckung desselben in dem Fortgange des sich entwickelnden Selbstbewußtseins des Weltgeistes übertragen" (§347). Solche Völker nennt Hegel "welthistorische Völker". Über ein welthistorisches Volk schreibt Hegel in § 347 folgendes:
"Dieses Volk ist in der Weltgeschichte für diese Epoche - und es kann in ihr nur einmal Epoche machen - das herrschende. Gegen dies sein absolutes Recht, Träger der gegenwärtigen Entwicklungsstufe des Weltgeistes zu sein, sind die Geister der anderen Völker rechtlos, und sie, wie die, deren Epoche vorbei ist, zählen nicht mehr in der Weltgeschichte."
Es gibt also in jeder Epoche Völker, die sich der besonderen Gunst des Weltgeistes erfreuen, gleichsam seine Autorität gepachtet haben. Diese Völker machen Epoche. Sie prägen ihre Zeit. Vielleicht kann man da an Spanien denken, das im 16.Jahrhundert eine führende Rolle in der Welt übernahm oder Frankreich, das im 18.Jahrhundert unter Ludwig XIV. oder zu Beginn des 19.Jahrhunderts aufgrund der napoleonischen Eroberungen nach der Weltherrschaft griff. Hegel, der übrigens vor den heranrückenden französischen Truppen aus Jena fliehen mußte, soll Napoleon übrigens einmal den "Weltgeist zu Pferde" genannt haben.
Die übrigen Völker haben gegenüber dem welthistorischen keine Chance, denn der Weltgeist ist ja mit diesem. Und sie haben ihm gegenüber nach Hegel auch gar kein Recht. Sie sind, wie im oberen Zitat schon gesagt "rechtlos" vor der Majestät des heranreitenden Weltgeistes. Sie sind also irgendwo der dreckige Rest, mit dem das auserwählte Volk machen kann, was immer es will.
Liest man die Rechtsphilosophie weiter, kommt man bald dahinter, worauf das alles hinausläuft: Auf eine Prophezeiung einer glorreichen Zukunft für die Deutschen, einen feuchten Traum jedes deutschtümelnden Chauvinisten.
In § 358 verheißt Hegel dem "germanischen Reich", das für ihn eines der "vier Prinzipien" der "welthistorischen Reiche" ist, eine wahrhaft verheißungsvolle und segensreiche Zukunft. Der die Geschichte bestimmende Weltgeist erlebt einen "Wendepunkt", in dem er "die unendliche Positivität dieses seines Inneren" erfaßt, "das Prinzip der Einheit der göttlichen und menschlichen Natur, die Versöhnung als der innerhalb des Selbstbewußtseins und der Subjektivität erschienenen objektiven Wahrheit und Freiheit, welche dem nordischen Prinzip der germanischen Völker zu vollführen übertragen wird."
Ich wage zu behaupten, daß der Verlauf der deutschen Geschichte nach Hegel seine Prophezeiungen eindeutig widerlegt. An welchen Abgrund die Welt durch deutsche Expansionspolitik des 20.Jahrhunderts geführt wurde, weiß heute jedes Schulkind. Im 2.Weltkrieg zum Beispiel, den das Deutsche Reich mutwillig vom Zaun brach, starben unvorstellbare 55 Mio. Menschen; Europa lag danach in Trümmern. Angesichts des Schicksals der ca. 6 Mio. in deutschen Konzentrationslagern ermordeten Juden, die Unsägliches erleiden mußten, klingt der im 19.Jahrhundert ausgesprochenen Satz, den germanischen Völkern sei in Zukunft die Versöhnung von Wahrheit und Freiheit vom Weltgeist übertragen, wie blanker Hohn.
Natürlich bin ich mir darüber im Klaren, daß Hegel keine Schuld an den zuvor genannten Greueln trägt. Ich bin auch überzeugt, daß er all dies verurteilt hätte; ich zweifle auch nicht an seiner Rechtschaffenheit und Menschlichkeit. Ich möchte aber die Riesenhaftigkeit seines historischen Fehlurteils allgemein vor Augen führen, die seiner Geschichtsphilosophie kein gutes Zeugnis ausstellt.
Ich glaube auch nicht, daß irgendein anderes Volk jemals vom Weltgeist, von Gott, der Weltgeschichte oder von wem auch immer eine moralische Mission aufgetragen bekam. Jedoch ist es wahrscheinlich, daß es viele Staaten und Völker gab, gibt und geben wird, die das gerne glauben würden.
Den Staat, der ja eigentlich ein von Menschen geschaffenes und daher fehlbares Gebilde ist, metaphysisch zu bemänteln (wie es Hegel tut, wenn es im § 257 seiner "Rechtsphilosophie" schreibt: "Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee"), ist meiner Meinung nach sehr schädlich und auch gefährlich. Erklärt man den Staat nämlich schlechterdings zur Entfaltung der Sittlichkeit, wie, und interpretiert man in die Handlungen seiner Behörden irgendwelche höheren Aufträge kosmischer Mächte, macht man ihn eigentlich moralisch unangreifbar, selbst, wenn er vollkommen schlecht und verdorben handelt. Denn jede Kritik an der Obrigkeit, und sei sie auch noch so berechtigt, wird dann zum Frevel, wenn diese in Anspruch nimmt, im göttlichen, weltgeistigen oder metaphysisch-sittlichen Auftrag zu handeln.
Ich glaube, daß die damalige Obrigkeit Hegels Philosophie gerne sah und unterstützte. Es wundert mich auch nicht, daß ein Despot wie Metternich gerne Hegels Vorlesungen besuchte. Eigentlich ist das ja ganz großartig für einen Staat und die ihn beherrschenden Kreise, zu Vollstreckern unendlich hoch stehender, metaphysischer Kräfte erklärt zu werden. Das hält die Untertanen ruhig, wenn neue Kriege geführt werden.
Ob es den von ihm postulierten, sich in der politischen und historischen Entwicklung sich selbst entfaltenden Weltgeist tatsächlich gibt, ist mehr als fraglich. Schopenhauer und Popper kritisieren beide Hegels unklare Sprache und werfen ihm durch unnötige sprachliche Komplexität vorgetäuschten Tiefsinn vor.
© dieses Textes: Patrick Horvath, Wien, 2000.