HEBER FERRAZ-LEITE

Werner Horvath: Künstler und Radiologe

Die Realität sehen

Die Auseinandersetzung mit der beruflichen und künstlerischen Arbeit Horvaths bietet uns die Möglichkeit, neue Aspekte der Interaktion des Menschen mit dem Bild zu entdecken. Die Welt Horvaths ist die des Bildes – sowohl in seiner Arbeit als Radiologe als auch in seiner Tätigkeit als schaffensreicher Künstler. Horvath hat eine Arbeitsmethode - eine Form, mit der Wirklichkeit und ihren Abbildungen zu interagieren - gelernt, die sich bei der Ausübung seines Berufes bewährt und von der er sich als schaffender Künstler nicht völlig löst. Die Realität zu sehen und zu interpretieren ist der erste Schritt, um eine brauchbare Beziehung zu ihr aufzubauen. Das Erfassen der gegebenen Wirklichkeit und das Erschaffen einer neuen - die seiner künstlerischen Welt - weisen bei Horvath gemeinsame und höchst kongruente Aspekte auf.

Bei der Arbeit als Radiologe ist es seine Aufgabe, die Realität anhand von Bildern zu entschlüsseln – die anatomische und indirekt physiologische und physiopathologische Realität des menschlichen Körpers anhand von Röntgen-, Ultraschall- und Magnetresonanz-Aufnahmen. Seine gesamte Ausbildung zielt darauf ab, Bilder anzufertigen und zu interpretieren, die Realität durch sie zu "verstehen". Ein Laie, der mit einer Röntgenaufnahme des Brustkorbs konfrontiert wird, wird aus den schwarzen, grauen und weißen Flecken höchstens die abgebildeten Körperteile erkennen, die Rippen und vielleicht auch noch jenen Fleck, der das Herz darstellt. Aber viel weiter wird er nicht vordringen können. Der Radiologe kennt ungefähr die dreidimensionale anatomische Realität des Patienten, die auf dem zweidimensionalen Bild dargestellt ist. Sein erster Eindruck unterscheidet sich selbstverständlich nicht viel von dem des Nichtfachmannes, wenn dieser den dargestellten Körperteil erkennt. Doch unmittelbar danach beginnt die Auseinandersetzung mit der zwar abgebildeten, aber für den Laien versteckten Wirklichkeit. Diese sinnlosen grauen Flecken haben ihre eigenen Abstufungen, launige Formen, unterschiedliche Größen und Beziehungen zu den benachbarten Flecken. Diese für andere unsichtbaren oder in einem undifferenzierten Magma versteckten Flecken haben für das geübte Auge Horvaths eine klare Bedeutung. Jeder Quadratmillimeter dieses Bildes mit unterschiedlichen Helligkeitsstufen repräsentiert eine penibel untersuchte und technisch festgehaltene Realität. Der Radiologe führt nun anhand der Daten dieses zweidimensionalen Bildes und über einen Prozeß der dreidimensionalen Verkörperung im Geist die Interpretation der Realität durch - in diesem Fall die anatomische und physiologische Beschaffenheit des Brustkorbs des untersuchten Patienten. Allerdings wurde auf dem Bild bloß die Realität eines einzigen Augenblicks festgehalten. Zum Zeitpunkt der Interpretation ist die - intrinsisch dynamische - Realität schon eine andere. Das dargestellte Objekt existiert nicht mehr. Aber in dem Maße, in dem seine Dynamik bekannt ist, kann auf seine aktuelle Existenz geschlossen werden. Der Prozeß der Aufnahme selbst, so sehr er auch der Fachkenntnis bedarf, da die technischen Bedingungen stets angepaßt werden müssen, läßt den ästhetischen Faktor des zu erlangenden Bildes außer acht. Die Effizienz und die technische Perfektion sind jene Faktoren, auf die es ankommt.

Horvath hingegen ist Künstler und bedarf der Magie der Bilder. Diese Magie und Ästhetik sind der Bilderwelt seiner beruflichen Arbeit fremd, die er dennoch mit anerkannter Autorität beherrscht. Seine künstlerischen Kreationen sind dagegen voll von ästhetischen Werten. Bei der Ausarbeitung seiner Werke beschreitet er gewissermaßen den entgegengesetzten Weg, den er in seiner Arbeit als Radiologe geht. So liefert er dem Betrachter eine künstlerische Realität von Bildern gemeinsam mit der Herausforderung, diese zu entschlüsseln. Nun ist er es, der das Geheimnis des Bildes schafft. Diese neue Form, Bilder zu schaffen, nennt er "Neuer Bildender Konstruktivismus".

Aus technischer Sicht wird das Bild intensiv und minutiös ausgearbeitet. Der erste Schritt ist die Auswahl des darzustellenden Bildes. Und Horvath greift für gewöhnlich zum Porträt als Medium für seine künstlerischen Zwecke: Ikonographien aus der Welt der internationalen Politik und der Geschichte; Ikonen, denen man Ruhm, Macht, Weisheit zuordnet. Oder die immer wieder verwendete Gestalt Marilyn Monroes als Ikone der Weiblichkeit. Die Bedeutung dieser sozialen Idole als Quelle für Identifikation und Sehnsüchte ist hinlänglich bekannt. Andererseits evozieren diese Bilder das angenehme Gefühl der Vertrautheit. Es gibt nichts, was uns beunruhigt, ihre Gegenwart ist uns vertraut. Und ebenso wie diese Ikonen besitzen die Bilder Horvaths die Macht eines Magneten, der unsere Aufmerksamkeit an sich zieht.

Das Bild und seine dreidimensionale Illusion ergeben sich aus dem Zusammenspiel von Hell und Dunkel. Dieses Bemühen, das Bild durch das eingehende Studium heller und dunkler Stellen zu definieren, erinnert an die Gemälde Caravaggios. Das Licht und die Behandlung des Raumes rufen gleichfalls Reminiszenzen an das Barock hervor. Horvath arbeitet üblicherweise mit Öl auf Leinen. Das Originelle seiner Arbeit besteht darin, im Abbild seiner Ikone eine Symbolwelt zu verstecken, welche sich einem nicht auf den ersten Blick erschließt, sondern erst allmählich, beim genauen Betrachten und Analysieren der Bildoberfläche. Horvath zwingt uns dazu, die Arbeitsmethode seines Berufes zu verwenden: die versteckte Realität zu entdecken!

Mehr noch, Horvath, ein genauer Kenner der Funktionsweise des Sehens, ist sich des Einflusses von Qualität und Quantität der Beleuchtung auf unsere Wahrnehmung bewußt, und er bedient sich dieses Wissens, um vor unserem Auge optische Spielereien zu inszenieren.

Auf jedem Bild Horvaths sind wir mit der Darstellung mehrerer Realitäten konfrontiert. Zunächst mit der, die wir auf den ersten Blick erkennen und die ein Bild zeigt, das wir rasch in unserem Gedächtnis auffinden, in unserem von der Presse und den audiovisuellen Medien bombardierten Bewußtsein. Dann nähern wir uns dem Werk und entdecken, daß sich hinter den uns vertrauten Bildern eine andere Realität versteckt, die uns dazu auffordert, in ein Labyrinth einzutreten und mit angestrengter Aufmerksamkeit die gesamte Oberfläche abzuwandern.

Natürlich sind die Werke Horvaths persönliche Projektionen, in denen die Bestätigung seiner eigenen Existenz auf dem Spiel steht. Diese Projektionen spiegeln die menschliche Existenz in ihrer individuellen und sozialen Komplexität, so wie Horvath sie wahrnimmt. Wir können uns daher fragen, ob seine Bilder den Versuch darstellen, dem Betrachter ein statisches Objekt anzubieten, in das er sich selbst hineinprojiziert fühlt, mit dem er sich durch die persönliche Auseinandersetzung identifiziert und das ihm so die Illusion seiner eigenen physischen Existenz schenkt, welche er wiederum mit dem Künstler teilt. Auf diese Weise eröffnet Horvath dem, der in seine künstlerische Welt eindringt, die Möglichkeit, der Angst vor der Nichtexistenz zu entkommen. Eine Einladung, die man schwerlich abschlagen kann! Aber wenn auch das Bild als statisches physisches Objekt erscheint, wohnt ihm gleichzeitig eine gewaltige potentielle Dynamik inne - aufgrund der in ihm verborgenen Realitäten, die durch einen aktiven Konfrontations- und Forschungsprozeß erfahren werden können.

Horvath täuscht uns nicht, sondern versucht, sich der Darstellung jener Realität, die er in der Welt erahnt, anzunähern, indem er sich einer List bedient, die uns in positiver Weise provoziert. Er serviert uns ironisch ein bekanntes, bereits registriertes, beruhigendes Bild. Und sobald er uns das nötige Vertrauen abgewonnen hat und wir uns an das Bild annähern, stößt er uns mit einer versteckten Realität vor den Kopf, die das Chaos der Existenz offenbart. Jetzt appelliert er an unsere eigene Vorstellungskraft und offeriert uns phantastische Welten voll von Gefühlen und Gedanken, bisweilen irritierend und bedrohlich, die eindeutig mit dem oberflächlichen Bild des Werkes assoziiert werden. So erscheint Lenin, der in seinen Hautfalten tödliche Waffen birgt, oder Stalin, in dessen Kleiderschatten schwere Panzer auffahren, oder Marilyn Monroe, voll ondulierender Formen, geschmückt mit dem ganzen Reichtum der Pflanzenwelt und tausend weichen Würmlein, die sich unter ihrer Haut schlängeln.

In den Marilyns kommen - neben den eingearbeiteten Bildern, die das Basisbild mit einer neuen Wirklichkeit besiedeln - beinahe streichelnd gearbeitete Oberflächen zum Vorschein, sicherlich ein Tribut an die Attribute der Persönlichkeit. Der Künstler nahm sich ihres Körpers an, und der Betrachter folgt mit dem Blick den sinnlich dargestellten Formen, in einem beinahe erotischen Prozeß aktiver Betrachtung.

Diese Form der malerischen Definition einer Persönlichkeit ruft uns unmittelbar die phantastischen Arbeiten Giuseppe Arcimboldos in Erinnerung, der seine Porträts aus Früchten, berufsspezifischen Attributen oder verborgenen Leibern zusammensetzte. Aber die Porträts Horvaths kommen beim Betrachter auf andere Weise an. Vielleicht ist es nicht nur die Aktualität der Persönlichkeiten, sondern auch das Zusammenspiel der optischen Bedingungen, unter denen die Rezeption stattfindet, die eine Welt von Andeutungen und Anregungen schafft, in der Fragen auftauchen, unsere Sicherheit durcheinandergewirbelt wird, wir für Momente irritiert sind und zur aktiven Teilnahme aufgefordert werden.

Ich möchte nun die Aufmerksamkeit auf zwei Phänomene lenken, die für die Bearbeitung des Bildes in den Werken Horvaths charakteristisch sind. Eines davon ist die Zerstückelung und genaue Definition der Oberfläche. Das detaillierte Studium seiner Bilder enthüllt uns die minutiöse Arbeit, die Oberfläche in eine Vielzahl von kleinen Zonen zu gliedern, von denen jede einen bestimmten Sinn erhält, der zum Ganzen beiträgt. Diese Methode des Unterteilens und Abgrenzens ist mehr der wissenschaftlichen Arbeit eigen - die Horvath nicht fremd ist - als der barocken Manier bei der Ausführung eines Gemäldes.

Das andere Phänomen ist das Zusammenfügen von Bildern wie bei einer Collage. So ergibt sich in beinahe launischer Form die Nebeneinanderstellung und Überlappung von Bildern, die zur dargestellten Persönlichkeit gehörende historisch-biographische Begebenheiten zeigen, oder auch Objekte, welche die treibenden Leidenschaften in ihrem Leben verkörpern. All das ohne zeitlichen und räumlichen Zusammenhang, will heißen chaotisch (wenn auch stets auf das Ganze oder das Basisbild abgestimmt). Die Unregelmäßigkeit, die diese Bilder charakterisiert, die unterschiedlichen Richtungen, in die sie deuten, sowie die Form, in der sie geschnitten sind oder untereinander konstelliert, stehen repräsentativ für den neurotischen Kurs unserer Gedanken, die von spirituellen Themen zu sexuellen Phantasien oder finanziellen Problemen und Alltagssorgen zu springen pflegen. Weshalb sich die vorgeschlagene Neuordnung des Raumes im ruhigen Schoß des vertrauten Bildes schlußendlich als dramatisch beunruhigend und gleichzeitig den Betrachter herausfordernd erweist. (Etwas ähnliches wird in seinem literarischen Werk geboten, auf das später noch eingegangen wird.) Horvath provoziert uns mit der These, daß zumindest zwei übereinandergelagerte Wirklichkeiten existieren. Die eine ist beruhigend und wer weiß bis zu welchem Grade fiktiv; an sie scheinen unsere Verhaltensmuster perfekt angepaßt zu sein. Mit der anderen Realität werden wir konfrontiert, wenn wir uns eingehend mit uns selbst beschäftigen; in ihr erkennen wir das Chaos, durch das wir uns unsere Existenz bewußt machen sollen. Horvath manövriert uns in ein Spannungsfeld zwischen zwei Realitäten und fordert uns dazu auf, die Realität selbst und unsere Beziehung zu ihr in Frage zu stellen.

Der literarische Beitrag Horvaths könnte nicht besser an sein malerisches Werk anknüpfen. Seine Lektüre trägt sicherlich zu einem besseren Verständnis seiner künstlerischen Welt bei. Allerdings bekommt hier das Spiel zweier gleichzeitig ablaufender Realitäten einen neuen Aspekt, da der Faktor Zeit in das Werk eingeführt wird. So wird die Collage des Bildes in den Ablauf einer Handlung übersetzt. Die Protagonisten sprechen Worte, die bereits von jemand anderem in dieser Welt gesagt wurden (Schriftsteller, Philosophen, Politiker, Journalisten, ...), als wäre selbst die gesprochene Sprache Eigentum des Universums. Und jeder darf es benützen. Die Wiederverwendung dieser Ideen in einem neuen Zusammenhang wird - in gleicher Weise wie die graphischen Symbole in der Malerei - dazu verwendet, das Werk aufzubauen. Die sich ergebende Realität ist neu und beunruhigend. Große Themen werden erörtert. Die Existenz selbst wird in Frage gestellt. Der Tod konfrontiert, zurückgewiesen, angenommen. Die Kunst neu bewertet. Die Schönheit diskutiert. Die mögliche Kenntnis der Wirklichkeit und ihre Illusion analysiert. Die Funktion des Arztes von verschiedenen Standpunkten aus überdacht.

Wenn es auch aus Platzgründen nicht möglich ist, zu jedem seiner literarischen Werke ausführlich Stellung zu beziehen, so möchte ich doch zu "Jahrtausendwende" kurz etwas anmerken. Hier tauchen die Gedanken Horvaths über den "Neuen Konstruktivismus" auf. Sie werden von einem Landstreicher verfochten, der mit einem Kunstkritiker debattiert. Dabei greift Horvath auf philosophische Begriffe zurück, auf denen der Dadaismus, der Surrealismus, der Futurismus, die abstrakte Kunst und der Konstruktivismus aufbauten. All das mit Anspielungen auf den sozio-polito-kulturellen Kontext, in dem besagte Strömungen entstanden. Raoul Hausmann ruft uns zu, daß Dada tot ist! Dalí und Breton ergreifen das Wort, aber schließlich wird einzig Sigmund Freud als Schöpfer der malerischen Realität des Surrealismus anerkannt, welcher letztlich ebenfalls für tot erklärt wird. Und so kommt Horvath dazu, sich den Futuristen anschließend, jene Ideen vorzubringen, die ihn bei der Konstruktion seiner künstlerischen Realität leiten: "(...) die Wirklichkeit nicht finden, sondern erfinden" (Paul Watzlawick); "(...) es gibt nicht bloß einen Raum und eine Zeit, sondern ebenso viele Räume und Zeiten, wie es Subjekte gibt" (Jakob von Uexküll); Erkenntnis wird als Suche nach passenden Verhaltensweisen und Denkkarten aufgefaßt, um eine mehr oder weniger verläßliche Welt zu bauen, ohne sie als objektive Wirklichkeit zu betrachten, die sie nicht ist (Ernst von Glasersfeld).

Die abstrakte Kunst versucht, die Seele mit Hilfe von Farben in Schwingung zu versetzen (Kandinsky), aber Horvath fragt, ob ihre Existenz nicht bloß eine Konvention ist. Die Kunst Horvaths hat weder mit der in den zwanziger Jahren in der Sowjetunion entstandenen Kunst und Architektur des Konstruktivismus zu tun noch mit der Verwendung nicht gegenständlicher geometrischer Elemente. Er nennt sie Konstruktivismus, weil: "Unsere Welt ist von uns konstruiert, so ist ein Bild, das diese Welt in unserem Sinn wiedergibt, wieder ein Konstrukt eines Konstrukts."

Die literarischen Werke Horvaths wachsen aus demselben philosophischen Hintergrund, und so sollen wir sie auch auffassen: als ein Konstrukt eines Konstrukts.

Ich wünsche mir, daß dieses Buch die Leserschaft zur Auseinandersetzung mit einem überaus kreativen Künstler einlädt, der über ein enormes kulturelles Wissen und eine umfangreiche intellektuelle Bildung verfügt und dessen Werke im Rahmen des "Neuen Konstruktivismus" das Ergebnis einer profunden philosophischen Auseinandersetzung mit den Problemen sind, welche die Menschheit seit jeher bewegt haben.

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