Große Denker:

Einleitung

Warum dieses Buch ?

Das vorliegende Buch handelt von den großen Denkern der Vergangenheit und der Gegenwart. Sie sind es, die unsere Kultur begründeten; und gewiss werden andere große Denker ihr Werk in der Zukunft fortsetzen und so das Begonnene weiterentwickeln. Wie viele große Werke gibt es, die noch nicht geschrieben sind! 

Sie, die großen Denker, sind die wahren und bewundernswürdigen Helden ihrer Zeit - nicht die Feldherren, die ihre bewaffneten Imperien auf den blutenden Leichen niedergemetzelter Massen errichteten. Es sind die inneren Kämpfe der großen Denker, die über das Schicksal unserer Kultur entscheiden; sie bauen auch “Imperien” auf, aber geistige; und sie tun dies, ohne dabei Blut zu vergießen. Es heißt, man hat Buddhas Eltern einstmals prophezeit, dass ihr Sohn in Zukunft entweder ein Welteroberer oder ein Welterleuchter sein wird. Wie gut, dass er letztlich ein Welterleuchter wurde; welchen Nutzen hat er so der Menschheit gebracht; welch viel edleres Schicksal war ihm so beschieden; um wie viel dauerhafter war so sein Ruhm! Die von ihm begründeten Reiche wären längst vergangen, aber seine geistigen Werke finden nach Jahrtausenden immer noch Anhänger; sie haben überdauert und verändern die Welt. 

“Große Denker” - was ist denn groß an einem Denker? Es ist natürlich die ihm eigene Tätigkeit, das Denken, das ihn groß macht; diese Tätigkeit, die dem Menschen so wesentlich ist und in der er sein innerstes Wesen entfalten und den Gipfelpunkt seiner Existenz erreichen kann. Nach Meinung des Autors ist es immer lohnenswert, sich mit großen Denkern zu beschäftigen. Seneca sprach einst von einer charakterlichen Veredelung, die uns erwächst, wenn wir die großen Denker der Weltgeschichte - vermittelt durch ihre Bücher - zu Lehrern haben. Dazu kommt noch, dass ihre Ideen, so abstrakt sie auf den ersten Blick auch erscheinen mögen, durchaus Praxisbezug besitzen. Sie können uns - entgegen ihres ungerechterweise bestehenden schlechten Rufes, nur im “Elfenbeinturm” relevant zu sein - sehr wohl helfen, unser Leben besser zu bewältigen, sei es im Alltag, in persönlichen Krisenzeiten, in zwischenmenschlichen Beziehungen oder in der Politik. Die Beschäftigung mit großen Denkern schärft unseren Verstand, macht uns kritischer und weniger anfällig für obrigkeitliche Manipulation. Sie eröffnet uns viele neue Horizonte und lässt uns die Welt, in der wir leben, besser verstehen. Sie macht unser Leben interessanter, spannender, lebenswerter. 

Es ist das Anliegen des vorliegenden Buches, die Ideen der großen Denker einem breiten Publikum näher zu bringen - u.a. aus der von Karl Popper inspirierten demokratischen Überzeugung heraus, dass ihre Ergebnisse und Gedankengänge alle Menschen etwas angehen. Jeder Mensch kann denken; und er hat auch das Recht (und sogar die Pflicht!), dies möglichst oft zu tun - zu seinem eigenen Wohl und dem der anderen. Das vorliegende Buch will allgemein verständliche Informationen über Fragestellungen und Ergebnisse großer Denker zur Verfügung stellen; diese Informationen sollen dann das eigene Denken eines jeden Menschen anregen und bereichern. Sie sollen zudem, um die Öffentlichkeit auch zu erreichen, bei Wahrung der nötigen wissenschaftlichen Seriosität, so anschaulich wie irgend möglich präsentiert werden. Wer sagt, dass seriöses Denken immer langweilig sein muss? 

Das vorliegende Buch wendet sich entsprechend dieser Zielsetzung nicht an die akademische Fachwelt, sondern an Leser, die zwar Interesse und Intelligenz, aber nicht unbedingt eine akademische philosophische bzw. geistesgeschichtliche Fachausbildung mitbringen. Es ist z.B. für den vielbeschäftigten Manager geschrieben, der sich bisher vor allem mit wirtschaftlichen Fragen beschäftigt hat. Seine intensive Arbeit ließ ihm aber nicht die Zeit, in eine philosophische Fachbibliothek zu gehen und zahllose “Schwarten” mit jeweils ein paar tausend Seiten zu lesen. Er hat aber vielleicht den Eindruck, dass ihm nun in seiner Bildung etwas fehlt und würde auch privat ganz gerne wissen, was große Denker wie Sokrates oder Kant eigentlich meinten. Ihm sei dieses Buch ans Herz gelegt. Dasselbe gilt sinngemäß auch für den Arzt oder Rechtsanwalt, der sich in kulturwissenschaftliche Themen einlesen will; auch der einfache Arbeiter oder Angestellte soll nicht ausgeschlossen werden. Dem Schüler oder Studenten kann dieses Buch ebenfalls einen Einstieg in die Philosophie und Grundkenntnisse ihrer Fragestellungen, Methoden und Ergebnisse bieten. 

Um die Lesbarkeit des Textes zu erhöhen, wurde er nicht mit Fußnoten überfrachtet; lediglich die allerwichtigsten Quellenangaben wurden in den Text integriert. Die antiquierte Rechtschreibung und Ausdrucksweise der alten Texte wurde von Fall zu Fall modernisiert - allerdings mit peinlichster Rücksicht darauf, dass der Sinn auf jeden Fall erhalten bleibt. 

Das vorliegende Buch ist auch kein lexikales Nachschlagewerk, in dem alle wesentlichen großen Denker der Weltgeschichte alphabetisch geordnet (und ansonsten völlig zusammenhangslos) aneinandergereiht sind. Es kann aus Platzgründen ebenfalls nicht eine vollständige und lückenlose Geschichte der abendländischen Philosophie geliefert werden. Interessierte an solchen Werken seien mit gutem Gewissen u.a. auf das “Metzler Philosophen-Lexikon” einerseits und Bertrand Russels “Denker des Abendlandes” andererseits verwiesen - es sind zwei besonders empfehlenswerte unter den zahlreichen umsichtig gestalteten Büchern ihrer Art. Das vorliegende Buch ist aber anders als die genannten Arbeiten, denn es bietet lediglich eine kleine Auswahl aus einer riesigen Fülle faszinierender Persönlichkeiten, die unser Denken prägten und weiter prägen sollten - nicht mehr, nicht weniger.  

Eine Auswahl ist naturgemäß immer unvollständig. Gleichzeitig vermag eine Auswahl aber etwas, was systematischere Werke nicht können, nämlich dem Leser Bildung anschaulich zu vermitteln, ohne in sinnloser Belehrung das Wesentliche in einer Fülle unwichtiger Fakten untergehen zu lassen. Der oben skizzierte bescheidene Hauptzweck dieses Buches, brauchbare Informationen zu bieten, dabei gut lesbar zu sein und dem interessierten Menschen Freude zu bereiten, wird durch eine solche Vorgehensweise am besten erfüllt. 

Nach welchen Kriterien aus einer großen Fülle wertvoller Informationen gewählt wird, ist immer eine schwierige Frage. Mit welchem Recht bezeichnen wir z.B. den einen Denker größer als einen anderen? Warum beschäftigen wir uns mit dem einen und lassen den anderen links liegen? Was bedeutet - um die Frage von weiter oben nochmals zu stellen und noch detaillierter zu beantworten - “Größe” bei einem Denker? 

Für mich bedeutet "Größe" bei einem Denker bis zu einem gewissen Grad, dass er mehr oder weniger international bekannt ist. Jeder kennt Sokrates, zumindest dem Namen nach. Aber z.B. den Gegenwartsphilosophen Yeshajahu Leibowiz kennt man über die Grenzen seiner Heimat Israel hinaus praktisch nicht. Interessante, aber weitgehend unbekannte Persönlichkeiten vorzustellen ist im Rahmen dieses Buches aber wahrscheinlich fehl am Platz. Das Kriterium der internationalen Bekanntheit ist also vielleicht ein Anfang, um die “Größe” eines Denkers näher zu bestimmen. Aber allein mit ihm ist es noch nicht getan; es bleiben noch immer zu viele Denker übrig, als in einem kleinen Büchlein unterkommen können. Man wird auch nach anderen Kriterien (und zwar auch qualitativen) auswählen müssen. Aber nach welchen bloß? 

An dieser Stelle kommt ein Trend der Gegenwart zu Hilfe: Wir leben im Zeitalter des sich vereinenden Europa. 

Früher war die Idee eines friedlich vereinten Europa eine erhebende, allerdings sehr unrealistische Vision großer Denker. Heute, an der Schwelle des 21.Jahrhunderts, ist sie dabei, Realität zu werden: Es gibt den Europarat, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und vor allem - seit der Unterzeichnung des Vertrages von Maastricht Anfang der 90er - die Europäische Union mit ihrem freien Markt und ihrer gemeinsamen Währung als bisher engste und fortgeschrittenste Kooperation der europäischen Staaten. Ein philosophischer Gedanke ist hier, so könnte man den Verlauf der Geschichte interpretieren, in einer “Politik der kleinen Schritte” in die konkrete politische Realität umgesetzt worden. 

Es ist angesichts dieser politischen Entwicklungen sehr zeitgemäß, aktuell und sogar unbedingt notwendig, Überlegungen zum kulturellen Fundament anzustellen, das diesem vereinten Europa zugrunde liegt. Der Satz “Ich bin Europäer” soll ja nicht nur bedeuten, dass man von einer bestimmten Bürokratie verwaltet wird. Es bedeutet vielmehr, einer jahrhundertealten Kultur anzugehören, die für bestimmte Werte steht. 

Das Fundament dieser Kultur liegt in der griechisch-römischen Antike; das Christentum hat ihr Antlitz für lange Zeit geprägt, wobei seit der Aufklärung im 18.Jahrhundert und der Friedensbewegung im 19. und 20.Jahrhundert zunehmend “weltliche” Werte in sie Einzug hielten. Im Laufe der Jahrhunderte haben die Europäer entsprechend, trotz häufiger Rückfälle in Nationalismus und Barbarei (die schrecklichsten dieser Rückfälle waren die beiden Weltkriege) auch niemals ganz das Bewusstsein verloren, einer größeren Völkerfamilie anzugehören. Diese schon immer empfundene kulturelle Einheit verfügte freilich lange über keinen Niederschlag in der politischen Realität. Europa war, so könnte man sagen, lange von der Kultur vereint, aber von der Politik zerrissen. Das soll und wird sich in Zukunft ändern. 

Ein Europa ohne dieses kulturelles Fundament wäre nichts. Es gibt meiner Ansicht nach ein solches gemeinsames kulturelles Fundament, trotz aller nationaler Eigenarten. Aber es kann nicht schaden, dieses Fundament in Erinnerung zu rufen, alle Gemeinsamkeiten weiter zu pflegen und weiter zu entwickeln. Dieses Buch kann vielleicht einen bescheidenen Beitrag dazu leisten, teilt es doch besagte Thematik. An dieser Stelle wird klar, warum ein deutlicher Europaschwerpunkt in der Auswahl großer Denker gesetzt wurde: Dies geschah nicht aus Geringschätzung außereuropäischer Weisheitslehrer, sondern weil in Europa gerade ein spannender Transformationsprozess stattfindet, der es wert ist, ins Zentrum der Aufmerksamkeit eines jeden Forschers zu rücken. 

Um das kulturelle Fundament Europas näher zu bestimmen, kann man auf die Meinung Karl Poppers zurückgreifen. In einer seiner Arbeiten (“Woran glaubt der Westen” in der Aufsatzsammlung “Auf der Suche nach einer besseren Welt”) versucht er zu bestimmen, worin die für das auf europäischen Boden entstandene sogenannte “Abendland” heutzutage verbindlichen Werte liegen. Popper weist die zunächst naheliegende Ansicht zurück, diese würden im Christentum zu finden sein. Er räumt ein, dass das Christentum die Geschichte Europas geprägt hat wie kaum eine andere geistige Bewegung, verweist aber auf die politische und soziale Realität der Gegenwart, die der christlichen Religion immer geringere Bedeutung beimisst (“Unsere Gesellschaft ist keine christliche Gesellschaft...”). Er hielte es auch für einen Fehler, in Zukunft eine rein auf dem Christentum beruhende Gesellschaftsordnung aufbauen zu wollen; nach Jahrhunderten der Religionskämpfen hat sich nämlich zum Glück die Idee der religiösen Freiheit und Toleranz allgemein durchgesetzt und der von John Stuart Mill u.a. formulierte Gedanke, dass erzwungener Glaube nichts wert ist.  

Die Folge von Freiheit und Toleranz ist die Pluralität. Es gibt in Europa längst nicht mehr die eine “wahre” Religion, sondern viele verschiedene Formen des Glaubens und der Weltanschauungen. Die Trennung von Kirche und Staat ist zudem allgemein anerkannt; sie ist eine Absage an die Versuche, die politische Macht zur Durchsetzung einer bestimmten Religion zu instrumentalisieren; diese Versuche bedrohen die Freiheit des Einzelnen, spalten die Gesellschaft und drängen Andersgläubige und - denkende an den Rand. Das neue vereinte Europa also v.a. christlich zu konzipieren (wie es auch gegenwärtig der Wunschvorstellung vieler katholischer Theologen entspricht) wäre entsprechend, denkt man die Popper’schen Ausführungen sinngemäß weiter, eher ein Rückfall in bereits überwundene Zeiten. 

Letztendlich lokalisiert Popper die für das Abendland verbindlichen Werte in den Überzeugungen der Aufklärung, einer geistigen Bewegung mit Vorläufern in der Antike, die im 18.Jahrhundert in den Werken bedeutender Philosophen (wie Voltaire oder Kant) aufblühte, im politischen Bereich sich im Freiheitsstreben der Amerikanischen und Französischen Revolution äußerte, im 19. und 20.Jahrhundert Fortsetzungen fand z.B. im Werk der Friedensbewegung, seine größte Bedrohung durch den Nationalsozialismus erlebte (der nach Dr.Goebbels Aussage das Jahr 1789 - also die Errungenschaften der Französischen Revolution - aus der Geschichte ausradieren wollte) und heute den Geist der innerstaatlichen Grundordnung der westlichen Demokratien und der internationalen Arbeit der Vereinten Nationen und z.B. ihrer “Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte” wesentlich bestimmt. 

Die Werte dieser Bewegung kommen u.a. zum Ausdruck im Schlachtruf der Französischen Revolution: “Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!” Es geht also um Freiheiten des Individuums (z.B. Religions- und Gewissensfreiheit, Rede-, Meinungs- und Gedankenfreiheit, Schutz des Briefverkehrs und der Privatsphäre, Reise- und Niederlassungsfreiheit) und natürlich um damit zusammenhängende Rechte oder Geisteshaltungen, die uns helfen sollen, die Freiheit zu verwirklichen (Recht auf Bildung, allgemeine Wertschätzung der Toleranz und Pluralität). Demokratie bedeutet aber auch Gleichheit vor dem Gesetz sowie zumindest Chancengleichheit im Wettbewerb um politische, soziale, wirtschaftliche Stellungen; und es bedeutet auch Gleichberechtigung von Mann und Frau. Und es muss, dies ist mit Brüderlichkeit hauptsächlich gemeint, auch eine gewisse soziale Absicherung für die Schwächsten der Gesellschaft geben. Ich bezeichne einen Denker dann als groß, wenn er zu diesen hier genannten Werten einen noch so geringen Beitrag geleistet hat; war sein Werk ihnen abträglich, schmälert dies in meinen Augen seine Größe.  

Und so erklären sich auch manche Tendenzen der vorliegenden Auswahl. Es ist z.B. kein reiner Zufall, dass Platon, dessen “Idealstaat” keine individuellen Rechte kennt, vom Einzelnen totalen Gehorsam verlangt und von einer durch aktive Eugenik rassisch hochgezüchteten Herrenkaste beherrscht wird, hier (entgegen der Meinung der meisten philosophiehistorischen Lehrbücher) nicht als großer Denker angeführt wird. Dasselbe gilt für Aristoteles, für den die Sklaverei eine naturgegebene Einrichtung ist, für den Kriege entsprechend gerechtfertigt sind, um Schwächere in die Sklaverei zu führen und der zudem Frauen als minderwertige Wesen betrachtet. In solchen Ansichten sollte nicht die neue europäische Identität der Zukunft begründet liegen - sondern eher in der Auffassung, dass ihr Gegenteil zutrifft! 

All die oben genannten Werte der Aufklärung zusammengenommen heißen für mich Menschlichkeit. Diese auf ihre Art und Weise entdeckt und gepflegt zu haben, ist das Verdienst großer Denker. Ein Denker ist dann groß, wenn er ein menschlicher Denker im oben skizzierten Sinne ist; wenn er seine Menschlichkeit verliert, schwindet seine Größe, möge er scharfsinnig sein wie er will. “Sei ein Philosoph, doch bleibe, bei all deiner Philosophie, stets Mensch”, bemerkt David Hume treffend im ersten Abschnitt seiner “Untersuchung über den menschlichen Verstand”; damit gibt er eine bis heute gültige Handlungsanweisung für jeden, der ein großer Denker sein will. 

Kritiker des Europäischen Integrationsprozesses (z.B. Johan Galtung in seinem Buch “Eurotopia”) betonen immer wieder die dunklen Seiten europäischer Geschichte: Kreuzzüge, Glaubenskriege, Intoleranz, lodernde Scheiterhaufen, Inquisition, Faschismus, Weltkriege, Kolonialismus, Ausbeutung der Dritten Welt - alle Facetten der Unmenschlichkeit findet man dort vor. Und tatsächlich: Europa ist seinen Werten der Menschlichkeit oftmals in der Geschichte untreu geworden. Wir sollten aus diesen traurigen Tatsachen aber meiner Ansicht nach nicht lernen, Europa abzulehnen, sondern eher, seine positivsten Seiten zu pflegen und vieles in Zukunft besser zu machen. Ich möchte bei der Gelegenheit aber einige Überlegungen zu den verwandten Themen “Eurozentrismus” und “Europas künftige Stellung in der Welt” anstellen. 

Die Vereinten Nationen schätzen, dass es im Laufe des 21.Jahrhunderts ca. 30 Mega-Cities auf diesem Planeten geben wird, also Städte mit mehr als 10 Mio. Einwohnern. Die meisten dieser Weltzentren werden sich aller Wahrscheinlichkeit nach keineswegs in Europa, sondern in Asien befinden. Tokyo, Shanghai oder Bombay sind hier auf jeden Fall von Bedeutung; aber es gibt noch mehr ihrer Art. Wir müssen der für unseren Stolz vielleicht unangenehmen Realität ins Auge sehen, dass in diesen Städten außerhalb unseres Kontinents in Zukunft wichtige Entscheidungen für die Menschheitsentwicklung getroffen werden; und schon allein aufgrund ihrer überwältigenden Einwohnerzahl wird etwa einer Bürgermeisterwahl in einer dieser Städte objektiv weitaus mehr Bedeutung zukommen als z.B. einem Regierungswechsel, einem neuen Gesetz oder einer beliebigen politischen Maßnahme in einem europäischen Land wie z.B. Österreich, Luxemburg oder Schweden. Die Zersplitterung Europas in unbedeutende Kleinstaaten ist angesichts solcher Entwicklungen sicherlich politisch nicht zielführend. Alleine die zunehmende Bedeutung Japans, Chinas und Indiens mit ihren riesigen Bevölkerungen oder die Vereinigung Nordamerikas zu einer großen Freihandelszone sollte uns vor Augen führen, dass wir völlig an globaler politischer Mitsprache- und Mitgestaltungsmöglichkeit einbüßen, wenn wir uns nicht vereinen, sondern unseren Kontinent weiterhin in nationalistischer Zersplitterung halten. 

Aber selbst ein vereintes Europa ist längst nicht das Zentrum des Universums. Ohne anmaßenden Dünkel betrachtet ist Europa geographisch nicht viel mehr als eine nicht wirklich große, Asien vorgelagerte Halbinsel ohne bedeutende Bodenschätze. Es ist zwar momentan eine wirtschaftlich starke Region, aber immer noch nur von einer kleinen Minderheit der Menschheit bewohnt, die zudem demographisch stark überaltert ist. Ein vereintes Europa, das all seine Chancen ergreift, das seine größte Ressource Wissenschaft und Bildung fördert, politisch mit einer Stimme spricht, dringend benötigte junge Einwanderer erfolgreich integriert und seine kulturelle Vielfalt nicht als Hindernis und Schwäche, sondern als kreative Stärke begreift und entsprechend nützt, kann sich ohne Zweifel einen respektierten Platz in der Welt der Zukunft verschaffen. Eurozentrismus allerdings, der sich in der ausschließlichen Konzentration auf sich selbst, in Fremdenfeindlichkeit und in Geringschätzung der großen außereuropäischen Kulturen äußern könnte, ist abzulehnen. Eine solche Haltung ist arrogant, moralisch verwerflich und politisch verhängnisvoll. 

Der Einsicht der eigenen begrenzten “machtpolitischen” Bedeutung in der Welt sollten vielmehr auch ethische Einsichten folgen. Wir müssen verstehen, dass wir Europäer nicht das Maß aller Dinge sind. Die europäische Völkerfamilie ist Teil einer noch größeren Familie, der Menschheit. Und es waren gerade die großen Denker Europas, die uns lehrten, die Menschheit überall und jederzeit zu respektieren und ihre Wohlfahrt und ihr Gedeihen in den Mittelpunkt unseres Handelns zu stellen. 

Die großen Denker, welche die europäische Kultur begründeten, wollten eine Kultur der Menschlichkeit erschaffen. Man würde eben diese kulturellen Wurzeln Europas verdrängen, wenn man nicht ihren Lehren treu bliebe. Was unmenschlich ist, ist in Wahrheit immer auch antieuropäisch - und wenn es auch hundertmal “im Namen Europas” geschehen würde. 

Die Horrorvision einer “Festung Europa”, die notleidende Flüchtlinge mit Kriegsschiffen in der Adria oder der Straße von Gibraltar jagen oder zwischen Stacheldraht und Minenfeldern eines neuen Eisernen Vorhanges umkommen ließe, wäre kulturell gesehen kein Europa mehr. Dasselbe gilt für eine “Großmacht Europa”, die andere Länder erobern oder für einen “Konzern Europa”, in dem das finanzielle Interesse über soziale Solidarität dominieren würde. Lassen wir das vielversprechende Friedensprojekt der Europäischen Union nicht dahingehend degenerieren. Große Denker haben dereinst den Plan eines gemeinsamen “Europa der Menschlichkeit” entworfen; kluge Leute müssen helfen, diesen Plan in die Tat umzusetzen. Diese Umsetzung kann nur funktionieren, wenn sich möglichst viele daran beteiligen. Politische Partizipation tut mehr Not denn je. Und diese Partizipation könnte sich von einer Maxime Montesquieus leiten lassen, die das Ganze priorisiert vor dem Teil: 

“Wenn ich etwas wüsste, das mir nützlich, aber meiner Familie abträglich wäre, würde ich es aus meinem Kopf verbannen. Wenn ich etwas wüsste, das meiner Familie nützlich wäre, aber nicht meinem Vaterland, versuchte ich es zu vergessen. Wenn ich etwas wüsste, das meinem Vaterland nützlich, aber Europa abträglich wäre, oder aber Europa nützlich und für die Menschheit nachteilig, sähe ich es als ein Verbrechen an.”

© dieses Textes: Patrick Horvath, Wien, 2002.

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