Große Denker:
Einleitung
Warum dieses Buch ?
Das
vorliegende Buch handelt von den großen Denkern der
Vergangenheit und der
Gegenwart. Sie sind es, die unsere Kultur begründeten; und
gewiss werden andere
große Denker ihr Werk in der Zukunft fortsetzen und so das
Begonnene
weiterentwickeln. Wie viele große Werke gibt es, die noch
nicht geschrieben
sind!
Sie,
die großen Denker, sind die wahren und
bewundernswürdigen Helden ihrer Zeit -
nicht die Feldherren, die ihre bewaffneten Imperien auf den blutenden
Leichen
niedergemetzelter Massen errichteten. Es sind die inneren
Kämpfe der großen
Denker, die über das Schicksal unserer Kultur entscheiden; sie
bauen auch
“Imperien” auf, aber geistige; und sie tun dies,
ohne dabei Blut zu vergießen.
Es heißt, man hat Buddhas Eltern einstmals prophezeit, dass
ihr Sohn in Zukunft
entweder ein Welteroberer oder ein Welterleuchter sein wird. Wie gut,
dass er
letztlich ein Welterleuchter wurde; welchen Nutzen hat er so der
Menschheit
gebracht; welch viel edleres Schicksal war ihm so beschieden; um wie
viel
dauerhafter war so sein Ruhm! Die von ihm begründeten Reiche
wären längst
vergangen, aber seine geistigen Werke finden nach Jahrtausenden immer
noch Anhänger;
sie haben überdauert und verändern die Welt.
“Große
Denker” - was ist denn groß an einem Denker? Es ist
natürlich die ihm eigene
Tätigkeit, das Denken, das ihn groß macht; diese
Tätigkeit, die dem Menschen
so wesentlich ist und in der er sein innerstes Wesen entfalten und den
Gipfelpunkt seiner Existenz erreichen kann. Nach Meinung des Autors ist
es immer
lohnenswert, sich mit großen Denkern zu
beschäftigen. Seneca sprach einst von
einer charakterlichen Veredelung, die uns erwächst, wenn wir
die großen Denker
der Weltgeschichte - vermittelt durch ihre Bücher - zu Lehrern
haben. Dazu
kommt noch, dass ihre Ideen, so abstrakt sie auf den ersten Blick auch
erscheinen mögen, durchaus Praxisbezug besitzen. Sie
können uns - entgegen
ihres ungerechterweise bestehenden schlechten Rufes, nur im
“Elfenbeinturm”
relevant zu sein - sehr wohl helfen, unser Leben besser zu
bewältigen, sei es
im Alltag, in persönlichen Krisenzeiten, in
zwischenmenschlichen Beziehungen
oder in der Politik. Die Beschäftigung mit großen
Denkern schärft unseren
Verstand, macht uns kritischer und weniger anfällig
für obrigkeitliche
Manipulation. Sie eröffnet uns viele neue Horizonte und
lässt uns die Welt, in
der wir leben, besser verstehen. Sie macht unser Leben interessanter,
spannender, lebenswerter.
Es
ist das Anliegen des vorliegenden Buches, die Ideen der
großen Denker einem
breiten Publikum näher zu bringen - u.a. aus der von Karl
Popper inspirierten
demokratischen Überzeugung heraus, dass ihre Ergebnisse und
Gedankengänge alle
Menschen etwas angehen. Jeder Mensch kann denken; und er hat auch das
Recht (und
sogar die Pflicht!), dies möglichst oft zu tun - zu seinem
eigenen Wohl und dem
der anderen. Das vorliegende Buch will allgemein verständliche
Informationen über
Fragestellungen und Ergebnisse großer Denker zur
Verfügung stellen; diese
Informationen sollen dann das eigene Denken eines jeden Menschen
anregen und
bereichern. Sie sollen zudem, um die Öffentlichkeit auch zu
erreichen, bei
Wahrung der nötigen wissenschaftlichen Seriosität, so
anschaulich wie irgend möglich
präsentiert werden. Wer sagt, dass seriöses Denken
immer langweilig sein muss?
Das
vorliegende Buch wendet sich entsprechend dieser Zielsetzung nicht an
die
akademische Fachwelt, sondern an Leser, die zwar Interesse und
Intelligenz, aber
nicht unbedingt eine akademische philosophische bzw.
geistesgeschichtliche
Fachausbildung mitbringen. Es ist z.B. für den
vielbeschäftigten Manager
geschrieben, der sich bisher vor allem mit wirtschaftlichen Fragen
beschäftigt
hat. Seine intensive Arbeit ließ ihm aber nicht die Zeit, in
eine
philosophische Fachbibliothek zu gehen und zahllose
“Schwarten” mit jeweils
ein paar tausend Seiten zu lesen. Er hat aber vielleicht den Eindruck,
dass ihm
nun in seiner Bildung etwas fehlt und würde auch privat ganz
gerne wissen, was
große Denker wie Sokrates oder Kant eigentlich meinten. Ihm
sei dieses Buch ans
Herz gelegt. Dasselbe gilt sinngemäß auch
für den Arzt oder Rechtsanwalt, der
sich in kulturwissenschaftliche Themen einlesen will; auch der einfache
Arbeiter
oder Angestellte soll nicht ausgeschlossen werden. Dem Schüler
oder Studenten
kann dieses Buch ebenfalls einen Einstieg in die Philosophie und
Grundkenntnisse
ihrer Fragestellungen, Methoden und Ergebnisse bieten.
Um
die Lesbarkeit des Textes zu erhöhen, wurde er nicht mit
Fußnoten überfrachtet;
lediglich die allerwichtigsten Quellenangaben wurden in den Text
integriert. Die
antiquierte Rechtschreibung und Ausdrucksweise der alten Texte wurde
von Fall zu
Fall modernisiert - allerdings mit peinlichster Rücksicht
darauf, dass der Sinn
auf jeden Fall erhalten bleibt.
Das
vorliegende Buch ist auch kein lexikales Nachschlagewerk, in dem alle
wesentlichen großen Denker der Weltgeschichte alphabetisch
geordnet (und
ansonsten völlig zusammenhangslos) aneinandergereiht sind. Es
kann aus Platzgründen
ebenfalls nicht eine vollständige und lückenlose
Geschichte der abendländischen
Philosophie geliefert werden. Interessierte an solchen Werken seien mit
gutem
Gewissen u.a. auf das “Metzler Philosophen-Lexikon”
einerseits und Bertrand
Russels “Denker des Abendlandes” andererseits
verwiesen - es sind zwei
besonders empfehlenswerte unter den zahlreichen umsichtig gestalteten
Büchern
ihrer Art. Das vorliegende Buch ist aber anders als die genannten
Arbeiten, denn
es bietet lediglich eine kleine Auswahl aus einer riesigen
Fülle faszinierender
Persönlichkeiten, die unser Denken prägten und weiter
prägen sollten - nicht
mehr, nicht weniger.
Eine
Auswahl ist naturgemäß immer unvollständig.
Gleichzeitig vermag eine Auswahl
aber etwas, was systematischere Werke nicht können,
nämlich dem Leser Bildung
anschaulich zu vermitteln, ohne in sinnloser Belehrung das Wesentliche
in einer
Fülle unwichtiger Fakten untergehen zu lassen. Der oben
skizzierte bescheidene
Hauptzweck dieses Buches, brauchbare Informationen zu bieten, dabei gut
lesbar
zu sein und dem interessierten Menschen Freude zu bereiten, wird durch
eine
solche Vorgehensweise am besten erfüllt.
Nach
welchen Kriterien aus einer großen Fülle wertvoller
Informationen gewählt
wird, ist immer eine schwierige Frage. Mit welchem Recht bezeichnen wir
z.B. den
einen Denker größer als einen anderen? Warum
beschäftigen wir uns mit dem
einen und lassen den anderen links liegen? Was bedeutet - um die Frage
von
weiter oben nochmals zu stellen und noch detaillierter zu beantworten -
“Größe”
bei einem Denker?
Für
mich bedeutet "Größe" bei einem Denker bis zu einem
gewissen Grad,
dass er mehr oder weniger international bekannt ist. Jeder kennt
Sokrates,
zumindest dem Namen nach. Aber z.B. den Gegenwartsphilosophen Yeshajahu
Leibowiz
kennt man über die Grenzen seiner Heimat Israel hinaus
praktisch nicht.
Interessante, aber weitgehend unbekannte Persönlichkeiten
vorzustellen ist im
Rahmen dieses Buches aber wahrscheinlich fehl am Platz. Das Kriterium
der
internationalen Bekanntheit ist also vielleicht ein Anfang, um die
“Größe”
eines Denkers näher zu bestimmen. Aber allein mit ihm ist es
noch nicht getan;
es bleiben noch immer zu viele Denker übrig, als in einem
kleinen Büchlein
unterkommen können. Man wird auch nach anderen Kriterien (und
zwar auch
qualitativen) auswählen müssen. Aber nach welchen
bloß?
An
dieser Stelle kommt ein Trend der Gegenwart zu Hilfe: Wir leben im
Zeitalter des
sich vereinenden Europa.
Früher
war die Idee eines friedlich vereinten Europa eine erhebende,
allerdings sehr
unrealistische Vision großer Denker. Heute, an der Schwelle
des
21.Jahrhunderts, ist sie dabei, Realität zu werden: Es gibt
den Europarat, die
Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
(OSZE) und vor allem -
seit der Unterzeichnung des Vertrages von Maastricht Anfang der 90er -
die Europäische
Union mit ihrem freien Markt und ihrer gemeinsamen Währung als
bisher engste
und fortgeschrittenste Kooperation der europäischen Staaten.
Ein
philosophischer Gedanke ist hier, so könnte man den Verlauf
der Geschichte
interpretieren, in einer “Politik der kleinen
Schritte” in die konkrete
politische Realität umgesetzt worden.
Es
ist angesichts dieser politischen Entwicklungen sehr
zeitgemäß, aktuell und
sogar unbedingt notwendig, Überlegungen zum kulturellen
Fundament anzustellen,
das diesem vereinten Europa zugrunde liegt. Der Satz “Ich bin
Europäer”
soll ja nicht nur bedeuten, dass man von einer bestimmten
Bürokratie verwaltet
wird. Es bedeutet vielmehr, einer jahrhundertealten Kultur
anzugehören, die für
bestimmte Werte steht.
Das
Fundament dieser Kultur liegt in der griechisch-römischen
Antike; das
Christentum hat ihr Antlitz für lange Zeit geprägt,
wobei seit der Aufklärung
im 18.Jahrhundert und der Friedensbewegung im 19. und 20.Jahrhundert
zunehmend
“weltliche” Werte in sie Einzug hielten. Im Laufe
der Jahrhunderte haben die
Europäer entsprechend, trotz häufiger
Rückfälle in Nationalismus und
Barbarei (die schrecklichsten dieser Rückfälle waren
die beiden Weltkriege)
auch niemals ganz das Bewusstsein verloren, einer
größeren Völkerfamilie
anzugehören. Diese schon immer empfundene kulturelle Einheit
verfügte freilich
lange über keinen Niederschlag in der politischen
Realität. Europa war, so könnte
man sagen, lange von der Kultur vereint, aber von der Politik
zerrissen. Das
soll und wird sich in Zukunft ändern.
Ein
Europa ohne dieses kulturelles Fundament wäre nichts. Es gibt
meiner Ansicht
nach ein solches gemeinsames kulturelles Fundament, trotz aller
nationaler
Eigenarten. Aber es kann nicht schaden, dieses Fundament in Erinnerung
zu rufen,
alle Gemeinsamkeiten weiter zu pflegen und weiter zu entwickeln. Dieses
Buch
kann vielleicht einen bescheidenen Beitrag dazu leisten, teilt es doch
besagte
Thematik. An dieser Stelle wird klar, warum ein deutlicher
Europaschwerpunkt in
der Auswahl großer Denker gesetzt wurde: Dies geschah nicht
aus Geringschätzung
außereuropäischer Weisheitslehrer, sondern weil in
Europa gerade ein
spannender Transformationsprozess stattfindet, der es wert ist, ins
Zentrum der
Aufmerksamkeit eines jeden Forschers zu rücken.
Um
das kulturelle Fundament Europas näher zu bestimmen, kann man
auf die Meinung
Karl Poppers zurückgreifen. In einer seiner Arbeiten
(“Woran glaubt der
Westen” in der Aufsatzsammlung “Auf der Suche nach
einer besseren Welt”)
versucht er zu bestimmen, worin die für das auf
europäischen Boden entstandene
sogenannte “Abendland” heutzutage verbindlichen
Werte liegen. Popper weist
die zunächst naheliegende Ansicht zurück, diese
würden im Christentum zu
finden sein. Er räumt ein, dass das Christentum die Geschichte
Europas geprägt
hat wie kaum eine andere geistige Bewegung, verweist aber auf die
politische und
soziale Realität der Gegenwart, die der christlichen Religion
immer geringere
Bedeutung beimisst (“Unsere Gesellschaft ist keine
christliche
Gesellschaft...”). Er hielte es auch für einen
Fehler, in Zukunft eine rein
auf dem Christentum beruhende Gesellschaftsordnung aufbauen zu wollen;
nach
Jahrhunderten der Religionskämpfen hat sich nämlich
zum Glück die Idee der
religiösen Freiheit und Toleranz allgemein durchgesetzt und
der von John Stuart
Mill u.a. formulierte Gedanke, dass erzwungener Glaube nichts wert ist.
Die
Folge von Freiheit und Toleranz ist die Pluralität. Es gibt in
Europa längst
nicht mehr die eine “wahre” Religion, sondern viele
verschiedene Formen des
Glaubens und der Weltanschauungen. Die Trennung von Kirche und Staat
ist zudem
allgemein anerkannt; sie ist eine Absage an die Versuche, die
politische Macht
zur Durchsetzung einer bestimmten Religion zu instrumentalisieren;
diese
Versuche bedrohen die Freiheit des Einzelnen, spalten die Gesellschaft
und drängen
Andersgläubige und - denkende an den Rand. Das neue vereinte
Europa also v.a.
christlich zu konzipieren (wie es auch gegenwärtig der
Wunschvorstellung vieler
katholischer Theologen entspricht) wäre entsprechend, denkt
man die
Popper’schen Ausführungen
sinngemäß weiter, eher ein Rückfall in
bereits
überwundene Zeiten.
Letztendlich
lokalisiert Popper die für das Abendland verbindlichen Werte
in den Überzeugungen
der Aufklärung, einer geistigen Bewegung
mit Vorläufern in der Antike,
die im 18.Jahrhundert in den Werken bedeutender Philosophen (wie
Voltaire oder
Kant) aufblühte, im politischen Bereich sich im
Freiheitsstreben der
Amerikanischen und Französischen Revolution
äußerte, im 19. und
20.Jahrhundert Fortsetzungen fand z.B. im Werk der Friedensbewegung,
seine größte
Bedrohung durch den Nationalsozialismus erlebte (der nach Dr.Goebbels
Aussage
das Jahr 1789 - also die Errungenschaften der Französischen
Revolution - aus
der Geschichte ausradieren wollte) und heute den Geist der
innerstaatlichen
Grundordnung der westlichen Demokratien und der internationalen Arbeit
der
Vereinten Nationen und z.B. ihrer “Allgemeinen
Erklärung der
Menschenrechte” wesentlich bestimmt.
Die
Werte dieser Bewegung kommen u.a. zum Ausdruck im Schlachtruf der
Französischen
Revolution: “Freiheit, Gleichheit,
Brüderlichkeit!” Es geht also um
Freiheiten des Individuums (z.B. Religions- und Gewissensfreiheit,
Rede-,
Meinungs- und Gedankenfreiheit, Schutz des Briefverkehrs und der
Privatsphäre,
Reise- und Niederlassungsfreiheit) und natürlich um damit
zusammenhängende
Rechte oder Geisteshaltungen, die uns helfen sollen, die Freiheit zu
verwirklichen (Recht auf Bildung, allgemeine Wertschätzung der
Toleranz und
Pluralität). Demokratie bedeutet aber auch Gleichheit vor dem
Gesetz sowie
zumindest Chancengleichheit im Wettbewerb um politische, soziale,
wirtschaftliche Stellungen; und es bedeutet auch Gleichberechtigung von
Mann und
Frau. Und es muss, dies ist mit Brüderlichkeit
hauptsächlich gemeint, auch
eine gewisse soziale Absicherung für die Schwächsten
der Gesellschaft geben.
Ich bezeichne einen Denker dann als groß, wenn er zu diesen
hier genannten
Werten einen noch so geringen Beitrag geleistet hat; war sein Werk
ihnen abträglich,
schmälert dies in meinen Augen seine Größe.
Und
so erklären sich auch manche Tendenzen der vorliegenden
Auswahl. Es ist z.B.
kein reiner Zufall, dass Platon, dessen
“Idealstaat” keine individuellen
Rechte kennt, vom Einzelnen totalen Gehorsam verlangt und von einer
durch aktive
Eugenik rassisch hochgezüchteten Herrenkaste beherrscht wird,
hier (entgegen
der Meinung der meisten philosophiehistorischen Lehrbücher)
nicht als großer
Denker angeführt wird. Dasselbe gilt für Aristoteles,
für den die Sklaverei
eine naturgegebene Einrichtung ist, für den Kriege
entsprechend gerechtfertigt
sind, um Schwächere in die Sklaverei zu führen und
der zudem Frauen als
minderwertige Wesen betrachtet. In solchen Ansichten sollte nicht die
neue europäische
Identität der Zukunft begründet liegen - sondern eher
in der Auffassung, dass
ihr Gegenteil zutrifft!
All
die oben genannten Werte der Aufklärung zusammengenommen
heißen für mich
Menschlichkeit. Diese auf ihre Art und Weise entdeckt und gepflegt zu
haben, ist
das Verdienst großer Denker. Ein Denker ist dann
groß, wenn er ein
menschlicher Denker im oben skizzierten Sinne ist; wenn er seine
Menschlichkeit
verliert, schwindet seine Größe, möge er
scharfsinnig sein wie er will.
“Sei ein Philosoph, doch bleibe, bei all deiner Philosophie,
stets Mensch”,
bemerkt David Hume treffend im ersten Abschnitt seiner
“Untersuchung über den
menschlichen Verstand”; damit gibt er eine bis heute
gültige
Handlungsanweisung für jeden, der ein großer Denker
sein will.
Kritiker
des Europäischen Integrationsprozesses (z.B. Johan Galtung in
seinem Buch “Eurotopia”)
betonen immer wieder die dunklen Seiten europäischer
Geschichte: Kreuzzüge,
Glaubenskriege, Intoleranz, lodernde Scheiterhaufen, Inquisition,
Faschismus,
Weltkriege, Kolonialismus, Ausbeutung der Dritten Welt - alle Facetten
der
Unmenschlichkeit findet man dort vor. Und tatsächlich: Europa
ist seinen Werten
der Menschlichkeit oftmals in der Geschichte untreu geworden. Wir
sollten aus
diesen traurigen Tatsachen aber meiner Ansicht nach nicht lernen,
Europa
abzulehnen, sondern eher, seine positivsten Seiten zu pflegen und
vieles in
Zukunft besser zu machen. Ich möchte bei der Gelegenheit aber
einige Überlegungen
zu den verwandten Themen “Eurozentrismus” und
“Europas künftige Stellung
in der Welt” anstellen.
Die
Vereinten Nationen schätzen, dass es im Laufe des
21.Jahrhunderts ca. 30
Mega-Cities auf diesem Planeten geben wird, also Städte mit
mehr als 10 Mio.
Einwohnern. Die meisten dieser Weltzentren werden sich aller
Wahrscheinlichkeit
nach keineswegs in Europa, sondern in Asien befinden. Tokyo, Shanghai
oder
Bombay sind hier auf jeden Fall von Bedeutung; aber es gibt noch mehr
ihrer Art.
Wir müssen der für unseren Stolz vielleicht
unangenehmen Realität ins Auge
sehen, dass in diesen Städten außerhalb unseres
Kontinents in Zukunft wichtige
Entscheidungen für die Menschheitsentwicklung getroffen
werden; und schon
allein aufgrund ihrer überwältigenden Einwohnerzahl
wird etwa einer Bürgermeisterwahl
in einer dieser Städte objektiv weitaus mehr Bedeutung
zukommen als z.B. einem
Regierungswechsel, einem neuen Gesetz oder einer beliebigen politischen
Maßnahme
in einem europäischen Land wie z.B. Österreich,
Luxemburg oder Schweden. Die
Zersplitterung Europas in unbedeutende Kleinstaaten ist angesichts
solcher
Entwicklungen sicherlich politisch nicht zielführend. Alleine
die zunehmende
Bedeutung Japans, Chinas und Indiens mit ihren riesigen
Bevölkerungen oder die
Vereinigung Nordamerikas zu einer großen Freihandelszone
sollte uns vor Augen führen,
dass wir völlig an globaler politischer Mitsprache- und
Mitgestaltungsmöglichkeit
einbüßen, wenn wir uns nicht vereinen, sondern
unseren Kontinent weiterhin in
nationalistischer Zersplitterung halten.
Aber
selbst ein vereintes Europa ist längst nicht das Zentrum des
Universums. Ohne
anmaßenden Dünkel betrachtet ist Europa geographisch
nicht viel mehr als eine
nicht wirklich große, Asien vorgelagerte Halbinsel ohne
bedeutende Bodenschätze.
Es ist zwar momentan eine wirtschaftlich starke Region, aber immer noch
nur von
einer kleinen Minderheit der Menschheit bewohnt, die zudem
demographisch stark
überaltert ist. Ein vereintes Europa, das all seine Chancen
ergreift, das seine
größte Ressource Wissenschaft und Bildung
fördert, politisch mit einer Stimme
spricht, dringend benötigte junge Einwanderer erfolgreich
integriert und seine
kulturelle Vielfalt nicht als Hindernis und Schwäche, sondern
als kreative Stärke
begreift und entsprechend nützt, kann sich ohne Zweifel einen
respektierten
Platz in der Welt der Zukunft verschaffen. Eurozentrismus allerdings,
der sich
in der ausschließlichen Konzentration auf sich selbst, in
Fremdenfeindlichkeit
und in Geringschätzung der großen
außereuropäischen Kulturen äußern
könnte,
ist abzulehnen. Eine solche Haltung ist arrogant, moralisch verwerflich
und
politisch verhängnisvoll.
Der
Einsicht der eigenen begrenzten “machtpolitischen”
Bedeutung in der Welt
sollten vielmehr auch ethische Einsichten folgen. Wir müssen
verstehen, dass
wir Europäer nicht das Maß aller Dinge sind. Die
europäische Völkerfamilie
ist Teil einer noch größeren Familie, der
Menschheit. Und es waren gerade die
großen Denker Europas, die uns lehrten, die Menschheit
überall und jederzeit
zu respektieren und ihre Wohlfahrt und ihr Gedeihen in den Mittelpunkt
unseres
Handelns zu stellen.
Die
großen Denker, welche die europäische Kultur
begründeten, wollten eine Kultur
der Menschlichkeit erschaffen. Man würde eben diese
kulturellen Wurzeln Europas
verdrängen, wenn man nicht ihren Lehren treu bliebe. Was
unmenschlich ist, ist
in Wahrheit immer auch antieuropäisch - und wenn es auch
hundertmal “im Namen
Europas” geschehen würde.
Die
Horrorvision einer “Festung Europa”, die
notleidende Flüchtlinge mit
Kriegsschiffen in der Adria oder der Straße von Gibraltar
jagen oder zwischen
Stacheldraht und Minenfeldern eines neuen Eisernen Vorhanges umkommen
ließe, wäre
kulturell gesehen kein Europa mehr. Dasselbe gilt für eine
“Großmacht
Europa”, die andere Länder erobern oder für
einen “Konzern Europa”, in
dem das finanzielle Interesse über soziale
Solidarität dominieren würde.
Lassen wir das vielversprechende Friedensprojekt der
Europäischen Union nicht
dahingehend degenerieren. Große Denker haben dereinst den
Plan eines
gemeinsamen “Europa der Menschlichkeit” entworfen;
kluge Leute müssen
helfen, diesen Plan in die Tat umzusetzen. Diese Umsetzung kann nur
funktionieren, wenn sich möglichst viele daran beteiligen.
Politische
Partizipation tut mehr Not denn je. Und diese Partizipation
könnte sich von
einer Maxime Montesquieus leiten lassen, die das Ganze priorisiert vor
dem Teil:
“Wenn ich etwas wüsste, das mir nützlich, aber meiner Familie abträglich wäre, würde ich es aus meinem Kopf verbannen. Wenn ich etwas wüsste, das meiner Familie nützlich wäre, aber nicht meinem Vaterland, versuchte ich es zu vergessen. Wenn ich etwas wüsste, das meinem Vaterland nützlich, aber Europa abträglich wäre, oder aber Europa nützlich und für die Menschheit nachteilig, sähe ich es als ein Verbrechen an.”
© dieses Textes: Patrick Horvath, Wien, 2002.