Das Gespräch

Über totalitäre Kunst

Ein Einakter von Werner Horvath

Werner Horvath: "Stützen des Kommunismus", Gemälde im Stil des neuen bildenden Konstruktivismus

Bei dem vorliegenden Einakter handelt es sich zum Teil um eine Textkollage. Dazu verwendete Ausschnitte aus anderen Werken sind durch eine vorangestellte Zahl erkennbar, welche in der Bibliographie auch die jeweilige Quelle angibt.

Das Gespräch

In einem Amtszimmer.
An der Außenseite eines halbkreisförmigen Tisches sitzen einige Herren in grauen Anzügen und trinken Kaffee; einer liest Zeitung. An der Innenseite des Tisches steht ein einfacher leerer Sessel.

Ein Beamter gießt die Blumenstöcke mittels einer Spritzpistole, indem er wie ein Guerillakämpfer ruckartig seinen Standpunkt ändert, anvisiert und zielgenau seine Wasserportionen abgibt. Dazwischen füllt er die Pistole immer wieder an einem Waschbecken. Eine ältliche Sekretärin tippt auf der Schreibmaschine.

Es klopft. Die Sekretärin geht nach draußen. Der Beamte räumt die Wasserpistole weg und nimmt gegenüber dem einfachen Sessel Platz. Er ordnet einige Papiere vor sich.

Die Tür öffnet sich wieder und die Sekretärin erscheint.

Sekretärin: Herr Ministerialrat, ich darf melden, daß der Kunstkritiker gekommen ist.

Ministerialrat: Gut. Also pünktlich ist er zumindest.
...
Er soll hereinkommen.

Die Sekretärin geht nach draußen und kommt nach kurzer Zeit mit dem Kunstkritiker wieder zurück.

Sekretärin: Bitte, hier herein ! Sie werden schon erwartet.

Kunstkritiker (tritt ein und sieht sich um): Guten Tag. Ich bin für heute bei Ihnen vorgeladen worden.

Ministerialrat: Ah, sehr erfreut, Sie zu sehen. Bitte nehmen Sie Patz ! (Er weist auf den Sessel, wo der Kunstkritiker unsicher Platz nimmt.)
...
Also, vorgeladen ist wohl nicht der richtige Ausdruck. Eingeladen, sollten Sie sagen. Eingeladen ist besser. (Er lacht.) Wir sind ja zivilisierte Menschen !
...
Außerdem, wir freuen uns schon auf das Gespräch mit Ihnen. Schließlich sind Sie der meistgelesene Kunstkritiker unseres Landes. Und wir vom Ministerium für Kunst und Kultur und (er weist auf die anderen Herren) die Vertreter der anderen Ressorts, die auch mit Kunst zu tun haben, sind sehr an diesem Gespräch interessiert. Sie können sich sicher denken, worüber wir mit Ihnen reden wollen.

Kunstkritiker: Eigentlich nicht. Ich meine, ich kann es mir eigentlich nicht denken.

Ministerialrat: Na über Kunst natürlich ! Worüber sonst wohl ?
...
Ich habe Sie übrigens gestern bei dieser Vernissage gesehen. Von diesem Bruckbauer, Sie wissen schon. Wir waren auch dort.

Kunstkritiker: Sie meinen Bruckmüller, Josef Bruckmüller, südböhmischer Maler, geboren in Budweis und dort seit vielen Jahren tätig.

Ministerialrat: Genau ! Bruckmüller oder Bruckbauer ... oder so ähnlich. Und wie haben Ihnen die Bilder gefallen ? Was werden Sie darüber schreiben?

Kunstkritiker: Nun, ich kenne den Künstler schon seit vielen Jahren und habe seine Entwicklung miterlebt.

Ministerialrat: Seine Entwicklung ? Was meinen Sie ? Was für eine Entwicklung hat denn ein abstrakter Maler ?

Kunstkritiker: Auf den ersten Blick mögen die Bilder in diese Kategorie passen. Viele bezeichnen sie so wie Sie auch als "abstrakt". Ich sehe sie aber etwas anders. Etwas differenzierter, wie ich in aller Bescheidenheit meine.

Ministerialrat: Gut. Berichten Sie ! Sagen Sie, was Sie meinen. Nur frei von der Leber weg !
...
Das wäre gleich ein guter Beginn für unser Gespräch.

Kunstkritiker: Also, wenn Sie die Bilder genau betrachtet haben, werden Ihnen vielleicht neben den amorphen Formen und den naturfarbenen Flächen einzelne Zeichen aufgefallen sein. Zum Beispiel einmal eine Spirale, oder ein Pfeil, oder ähnliches. Fast so wie auf den Ritzzeichnungen prähistorischer Höhlen, wo solche Symbole etwa als magische Zeichen eingesetzt wurden, um den Jagderfolg zu sichern.

Ministerialrat: Na großartig. Da war wo ein Pfeil auf einem Bild ! Was für eine Leistung ! - Fast so imposant wie ein Verkehrsschild.
...
Nein, ganz im Ernst, was soll nun so ein Zeichen aussagen ?

Kunstkritiker (1): Ein Zeichen ist eine materielle Erscheinung, der eine Bedeutung zugeordnet ist. Indem es etwas bedeutet, verweist es auf etwas; das heißt es deutet auf etwas hin, das von ihm selbst verschieden ist.

Ministerialrat: Und worauf deutet der ominöse Pfeil hin, den Sie vorher erwähnt haben ?

Kunstkritiker: Lassen Sie mich bitte den Gedankengang zunächst einmal vollständig ausführen. Mit dem Zeichen allein ist es nämlich noch nicht getan.
...
(1) Als Symbol tritt ein Zeichen nämlich dann auf, wenn es etwas (einen Gegenstand, einen Zustand, ein Ereignis usw.) repräsentiert, mit anderen Worten, wenn es eine "Vertretungsfunktion" erfüllt. Symbole - oder auch Repräsentationszeichen - vertreten den Gegenstand, auf den sie verweisen.

Ministerialrat: Gut, also vielleicht sagen Sie mir jetzt dann, was dieser Pfeil vertritt. Vielleicht steht er gar anstelle eines großartigen Gemäldes ?

Kunstkritiker: Wir sollten nicht so sehr an diesem einen Zeichen, diesem einen Symbol hängen, das Ihnen vielleicht wirklich nichts sagt, oder von dem Sie zumindest vorgeben, daß es Ihnen nichts sagt.
...
(1) Aufgrund unzähliger sozialer Interaktionen blickt ja jeder einzelne Mensch auf eine mehr oder weniger große Anzahl subjektiver Definitions- und Interpretationsleistungen zurück. Gleichsam als Summe dieser Erfahrungen "besitzt" somit jeder Mensch einen bestimmten (subjektiven) Vorrat an Symbolen - genauer: er verfügt über abrufbare (das heißt im Bewußtsein aktualisierbare) "Bedeutungskonglomerate".

Ministerialrat: Den Pfeil besitze ich also offenbar nicht, zumindest nicht außerhalb des Inhalts von Verkehrszeichen. Aber wozu sollten nun diese Symbole gut sein ? Was bringt es, sie zu malen ?

Kunstkritiker: Ganz einfach, man kann damit kommunizieren. Und genau dies tut Bruckmüller in seinen Bildern. Zumindest versucht er es. Er versucht es über sogenannte "signifikante Symbole".

Ministerialrat: Noch etwas Neues ! Was soll das nun wieder sein ?

Kunstkritiker (1): Ein signifikantes Symbol ist demnach ein Zeichen, das eine dahinterstehende Idee (das heißt einen bestimmten Vorstellungsinhalt) ausdrückt und diese Idee auch beim Kommunikationspartner auslöst.
...
"Symbolischer Interaktionismus" heißt dies in der Kommunikationswissenschaft, auf die Denkrichtung von George Herbert Mead zurückgehend. Und genauso nenne ich die Kunstrichtung Bruckmüllers. Weil er mit solchen signifikanten Symbolen hantiert, weil er damit Kontakt aufnimmt und letztlich kommuniziert. So wie es viele andere Künstler vergangener Epochen, von den Ägyptern angefangen, über die Minoer und Mykener bis hin zu den Indianern Mexikos auch taten, wenn auch in etwas anderer Form.

Ministerialrat: Ein bißchen kompliziert, diese Erklärung, finden Sie nicht auch ? Ein bißchen kompliziert für ein paar Pfeile und Spiralen.
...
Und das wollen Sie schreiben ?

Kunstkritiker: Ja, zum Beispiel. Immerhin wäre dies eine moderne Erklärung für ein uraltes Phänomen: die Verwendung von Archetypen, Symbolen und Signalen in der Kunst, etwa auch in der primitiven Kunst.

Ministerialrat (2): Sie reden von einer Primitivität der Kunst, und Sie vergessen dabei ganz, daß es nicht Aufgabe der Kunst ist, sich von der Entwicklung eines Volkes nach rückwärts zu entfernen, sondern daß es nur ihre Aufgabe sein kann, diese lebendige Entwicklung zu symbolisieren.

Kunstkritiker: Nun, es war ja nur ein Beispiel. Bruckmüller würde ich ja nicht als primitiven Künstler bezeichnen. Obwohl einige seiner Zeichen, einige seiner Archetypen auch schon in Werken viel früherer Epochen aufzufinden sind; das liegt eben an ihrem Symbolcharakter.

Ministerialrat (2): Außerdem ist es entweder eine unverfrorene Frechheit oder eine schwer begreifliche Dummheit, ausgerechnet unserer Zeit Werke vorzusetzen, die vielleicht vor zehn- oder zwanzigtausend Jahren von einem Steinzeitler hätten gemacht werden können.

Einer der Herren am Tisch legt jetzt die Zeitung weg und räuspert sich.
Herr (2)
: "Kunstwerke", die an sich nicht verstanden werden können, sondern als Daseinsberechtigung erst eine schwulstige Gebrauchsanweisung benötigen, um endlich jenen Verschüchterten zu finden, der einen so dummen oder frechen Unsinn geduldig aufnimmt, werden von jetzt ab den Weg zum Volk nicht mehr finden !

Ministerialrat: Gut, daß Sie das sagen, Herr Professor. Darf ich übrigens vorstellen: Dies ist der Volkskommissar für Bildungswesen und proletarische Kultur, Herr Prof. Muth.
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Und die anderen Teilnehmer an unserer Sitzung der Reihe nach: Herr Dr.Raumann vom Ausschuß zur Erneuerung der Kunst. (Dieser nickt.)
...
Herr Reichsrat Obres, Vertreter des Ministeriums für Wahrheit, Volksaufklärung und Propaganda.
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Und schließlich: Herr Dozent Kirisits, er vertritt die Vereinigung für Reinheit in der Kunst.

Kunstkritiker: Ich wußte gar nicht, daß es so etwas gibt.

Ministerialrat: Meine Funktion habe ich Ihnen bereits mitgeteilt. Ich vertrete, wie gesagt, das Ministerium für Kunst und Kultur.

Kunstkritiker: Und als was bin ich hier ? Etwa als Angeklagter ?

Ministerialrat: Wo denken Sie hin ! Wie kommen Sie nur auf solche Gedanken ?

Kunstkritiker: Also, so weit hergeholt erscheint mir das nun auch wieder nicht ! - Betrachten Sie allein unsere Sitzgelegenheiten. Sie alle haben auf ledergepolsterten Arbeitsstühlen Platz genommen. Mir hingegen haben Sie einen armseligen alten Stuhl zugedacht.

Ministerialrat: Da muß ich Ihnen schon wieder widersprechen. Ihr Sitzmöbel ist eindeutig das Allerteuerste hier im Zimmer.
...
Genau genommen hat uns der Stuhl vor etlichen Jahren 400.000 Deutsche Mark gekostet. Es handelt sich dabei nämlich um ein Objekt von Joseph Beuys.
...
Sie sitzen also auf einem Kunstwerk.
...
Ich hoffe, Sie können dies auch würdigen.

Dr.Raumann: Eines hat uns Ihre Reaktion aber jedenfalls gezeigt:
(3) Die zeitgenössischen Künstler haben große Fortschritte gemacht und ihre Fähigkeit zum Absurden perfektioniert. Die Frechheit dieser raffinierten Spaßmacher, die inzwischen weltweite Berühmtheit erlangten, hat ungehindert sämtliche Grenzen überschritten.
...
Doch...
(3) Ich ziehe vor Joseph Beuys seinen berühmten Hut. Es ist diesem genialen Lebenskünstler nicht nur geglückt, jeden deutschen Bürgermeister hereinzulegen, sondern auch seine ehrfürchtigen Kritiker.

Prof.Muth (3): Dieser krankhafte Aktionismus stößt aber bisher auf keinerlei bemerkenswerte Gegenwehr. Noch jubeln die Medien den Künstlern zu. Man ahnt erst, wie es in den Menschen gärt und brodelt. Noch schweigt die schweigende Mehrheit.

Kunstkritiker: Und das wollen Sie ändern, nicht wahr. Wozu wäre sonst ein Verteter des Propagandaministeriums hier ?

Reichsrat Obres: Das kann ich Ihnen leicht erklären. Oder vielmehr - ich werde Ihnen eine Frage stellen, durch deren Beantwortung Sie sich selbst eine Erklärung dafür geben.
...
(4) Steckt denn nicht die Kunst an sich irgendwie voll Schwäche, bedarf nicht jede Kunst noch einer anderen Kunst, die ihr ihren Vorteil aufspürt ?

Kunstkritiker: Und Sie meinen, daß die Propaganda das geeignete Mittel sei, die Vorteile der Kunst aufzuspüren ?

Reichsrat Obres: SIE haben das eben gemeint.

Dr.Raumann: Jedenfalls möchten wir wirklich etwas ändern.
...
(3) Die sogenannte moderne Kunst entfremdet die Menschen einander. Sie ist ein "Privileg" für eine angeblich fortschrittliche Elite, als Privateigentum ängstlich gehütet, für die überwältigende Mehrheit unzugänglich.

Prof.Muth: (3): Denn das ist die größte Sünde der modernen Kunst: Sie ignoriert, ja verachtet das Publikum. Und so wurde nicht nur die Schönheit aus der Kunst vertrieben, sondern auch die Liebe zu ihr. Schuld daran sind die gebildeten Aufgeklärten, die sich nicht trauen, endlich den Mund aufzumachen. Schuld sind die Feiglinge, die sich Jahr für Jahr vor dem zum Konsul avancierten Pferd verneigen und verlegen schweigen.

Kunstkritiker: Daher also weht der Wind ! Ich soll in ihrem Sinn schreiben !

Doz.Kirisits (3): Ich staune immer wieder, wie sehr sich die gebildeten Widersacher anstrengen, um nicht das Pferd beim Namen, Pferd, zu nennen. Kein Kritiker, so recht er auch haben mag, wagt es, über den Schund "abscheulicher Blödsinn" zu schreiben.

Kunstkritiker: Was aber, wenn es gar kein Schund ist ? Wenn doch etwas dahintersteckt ?

Ministerialrat (3): Gar nichts steckt dahinter. Nichts außer einem fetten Geschäft für wichtig und geheimnisvoll tuende Kunsthändler im dunklen Blazer und dem schlagenden Beweis für die ungewöhnliche Formulierungskunst einiger namhafter Kritiker.

Doz.Kirisits (5): Was heute als Kunst betrieben wird, ist Ohnmacht und Lüge.
...
(5) Man gehe durch alle Ausstellungen und man wird nur betriebsame Macher und lärmende Narren finden, die sich darin gefallen, etwas - innerlich längst als überflüssig Empfundenes - für den Markt herzurichten.

Prof.Muth:: Wir jedenfalls meinen folgendes:
(6) Die Kunst gehört dem Volke. Sie muß ihre tiefsten Wurzeln in den breiten, schaffenden Massen haben. Sie muß von diesen verstanden und geliebt werden.

Kunstkritiker: Moment, das kenne ich jetzt aber. Sie haben soeben Lenin zitiert !

Ministerialrat (3): Man muß nicht unbedingt ein leidenschaftlicher Anhänger von Genosse Lenin sein, um mit ihm einig zu gehen, daß Kunstwerke eigentlich für Menschen geschaffen werden.

Doz.Kirisits: Wir von der Vereinigung für Reinheit in der Kunst meinen:
(7) Kunst muß schön und wahr und gut sein, sie muß zur Einfachheit zurückfinden in dieser verkomplizierten Welt.

Kunstkritiker: Sie haben eben von Schönheit gesprochen. - Dann können Sie mir vielleicht auch erklären, was das sein soll.

Doz.Kirisits: Das dachte ich mir, daß Sie nicht wissen, was wahre Werte sind.
...
(3) Die Schönheit ist für die heutige Kunst gestorben.
...
(3) Die Gegenwart gehört der hoch subventionierten Mülldeponie.

Ministerialrat (3): Das Unverständliche wurde zum Zeichen intellektueller, künstlerischer Überlegenheit, und die Häßlichkeit wurde zur Pflicht.

Prof.Muth:: Doch...
(3) ...es kann der Tag nicht mehr weit sein, an dem sich die einfachen Bürger vor den Museen, den Kultusministerien, vor dem Parlament sammeln und in Sprechchören rufen werden: "Wir sind das Volk ! Wir wollen wieder Kunst !"
...
Dann müssen wir gerüstet sein.

Kunstkritiker: Trotzdem - ich wiederhole meine Frage: Was ist denn das, die Schönheit ?
...
Immerhin habe ich sie noch im Ohr, die Worte der Futuristen:
(8) "Das Schöne hat überhaupt nichts mit Kunst zu tun."
Oder:
(9) "Ein aufheulendes Auto ist schöner als die Nike von Samothrake."
Oder wie wäre es damit:
(9) "Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: Die Schönheit der Geschwindigkeit."
...
Und zumindest dieser Meinung scheinen sich viele aus ihrem sogenannten "Volk" angeschlossen zu haben. Also, nochmals: Was ist Schönheit ?

Reichsrat Obres: Zunächst einmal:
(2) Kubismus, Dadaismus, Futurismus, Impressionismus usw. haben mit unserem Volke nichts zu tun. Denn alle diese Begriffe sind weder alt noch sind sie modern, sondern sie sind einfach das gekünstelte Gestammel von Menschen, denen Gott die Gnade einer wahrhaft künstlerischen Begabung versagt und dafür die Gabe des Schwätzens oder der Täuschung verliehen hat.
...
Und nun zur Beantwortung Ihrer Frage nach der Schönheit. Soviel ich weiß, wurden vom Ministerium für Kunst dazu eine Reihe von Beispielen zusammengestellt. Wir könnten sie uns ansehen und so das Problem klären.

Ministerialrat: Sehr richtig. Also, wo wollen wir beginnen ? Herr Dozent Kirisits, Sie haben das Problem "Schönheit" angeschnitten. Was meinen Sie ?

Doz.Kirisits: Ich schlage diesbezüglich zunächst das Porträt eines jungen Mannes bzw. eines Knaben von Rieger vor, das Ihnen unser Verein zur Verfügung gestellt hat.

Ministerialrat (zur Sekretärin): Lassen Sie das Bild hereinbringen. Sie haben es gehört - Rieger.

Die Sekretärin geht hinaus. In der Zwischenzeit schenkt der Ministerialrat allen außer dem Kunstkritiker Kaffee nach und bietet Zucker und Milch an. Schließlich kommt die Sekretärin zurück, gefolgt von einem Amtsdiener, welcher ein Bild hereinträgt und vor dem Tisch hochhält.

Doz.Kirisits: Ich darf vielleicht kurz einmal das genannte Bild vorstellen. Es zeigt einen Knaben mit wachem Gesichtsausdruck, geradlinig von frontal dargestellt, mit offenem Blick und aufrechter Haltung. Er trägt eine flotte Uniform, die ihm wie angegossen sitzt. Das Gemälde stellt den Idealtypus der Jugend einer bestimmten Gesellschaft dar, sozusagen der Stolz seiner Eltern, offensichtlich in Disziplin erzogen, ein Hoffnungsträger seines Stammes. Die technische Ausführung der Malerei ist einwandfrei, ohne überflüssige Schnörkel, ohne moderne Attitüden. Mit Recht hat der Künstler seine Signatur "T.Rieger" in die rechte untere Ecke gesetzt.

Kunstkritiker: Ich habe ja einiges erwartet, aber dies hier übertrifft alle meine Befürchtungen ! Sie präsentieren mir hier allen Ernstes ein Bild aus der Ära des Dritten Reiches, auf den ersten Blick erkennbar an den Symbolen auf der Uniform ihres sogenannten "Knaben". Hitlerjunge sollten Sie richtigerweise sagen !
...
Idealisiert. - Natürlich idealisiert ! So deutsch wie der kann ja gar kein Deutscher sein !

Doz.Kirisits (4): Ist Ihrer Ansicht nach der ein irgendwie minder guter Maler, der ein Idealbild produziert, wie der Mensch am schönsten ist, alles gehörig auf die Leinwand bringt und nicht nachzuweisen vermag, daß es einen solchen Menschen tatsächlich geben kann ?
...
Wir glauben das nicht !

Kunstkritiker: Als Vorbild erscheint mir dieses konservative Bild aber nicht gerade.
...
(10) Vor allem von Adolf Hitler weiß man, daß dieser Hang zum Kulturkonservativismus auch seinem persönlichen Geist und seinem Kunstgeschmack entsprach. Es ist bezeichnend, daß im Hitler- Staat Architekten und Künstler zum Zuge kamen, die in der Weimarer Republik wegen ihrer konservativ- beharrenden Kunstvorstellungen an den Rand gedrängt waren, und daß die Avantgarde als "entartet" denunziert und verfolgt wurde.
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(10) Dem Reaktionären, das die Politik diktierte, entsprach eine reaktionäre Kunst.

Ministerialrat(11): Es zählt zu den scheinbar unausrottbaren Klischees der Kunstdiskussion, die Freiheit ausschließlich dem autonomen Kunstwerk im Sinn des 19.Jahrhunderts zuzuschreiben und jedwede andere Dimension der Kunstproduktion als eingeschränkt, beschränkt oder nicht frei zu klassifizieren.
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Aber zurück zu Ihrer Frage nach der Schönheit und der Idealisierung. Sie halten also Idealisierung für nicht wichtig ?

Kunstkritiker: Eine nicht leicht zu beantwortende Frage. Im täglichen Leben jedenfalls werden uns ständig Idealbilder als normal präsentiert. In der Werbung etwa, wo kein Mensch schön genug ist, um nicht noch mit allen Mitteln sozusagen nachbearbeitet zu werden. Mittels Computers werden die Beine jeder noch so schönen Frau noch länger dargestellt, die Pupillen noch größer, die Lippen noch voller. Das Dilemma dabei ist aber - solch ein Idealbild ist unerreichbar. Man fühlt sich dagegen selbst als minderwertig. Auch kann man einen solchen Partner niemals finden, einfach weil es ihn nicht gibt, nicht geben kann. Also in diesem Sinn - und so ähnlich erscheint mir auch das Schönheitsideal des Nazitums - in diesem Sinn lehne ich Idealisierung ab.

Ministerialrat: Ein klares Wort. (Zum Diener:) Dann könnten wir ein weiteres Beispiel bringen: "Frauenakt" von Igor Klein.
...
(Der Amtsdiener geht mit dem Bild und erscheint nach kurzer Zeit mit einem weiteren.)
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Das ist das Bild, das ich meinte. Öl auf Malkarton, 25 mal 48,5 cm. Ich sage Ihnen auch etwas über den Künstler: Igor Klein, um 1920 in Odessa tätig.

Kunstkritiker: Sie sind gut. Zuerst ein Bild aus dem Dritten Reich, jetzt eines aus dem sozialistischen Realismus bzw. ein Vorläufer davon. (Zu Prof.Muth::) Aber das ist eher Ihr Gebiet !

Prof.Muth:: Sozialistisch ? Ich kann nichts Sozialistisches erkennen. Was meinen Sie ?

Kunstkritiker: Ich meine das so:
(12) Als die Kommunistischen Parteien die ersten klar definierten Direktiven für die Kunstschaffenden formulierten, wurden strenge formale und inhaltliche Vorschriften ausgearbeitet, die einerseits die Tradition des Realismus und Naturalismus, andererseits die Formsprache des Neoklassizismus als ideale Muster vorgaben. Es wurde eine kommunistische Ikonographie als Musterbuch erarbeitet, wobei die Widersprüche zwischen vorgegebenem Realismus - als Darstellung der Wahrheit - und Idealisierung - als moralische Erziehung - nie theoretisch aufgelöst wurden.

Prof.Muth:: Das Bild stammt zwar aus der Epoche der russischen Kommunisten, aber ich sehe darauf lediglich eine nackte Frau und keine sozialistischen Inhalte. Eine mehr oder minder schöne Frau. Und deshalb wurde das Bild gewählt, nämlich um darüber - das angeschnittene Schönheitsideal - zu diskutieren.

Kunstkritiker (12): Neben dem gewünschten sozialistischen Realismus tolerierte die offizielle Kulturpolitik auch den Realismus ohne die Beifügung sozialistisch, aber auch die sozialistische Kunst, die sich nicht dem Realismus zuordnen ließ.
...
So habe ich das gemeint.

Ministerialrat: Gut. Aber zurück zum Schönheitsideal. Was ist dazu Ihre Meinung ?

Kunstkritiker: Wenn ich meinen Eindruck über das Bild wiedergeben darf: Das nackte Mädchen auf dem Stein am Strand erscheint mir nicht gar so schön. Der etwas verstockte Gesichtsausdruck - der doch deutliche Rundrücken durch Fehlhaltung - die ganze Hautfarbe - das alte Handtuch, auf dem sie sitzt - auf mich wirkt das Ganze eher etwas depressiv - ärmlich, möchte ich sagen.

Ministerialrat: Sehr konsequent sind Sie aber mit Ihrer Meinung nicht ! Eben noch haben Sie sich über die übertriebene Idealisierung beklagt ! Jetzt ist diese nicht mehr vorhanden, kein Zahnpasta- Lächeln mehr - keine silikonverschönten Brüste - eine natürliche Haltung - und schon finden Sie es - ärmlich. Schon reden Sie von Depression.
...
Menschlich, sollten Sie sagen ! Menschlich deshalb, weil dieses Schönheitsideal erreichbar ist. Man braucht nur jung zu sein, um so aussehen zu können. Nicht reich - nicht gestylt - nicht korrigiert. Also all das nicht, was Sie eben noch beklagten. Und jetzt sind Sie wieder nicht zufrieden !

Kunstkritiker: Ich gebe zu - es ist schon eine Crux mit der Schönheit. Aber -
(13) Warum ? Warum muß Kunst schön sein ? Häßlich kann edler sein als schön, und Schönes kann verdammt erlogen und hohl sein.

Ministerialrat: Genau meine Meinung. Deshalb habe ich Ihnen dieses Bild auch gezeigt - dieses EDLE Bild !
...
Aber jetzt zu etwas ganz anderem. (Zum Amtsdiener:) Bringen Sie jetzt das Opus 35 ! (Der Amtsdiener geht.)
...
Er wird uns gleich ein Bild der völlig anderen Art präsentieren. Ein wirklich abstraktes Bild.

Kunstkritiker: Da bin ich aber gespannt.

Ministerialrat: Dann müssen Sie sich aber auch äußern. Schließlich ist das Ihr Metier.

Der Amtsdiener bringt das Bild und hält es hoch.

Kunstkritiker: Der Maler dieses Bildes ist mir unbekannt.

Ministerialrat: Trotzdem - Ihre Meinung bitte.

Kunstkritiker: Was soll ich sagen.
...
(3) Ich finde das Bild frisch und jung. Der Maler arbeitet mit sparsamsten Mitteln, mit nur vier Farben. Gelb - grün - gelb - grün, am Anfang ein Blau - und als Gegengewicht oben und unten ein Rot. Perfekt.

Ministerialrat: Nicht wahr ? - Perfekt.
...
Man sollte gar nicht glauben, welch perfekte abstrakte Werke ein Affe - genauer gesagt ein Schimpanse - schaffen kann. Denn von einem solchen Affen stammt dieses Bild.
...
Da staunen Sie, was ?

Kunstkritiker: Fair sind Sie ja nicht gerade. Aber ich hätte gleich vorsichtiger sein sollen.

Reichsrat Obres: Genug des Blödsinns. Jetzt werde ich Ihnen ein Bild präsentieren. Eines, das für mich Relevanz besitzt. (Zum Amtsdiener:) Bringen Sie den Iwanow. (Amtsdiener geht.)
...
Und ich sage Ihnen gleich, es ist dies nun tatsächlich ein Bild des sozialistischen Realismus. Und zwar eines der besten.
...
Der Künstler heißt:
(14) Wassilij Filipowitsch Iwanow, geboren 1928 in Maksimkowo bei Smolensk, war tätig in Moskau.
...
(Der Amtsdiener bringt ein sehr großes Bild und hält es mit Hilfe der Sekretärin hoch.)
...
Lenin, Öl auf Leinwand, cyrillisch signiert.

Kunstkritiker: Das kann ich mir vorstellen, daß Ihnen dieses Gemälde zusagt. Es hatte sicherlich einen überaus großen Propagandawert.

Reichsrat Obres: Das auch. Vor allem aber beeindruckt bei diesem Bild die perfekte Komposition, die klare Einteilung, der durchdachte Aufbau, die technisch einwandfreie Ausführung und - da stimme ich Ihnen zu - auch die Aussage.

Kunstkritiker: Aber es ist ein typisches Produkt aus einer Zeit der Staatskunst - der Machtkunst.

Ministerialrat (10): Kunst war seit jeher Staatskunst, Machtkunst und Kultkunst, sieht man von jenen durch die Kunstgeschichte in der Regel übergangenen Hervorbringungen ab, die von Anonymen stammen und unter dem heute etwas dikreditierend klingenden Begriff Volkskunst zusammengefaßt werden. Aber die klassische Kunst der Kunstgeschichte, die sogenannte Hochkunst, war immer Pflichtkunst, Zweckkunst, Kunst der Repräsentation und der Propaganda.

Kunstkritiker: Aber...
(12) Der Begriff Staatskunst bezeichnet eine staatliche Repräsentationskunst, die von streng formulierten formalen und inhaltlichen Vorschriften geprägt ist und etwa von der stalinistischen Ideologie her als Kampfmittel im historischen Klassenkampf eingesetzt wurde.

Reichsrat Obres (12): Alles, was in Osteuropa während des Stalinismus als Staatskunst entwickelt worden war, findet man auch in Westeuropa.

Ministerialrat(11): Zwar stellte sich das Diktat des sozialistischen Realismus programmatisch gesehen als Aufforderung zum Kitschverfahren heraus, aber das heißt noch lange nicht, daß einzelne Künstler, die eben unter dieser Flagge des sozialistischen Realismus firmierten, nicht nach wie vor gültige Kunstwerke schufen, quasi unter einer Prämisse und der ohnehin ästhetisch eher wirkungslosen Kontrolle ihre spezifische Arbeit, wenn auch in thematischer Übereinstimmung, einbrachten.
...
Denken Sie etwa an den auch bei uns weitgehend anerkannten jüdisch-russischen Maler Isaak Israiljewitsch Brodskij.

Kunstkritiker: Eines muß ich allerdings zugeben:
(15) Die Porträts Josef Stalins und anderer Führer, pompöse Szenen, Partei-, Staats- und Militärrituale sowie die Propagandabilder der "schöpferischen sozialistischen Arbeit" und des glücklichen Lebens im Lande des siegreichen Sozialismus - all dies ist heute Kunstgeschichte.

Ministerialrat (15): Ebensowenig empfindet heute noch jemand die pompösen Porträts und allegorischen Kompositionen des Barock als ideologische Stütze weltlicher oder geistlicher Macht, - sondern als Kunstgeschichte.

Prof.Muth:: Außerdem...
(11) Niemand zweifelt ernsthaft daran, daß es einen Konnex zwischen Kunst und Gesellschaft, zwischen Künstler und Umwelt gibt. Die Differenzierungen mit ihren Extremformulierungen, den Künstler ausschließlich als Produkt der Gesellschaft zu sehen, oder den Künstler als individuelle Losgelöstheit aus dieser Gesellschaft zu begreifen, weisen eher auf ideologisch- politische Schwerpunktsetzungen hin denn auf immanent künstlerische.

Kunstkritiker: Ich sehe das Problem so:
(11) Wahrscheinlich ist zwischen einer integrativen und damit bei topographischer Befindlichkeit nicht steuerbaren Beziehung zwischen Künstler und Gesellschaft einerseits und einem in der Selbststeuerung des Künstlers gelegenen Freiraum gegenüber dieser Gesellschaft andererseits zu unterscheiden.

Ministerialrat: Genau.
(11) Und dieser Freiraum wird von den Künstlern selbst gerne als FreiHEITSraum artikuliert.

Kunstkritiker (weist auf das Lenin- Bild): Dennoch sind und bleiben solche Künstler eben Auftragskünstler.

Ministerialrat (11): Die Beauftragung des Künstlers mit einer thematischen Arbeit gilt in der Klischeediskussion um den Begriff Freiheit auch in unseren westlichen Ländern als zwanghafte Einschränkung. Damit wird impliziert, daß die Nichtbeauftragung keine Themenstellung beinhalte, daß die Autonomie des Künstlers keine Erfüllung einer von sich selbst gestellten Anforderung darstelle, daß thematische Arbeit quasi den Zwang und "freie" Arbeit quasi das Paradies darstellt.

Kunstkritiker: Und Sie meinen das nicht ?

Ministerialrat (11): Diese Argumentation ist unlogisch und greift zu kurz. Denn jedwede künstlerische Arbeit ist eine thematische Arbeit, gleichgültig, ob formuliert oder nicht, gleichgültig, ob materiell oder immateriell, gleichgültig, ob literarisch ausdrückbar oder in assoziativer Verschleierung. Die Anforderung an den Künstler ist jedenfalls gegeben, gleichgültig, ob von ihm selbst postuliert oder von einer Gesellschaft, einer Gruppe, einer Person artikuliert.

Amtsdiener (setzt das Bild ab): Kann ich das Bild jetzt wegbringen ?

Ministerialrat (zeigt auf einen in der Wand befindlichen Haken): Nein, hängen Sie es hier auf.

Der Amtsdiener hängt das Gemälde unterstützt von der Sekretärin umständlich auf und geht dann.

Dr.Raumann (zum Kunstkritiker): Ich nehme an, daß Sie nun nachvollziehen können, was wir mit "Erneuerung der Kunst" meinen. Oder irre ich mich ?

Kunstkritiker: Jedenfalls - und nehmen Sie diese Aussage wie Sie wollen - haben Sie sich ziemlich hohe Ziele gesteckt. Vielleicht zu hohe.

Dr Raumann (16): Man muß es wie die klugen Bogenschützen machen; wenn ihnen der Ort, den sie zu treffen beabsichtigen, zu weit entfernt erscheint, weil sie wissen, wie weit die Kraft ihres Bogens trägt, so setzen sie das Ziel beträchtlich höher an als den dazu bestimmten Ort, nicht um mit ihrem Pfeil in solche Höhe zu gelangen, sondern um mit Hilfe eines so hohen Ziels ihren Zweck zu erreichen.

Kunstkritiker: Ihr Beispiel gefällt mir. Allerdings weniger auf Grund seiner Aussage. Mehr, weil es den Charakter Ihres Vorgehens widerspiegelt: Und dieses ist durch und durch militant.

Dr.Raumann (16): So kommt es, daß alle bewaffneten Propheten gesiegt haben und die unbewaffneten gescheitert sind.
...
Und schließlich wollen wir unsere Ziele ja auch durchsetzen.

Kunstkritiker: Ich habe nie daran gezweifelt. Aber wo bleibt die Freiheit der Kunst ?

Ministerialrat (17): Was die Kunst braucht, einzig und allein braucht, ist Material. Freiheit braucht sie nicht - sie ist Freiheit.

Kunstkritiker: Aber..
(17)...es kann ihr einer die Freiheit nehmen, sich zu zeigen.

Ministerialrat (17): Freiheit geben kann ihr keiner, kein Staat, keine Stadt, keine Gesellschaft kann sich etwas darauf einbilden, ihr das zu geben oder gegeben zu haben, was sie von Natur aus ist.

Kunstkritiker: Diesbezüglich muß ich Ihnen sogar zustimmen. - Doch...
(10) Wenn es auch zwischen Machtkunst und Marktkunst kein Drittes geben kann, weil Kunst immer unter den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen, die vorherrschen, öffentlich und verbreitet wird, so könnte man doch wenigstens einer Utopie nachhängen, die Alternativen zumindest ausmalt.

Ministerialrat: Hängen Sie nach, malen Sie aus. Niemand verbietet es Ihnen.

Prof.Muth:: Doch bedenken Sie:
(18) Die Kunst bedarf der Schranken. Und ihre vornehmste Schranke ist das Volk und sein natürlicher Geschmack.
...
Andererseits ist uns allen klar:
(19) Die proletarische Kultur fällt nicht vom Himmel.
...
(19) In Kulturfragen gibt es nichts Schädlicheres als Übereile und Leichtfertigkeit.
...
(19) Und nirgends werden die Fragen dieser Kultur so tiefschürfend und so folgerichtig gestellt wie bei uns.

Kunstkritiker: Jedenfalls gehen Sie an die Sache sehr fanatisch heran !

Prof.Muth: (20): Kunst ist eine erhabene und zum Fanatismus verpflichtende Mission !

Kunstkritiker: Gestatten Sie mir noch eine Frage. - In welchem Zeitraum wollen Sie Ihr Vorhaben verwirklichen ? Ab sofort - oder in Zukunft - in einem Jahr - innerhalb von 10 Jahren ?

Prof.Muth: (2): Wir werden von jetzt ab einen unerbittlichen Säuberungskrieg führen gegen die letzten Elemente unserer Kulturzersetzung...
...
(2) Und wenn einst einmal auch auf diesem Gebiet wieder die heilige Gewissenhaftigkeit zu ihrem Recht kommt, dann wird, daran zweifle ich nicht, der Allmächtige aus der Masse dieser anständigen Kunstschaffenden wieder einzelne emporheben zum ewigen Sternenhimmel der unvergänglichen, gottbegnadeten Künstler großer Zeiten.

Ministerialrat (zum Kunstkritiker): Und bis es soweit ist, können Sie Ihrer Utopie nachhängen, daß es diesen Spielraum geben könnte, zwischen - wie Sie sagten - Machtkunst und Marktkunst.

Kunstkritiker: Ein wenig Zeit bleibt mir also noch. Ich werde sie nutzen. Und vielleicht wird aus der Utopie doch noch Wirklichkeit.

Reichsrat Obres: Auf eines muß ich Sie allerdings noch aufmerksam machen.
...
Die Zeitung, für die Sie schreiben, ist vor kurzem in unseren Besitz übergegangen.

Kunstkritiker: Welche Zeitung ? Ich schreibe für mehrere. Das Tagblatt - Die überregionalen Nachrichten - Das Antlitz - Neues - Der Bote ?

Reichrat Obres: Ja, die alle. Und noch einige mehr.

Es ist eine Zeit lang still im Zimmer.

Ministerialrat: Sie können Ihre Rezension über die Ausstellung von diesem Bruckbauer, Sie wissen schon, also gleich unserer Sekretärin diktieren. Sie wird dann ein paar Versionen an die genannten Zeitungen weitergeben. Das spart Ihnen einiges an Mühe.

Es ist wieder still im Zimmer. Die Sekretärin setzt sich mit einem Notizblock zum Kunstkritiker.

Kunstkritiker (räuspert sich schließlich): Schreiben Sie: Gestern fand die Eröffnung der Ausstellung des südböhmischen Malers Josef Bruckmüller in der Galerie Goldenes Kreuz statt. Das Interesse des Publikums an den abstrakten Bildern hielt sich in Grenzen. Nur wenige geladene Gäste kamen zu Vernissage und Buffet. Man reichte russische Eier, diverse Salate, Mayonnaisen und Speck. Mit den Resten der Tafel hätte man notleidende Kinder in der Vierten Welt eine Zeit lang versorgen können.

Ministerialrat: Gut. - Ich sehe, wir haben uns verstanden.
...
Ich glaube, unser Gespräch kann damit beendet werden.
...
(Er erhebt sich.) Ich danke allen Anwesenden für ihre rege Teilnahme an unserem Gedankenaustausch.
...
(Zum Kunstkritiker:) Ganz besonders danke ich Ihnen für Ihr Kommen und für die Einbringung Ihrer Vorstellungen und Ideen. Ich darf mich daher von Ihnen verabschieden (reicht dem Kunstkritiker die Hand) und hoffe auf eine lange und fruchtbare Zusammenarbeit.

Kunstkritiker: Dann darf ich mich auch verabschieden.
...
Aber -
...
träumen darf ich vielleicht doch...
von Bildern anderer Art...
zum Beispiel von einem Gegengewicht zu Ihrem Hitlerjungen...
ein Bild, das den inneren Zustand der Jugend von damals zeigt, als sie in den Krieg ziehen mußte...
...
...
Vielleicht auch von einer Lenin- und Stalindarstellung...
aus den Knochen der in den Lagern Umgekommenen zusammengesetzt...
das vergossene Blut nur zum Teil verdeckend...
...
Aber was rede ich. -
Es ist ja doch nur ein Traum.

Er wendet sich zur Tür.

Ministerialrat: Träumen Sie nur, lieber Freund, träumen Sie nur ! - Träume sind frei.

Der Vorhang fällt.

Bibliographie

(1) Roland Burkart: Kommunikationswissenschaft. Böhlau- Verlag, Wien, Köln, Weimar, 1995.

(2) Adolf Hitler: Rede zur Eröffnung des Hauses der Deutschen Kunst am 19.7.1937. In: "Große Geschichte des Dritten Reichs und des Zweiten Weltkriegs". Naturalis- Verlag, München, Köln, 1989.

(3) Ephraim Kishon: Picassos süße Rache. Langen Müller - Verlag, 1995.

(4) Platon: Der Staat. Phaidon- Verlag, Kettwig, 1992.

(5) Oswald Spengler. Der Untergang des Abendlandes. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1972.

(6) W.I. Lenin. In: "Dagegen - Verbotene Ostkunst 1948 - 1989". Ausstellungkatalog des Ostfonds für kulturelle Angelegenheiten des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst. Wien, 1991.

(7) Friedensreich Hundertwasser: Rede anläßlich der Verleihung des Österreichischen Staatspreises. In: Ephraim Kishon: "Picassos süße Rache." Langen Müller - Verlag, 1995.

(8) Corradini, Settinelli. In: "Drahtlose Phantasie - Auf- und Ausrufe des Futurismus". Edition Nautilus, Verlag Lutz Schulenburg, Hamburg, 1992.

(9) F.T. Marinetti. In: "Drahtlose Phantasie - Auf- und Ausrufe des Futurismus". Edition Nautilus, Verlag Lutz Schulenburg, Hamburg, 1992.

(10) Harald Sterk: Staatskunst, Machtkunst, Kultkunst, Cliquenkunst. In: "Dagegen - Verbotene Ostkunst 1948 - 1989". Ausstellungkatalog des Ostfonds für kulturelle Angelegenheiten des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst. Wien, 1991.

(11) Manfred Wagner: Kunst und Freiheit. In: "Dagegen - Verbotene Ostkunst 1948 - 1989". Ausstellungkatalog des Ostfonds für kulturelle Angelegenheiten des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst. Wien, 1991.

(12) Lorand Hegyi: Zur Begriffserklärung. In: "Dagegen - Verbotene Ostkunst 1948 - 1989". Ausstellungkatalog des Ostfonds für kulturelle Angelegenheiten des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst. Wien, 1991.

(13) Dietrich Bantel: Leserbrief. In: Ephraim Kishon: "Picassos süße Rache." Langen Müller - Verlag, 1995.

(14) Erster österreichischer Kunst- und Antiquitäten- Versandkatalog, Volume 7. Kunsthaus Zacke, Wien, 1996.

(15) Viktor Waldemerow: Sowjetunion. In: "Dagegen - Verbotene Ostkunst 1948 - 1989". Ausstellungkatalog des Ostfonds für kulturelle Angelegenheiten des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst. Wien, 1991.

(16) Niccolo Machiavelli: Der Fürst. Verlag Philipp Reclam jun., Stuttgart, 1993.

(17) Heinrich Böll: Wuppertaler Rede. In: Ephraim Kishon: "Picassos süße Rache." Langen Müller - Verlag, 1995.

(18) Walter Rathenau. In: Ephraim Kishon: "Picassos süße Rache." Langen Müller - Verlag, 1995.

(19) W.I. Lenin: Ausgewählte Werke. Verlag Progress, Moskau, 1987.

(20) Adolf Hitler. In: Prospekt zur Ausstellung "Kunst und Diktatur", Wien, 1994.

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Inhalt von

© dieser Textkollage: 1996 Werner Horvath, Linz.